V O M B A U M E I S T E R Z U M M A S T E R Formen der Architekturlehre vom 19. bis ins 21. Jahrhundert Carola Ebert, Eva Maria Froschauer, Christiane Salge (Hg.) Forum Architekturwissenschaft Band 3 Universitätsverlag der TU Berlin VOM BAUMEISTER ZUM MASTER Formen der Architekturlehre vom 19. bis ins 21. Jahrhundert Carola Ebert, Eva Maria Froschauer, Christiane Salge (Hg.) Die Schriftenreihe Forum Architekturwissenschaft wird heraus- gegeben vom Netzwerk Architekturwissenschaft, vertreten durch Sabine Ammon, Eva Maria Froschauer, Julia Gill und Christiane Salge. Der Tagungsband versammelt Beiträge des 3. Forums Architekturwissenschaft zum Thema der historischen und gegenwärtigen Architekturausbildung – vom Baumeister zum Master –, das vom 25. bis 27. November 2016 an der Freien Universität Berlin in Kooperation mit der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg stattfand. Die Aufsätze verhandeln Fallbeispiele der Architekturlehre vom 19. bis ins 21. Jahrhundert entlang von konstant bedenkenswer- ten Querschnittsfragen – wie jenen nach Akteursperspektiven, nach Lehrformen oder auch Institutionenpolitiken. Dabei wer- den Geschichte, Gegenwart und Zukunft der besonderen Ausbildungsdisziplin Architektur in einen Austausch gebracht. Es stehen auf diese Weise wissenschaftlich reflektierende Stimmen neben jenen, die aus der Unterrichtspraxis berichten. Die Sortierung innerhalb des Bandes bindet die Texte jeweils mit Hilfe einer überzeitlichen also systematischen Fragestellung aneinander. Forum Architekturwissenschaft, Band 3 VOM BAUMEISTER ZUM MASTER Formen der Architekturlehre vom 19. bis ins 21. Jahrhundert Carola Ebert, Eva Maria Froschauer, Christiane Salge (Hg.) Universitätsverlag der TU Berlin 5 INHALT → INHALT SEITE 11 → Einleitung SEITE 22 EVA MARIA FROSCHAUER → Dispositive der Architektur- lehre. Ein Feststellungs- versuch anhand fotografischer Aufnahmen SEITE 44 ERIC GARBERSON → Wilhelm Stier’s "Entwerfung der Gebäude" and the Capstone Design Studio in Berlin in the Early 19th Century SEITE 70 ANNA HIPP UND BERNHARD BÖHM → Forschung in der Architektur- ausbildung. Sozialwissen- schaftliche Methoden in der Entwurfslehre an zwei Architekturschulen in Groß- britannien und der Schweiz 6 VOM BAUMEISTER ZUM MASTER SEITE 88 EKKEHARD DRACH → Das Modell Fachakademie. Chancen und Tücken lebender (Bildungs-)Fossilien SEITE 104 ANNE STENGEL → Architekturlehre und Praxis- bezug unter Hannes Meyer am Bauhaus Dessau 1928 bis 1930 SEITE 122 JULIA WITT → Architekturlehre an den Kunstakademien in der Weimarer Republik SEITE 148 SIMON PAULUS → „Der Student der Architektur soll bauen und nicht schwin- deln lernen“. Zur Reform der Architektenausbildung an der Technischen Hochschule Braunschweig in den 1920er Jahren 7 INHALT → INHALT SEITE 170 JAN LUBITZ → Von der Gewerbeschule zum Polytechnikum. Architekturlehre in Stuttgart im 19. Jahrhundert SEITE 192 GÁSPÁR SALAMON → ‚Akademische‘ Vorbilder für die polytechnische Architektenausbildung an der Joseph-Technischen Hochschule Budapest in der Gründerzeit SEITE 214 CHRISTIANE SALGE → Matrikelbücher, Schüler- tabellen und Seminarlisten. Wichtige Quellen zur Erforschung der Architekten- ausbildung an der Berliner Bauakademie 1799–1806 8 VOM BAUMEISTER ZUM MASTER SEITE 234 CHRISTINA CLAUSEN → Malerische Architektur- visionen. Bildmediale Strategien der architektur- historischen Lehre an der Royal Academy in London SEITE 256 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE → Visualisierung in der Architekturlehre SEITE 286 INGA GANZER → Handwerk und Sehschule. Zulassungsbedingungen und Grundlagenstudium an der Burg Giebichenstein. Ein Erfahrungsbericht SEITE 308 KERSTIN RENZ → Benennen heißt erkennen. 50 Jahre „Bildwörterbuch der Architektur“ von Hans Koepf 9 INHALT → INHALT SEITE 332 FREDERIKE LAUSCH → Das DDR-Architekturstudium als Nische. Ausbildung an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar SEITE 358 OLE W. FISCHER → Institutionalisierte Kritik? Über die (Neu-)Geburt der Architekturtheorie nach der Moderne SEITE 380 PETER I. SCHNEIDER → Die Formatierung der Geschichte. Zum konzeptio- nellen Umgang mit dem ‚Erbgut‘ der Architektur an Architekturfakultäten im deutschsprachigen Raum 10 VOM BAUMEISTER ZUM MASTER SEITE 404 VERA KAPS, EKATERINA NAGIBINA UND JOHAN DE WALSCHE → Environments of New Schools of Thought SEITE 424 CAROLA EBERT → Inseln der Selbstreflexion. Drei Debatten zur Architektur- lehre im 21. Jahrhundert SEITE 444 Autorinnen und Autoren 11 EINLEITUNG → INHALT Einleitung Architektur ist eine besondere Disziplin. Die Vielfalt ihrer Bezüge zwischen Kunst und Technik, Wissenschaft und Praxis spiegelt sich nicht nur im Berufsalltag, sondern macht auch die Attraktivität des Studiums aus. Der dritte Band in der Reihe „Forum Architekturwissenschaft“ blickt vor dem Hintergrund eines solchen ‚Attraktivitätsvorschusses‘ genauer auf die beson- deren Herausforderungen der Lehre zur Architektur – didaktisch, inhaltlich und in der Zusammensetzung der Curricula – und beleuchtet diese an verschieden zwischen Kunst und Technik gewichtenden Ausbildungsanstalten zu unterschiedlichen Zeiten. Denn während die Verfasstheit der modernen Architektur in den letzten Jahrzehnten vielfach Gegenstand einer Historisierung geworden ist, lässt sich dies für die moderne bis gegenwärtige Architekturlehre nur eingeschränkt feststellen. Vielleicht liegt ein Grund darin, dass während den kraftraubenden Umstellungen innerhalb des Bologna-Prozesses in der vergangenen Dekade viel Energie in Akkreditierungs- und Modularisierungsdiskussionen fließen musste. Dadurch erschien häufig schon die Bewahrung des Bewährten als ein hehres Ziel – eine Form der Selbstreflexion, die sozusagen en passant an Architekturfakultäten geleistet wurde. Die dem Band vorangegangene Konferenz mit dem Titel „Vom Baumeister zum Master“ (November 2016) führte eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu Lehrdispositiven und konkreten Formen der Architekturlehre vom 19. bis ins 21.  Jahrhundert, um den Diskurs zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Architekturlehre zu befördern – und zwar im Sinne des interdisziplinären Ansatzes, den das Netzwerk Architekturwissenschaft in all seinen Aktivitäten pflegt. Die Tagung blickte in die Vergangenheit und suchte Querschnitte sowie systematische Perspektiven, um einen Zukunftsentwurf 12 VOM BAUMEISTER ZUM MASTER für die Ausbildungen von Architektinnen und Architekten zu ent- wickeln. Neben Beiträgen aus der Architektur(-geschichte) sind ebenso sozialwissenschaftliche, didaktische und angewandte Perspektiven präsentiert worden. Die Auseinandersetzung auf der Tagung begann mit folgen- den Fragen und Themenfeldern, die auch für die Drucklegung der Beiträge von Bedeutung sind: Zunächst ging es um die Feststellung und Betrachtung der grundsätzlichen Ausprägungen des hybriden Status, also der Transdisziplinarität der Architektur in Lehre und Ausbildung zu verschiedenen Zeiten. Von Vitruv bis heute wurden und werden mit Architektur vielfältige Fähigkeiten verbunden. Vorausgesetzt wird künstlerische Kreativität, diese erfordert beständige ästhetische Schulung, hinzu zählen fun- dierte Kenntnisse im Bereich der Ingenieurwissenschaften, und zusätzlich muss ein großes Maß an praktischer Erfahrung erworben werden. Diese kaum zu erfüllende Breite an erwarte- tem Fachwissen und an erwünschten Fähigkeiten trägt dazu bei, dass die akademische Ausbildung zur Architektur in den meis- ten Fällen entweder mehr als technisches oder als künstleri- sches Studium verstanden wird. Eine solche (durchaus histori- sche) Dualität der Ausbildung – einerseits an Kunstakademien, andererseits an polytechnischen Schulen – bildet sich bis heute auch in den unterschiedlichen Abschlüssen als ‚Bachelor‘ und ‚Master of Arts‘ (BA/MA) beziehungsweise of ‚Sciences‘ (BSc/ MSc) ab. Letztlich bleibt es ein wesentliches Merkmal des Architekturstudiums, dass es stets im Bezug zur Berufspraxis entwickelt wurde und wird; in dieser Hinsicht ähnelt es Fächern wie Jura oder Medizin. Die Hybridität des Fachs Architektur besteht also nicht nur in der Vereinbarkeit von Kunst und Technik, sondern zusätzlich im tradierten Praxisbezug bei gleichzeiti- gem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit (und aktuell auch in der Aufforderung zur Akquise von Forschungsmitteln). Vor diesem Hintergrund sind im großen Maßstab der Institutionsgeschichte folgende Fragen von Interesse: Wie äußert und verändert sich die Transdisziplinarität der Architektur in den einzelnen Ausbildungsanstalten und Curricula verschiedener 13 EINLEITUNG → INHALT Epochen? Wie werden dabei einzelne Subdisziplinen in der Lehre gewichtet beziehungsweise angeordnet? Welchen institu- tionellen Interessen folgt die Ausdifferenzierung der beteiligten Wissensbereiche? Und letztlich, welches Berufsbild ist damit als Ausbildungsziel verbunden? Verkleinert man den Betrachtungsrahmen, steht zu untersu- chen, inwieweit sich die postulierte Transdisziplinarität und die Hybridität der Architektur beispielsweise im Profil der Lehrenden selbst abbildet. Welche Fächer gewinnen oder verlieren an Bedeutung, welche neuen Lehrinhalte etablieren sich – zu wel- cher Zeit, aus welchem Anlass und an welchem Ort? Und wie reagiert das jeweilige Spektrum der Wissensbereiche gegenüber Veränderungen? Auf die Formen der Architekturausbildung geblickt, ist es äußerst aufschlussreich, Organisationsformen wie das Meisteratelier, die Werkstatt oder heutzutage das Lab einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Denn die Architekturlehre weist seit der Renaissance eine lange Geschichte von so zu nennen- den ‚Lehrdispositiven‘ auf, von denen einige als ein besonde- rer Ausdruck ihrer Zeit begriffen werden müssen, andere auf Einflüsse verwandter Disziplinen von Malerei bis Militärbaukunst zurückzuführen sind, viele jedoch bis heute wirksam sind. Auch hier spielt stets die Frage „Kunst und/oder Wissenschaft?“ eine Rolle: wenn auf der einen Seite verschulte Lehrformen einen bestimmten Kanon mit festem Zeitrahmen und starrem Programm fordern und auf der anderen Seite das Experiment eingesetzt wird, um semesterweise neue oder besonders aktu- elle Entwurfsaufgaben zu bearbeiten. Beide Pole lassen sich bis heute als Teil der Architekturlehre finden. Verschiedene Dispositive setzen darüber hinaus die Lehrautorität in ein bestimmtes Macht-, Kräfte- und Abhängigkeitsverhältnis zu den Lernenden. Vom Meisteratelier bis zu radikalen Reformen und Aushandlungsprozessen bildete sich im Verlauf der Geschichte der Architekturlehre also ein breites Spektrum an Formen und Formaten aus, anhand derer man fragen kann, wel- che Organisationsformen in der Architektenausbildung grund- sätzlich bestehen – zum Beispiel Meisterklassen, Werkstätten 14 VOM BAUMEISTER ZUM MASTER oder gleich ganze ‚Schulen‘ – und was diese im Vergleich auszeichnet. Welche Kompetenzen werden über bestimmte Abgabeformate vermittelt, wenn Studierende der Architektur im ‚Stegreif‘ entwerfen, wissenschaftliche Arbeiten schreiben oder in einem freien oder vorgegebenen Masterthema brillieren sollen? In welchem Verhältnis stehen ganz grundsätzlich die Methoden der Architekturlehre, wie etwa das Abzeichnen, das Nachbilden sowie das digitale Skripten, zu den auf diese Weise vermittelten Inhalten? Und wie verändern sich Methoden und Inhalte, Lehrbücher und didaktische Vorgehensweisen? All diese Themenfelder und Fragen könnten allein am histori- schen Gegenstand expliziert werden, doch ebenso wichtig ist der Blick in die Gegenwart der Ausbildung oder die Projektion in die Zukunft der Architekturlehre. Kurz gefragt: Was, auf wel- che Weise und mit welchem Ziel lernen heutige und künftige Studierende der Architektur? Wie beweglich müssen oder sol- len, wie offen dürfen die Lehrinhalte, die Lehrformate und die Lehrpläne der Architektur sein, damit sie nicht Wissenschafts- oder Kunstmoden aufsitzen und doch einen Zukunftsentwurf bieten? Wo wagen Architekturfakultäten neue Kooperationen, in welche Fachzusammenhänge stellen sie sich und welchen Gewinn ziehen sie daraus? Und welche didaktischen Formen definieren die Architekturlehre der Zukunft? Die dieser Publikation vorausgegangene Konferenz präsentierte 19 Beiträge in drei Sektionen: „Die Hybridität der Architekturlehre: Kunst, Praxis, Theorie, Wissenschaft“, „Zwischen altem und neuem Wissen: Systeme und Paradigmenwechsel in der Architekturlehre“ und „Dispositiv Lehrmittel: Sehen, Zeichnen, Modellieren, Visualisieren“. Dabei sollte innerhalb jeder Sektion der Blick von der Geschichte in die Gegenwart geführt, sollten jeweils historisch reflektierende sowie aus der Praxis berichtende Stimmen unterschiedlicher Forschungsdisziplinen zu Wort kom- men. So entstand eine höchst lebendige Diskussion, die auch der vorliegende Band abzubilden versucht. Für die Publikation sind jedoch weniger die Chronologie als vielmehr offenbar konstant 15 EINLEITUNG → INHALT verhandelte Querschnittsfragen – wie Akteursperspektiven, Lehrformate, Institutionenpolitiken etc. – von Bedeutung. Somit reihen sich die Beiträge aus unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Schwerpunkten aneinander. Die Aufsätze in diesem Sammelband sind so aneinander ‚gekettet‘, dass sie jeweils in einer überzeitlichen also systematischen Fragestellung, an einem Kerngedanken, zusammenhängen. Der Auftaktbeitrag von Eva Maria Froschauer beschäftigt sich mit einer zentralen Besonderheit der Architekturlehre, nämlich der Unterrichtsform des Atelierunterrichts und der darin ein- geschlossenen ‚Entwurfskritik‘ oder auch ‚Entwurfskorrektur‘. Diese Lehr- und Lernformen werden als Dispositive beschrie- ben und zugleich sind über die Analyse zweier historischer Fotografien (1931 und 1933), welche diese Unterrichtssituationen festhalten, diese Dispositive in der Geschichte ausgemacht und in die Gegenwart geführt. Eric Garberson zeigt in seinem Aufsatz, wie eben dieses besondere Lehrfach des Entwerfens wohl das erste Mal in der Geschichte der Architekturakademien ohne die enge Anlehnung an historische Beispiele praktiziert wurde. Die sogenannte „Entwerfung der Gebäude“ wurde in der Lehre von Wilhelm Stier an der Berliner Bauakademie in den Jahren von 1828 bis 1830 explizit als Unterrichtsfach etabliert – und damit als erstes ‚freies Entwurfsstudio‘, so die These des Autors. Den Sprung in die Gegenwart leistet der Beitrag von Anna Hipp und Bernhard Böhm. Ihre Forschungsprojekte unter- suchten am Beispiel zweier Architekturhochschulen, einmal in Großbritannien, einmal in der Schweiz, die Umsetzung der aktu- ell wieder gesuchten und geförderten Forschungsfokussierung im Entwerfen. Ein Ergebnis dabei ist, dass die eingeforderte „Wissenschaftlichkeit“ beispielsweise über explizit sozialwissen- schaftliche Ansätze Eingang in die entwurfs- und studiobasierte Ausbildung findet. Entwerfen braucht auch Praxisnähe, und darauf hebt der vierte Aufsatz ab, der diesen ersten Themenblock zur Hybridität der Architekturlehre beschließt. Ekkehard Drach berichtet aus der Lehrpraxis einer sogenannten Fachakademie, die neben dem 16 VOM BAUMEISTER ZUM MASTER Zeichensaal (zur Konzeption) auch die Werkstatt (zur Ausführung) nutzt. Ein Lehrmodell, das das „learning by making“ fördert und sowohl den zeitlichen wie den materialen Zusammenhang einer Projektumsetzung zu vermitteln sucht. Das Einbeziehen von baupraktischen Projekten in den (Entwurfs-) Unterricht schließt auf zum nächsten Beitrag. Anne Stengel unter- sucht die Verbindung der Lehre zur Berufspraxis am Dessauer Bauhaus, am Beispiel der fünf Laubenganghäuser in Dessau- Törten, die unter dem Direktorat Hannes Meyers (1928–1930) und unter Mitwirkung von Studierenden entstanden. Stengels Beitrag steht am Anfang einer Reihe von Aufsätzen, die sich alle der Geschichte bestimmter Ausbildungsinstitutionen und Schulformen der Architektur widmen. Das Dessauer Bauhaus war nur eine der Reformschulen im frühen 20. Jahrhundert. Julia Witts Aufsatz gibt einen Überblick zur Lehrstruktur der zehn Kunstakademien der Weimarer Republik. Dabei wird deutlich, dass gerade der postulierte Anspruch zur Erneuerung einer Architekturlehre nur in Teilen eingelöst werden konnte – nicht zuletzt auch, weil nur die Hälfte der Akademien überhaupt Architektinnen und Architekten ausbildete. Zeitgleich reformierten auch die Technischen Hochschulen ihre Ausbildungsgänge. Simon Paulus zeigt mit dem Beispiel der TH  Braunschweig ab 1923 und anhand der Person des bis zum Rektor aufgestiegenen Hochschullehrers und Architekten Carl Mühlenpfordt, dass auch die mehr ingenieursmäßig ausgerich- teten Ausbildungsstätten sich neu aufstellten – und wie sie dabei vor allem den Schulterschluss mit der Bauindustrie und deren Innovationen suchten. Ebenso befreite sich in Stuttgart eine Hochschule von verstaubten Lehrkonzepten und erlangte den Ruf einer Reformanstalt. Doch stand sie in ihrer Ausrichtung und mit ihren Hochschullehrern als Gegenpart zu radikalen Avantgardepositionen für die ‚andere Moderne‘. Jan Lubitz beschreibt mit seinem Beitrag, dass diese sogenannte Stuttgarter Schule keine alleinige Errungenschaft der Moderne war, sondern dass die Wurzeln ihrer Reform bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen. 17 EINLEITUNG → INHALT Dass auch in anderen Ländern zur gleichen Zeit Reformen umgesetzt wurden, zeigt Gáspár Salamon anhand der Joseph- Technischen Hochschule Budapest. Diese profitierte von der Rückkehr im Ausland ausgebildeter Studenten nach Ungarn. Im Sinne des Wissenstransfers etablierten diese dann an der Budapester Hochschule die Strukturen, die Methoden und den curricularen Aufbau einer universitären Architekturlehre, welche sie andernorts kennengelernt hatten. Eine der Vorbildinstitutionen war die Berliner Bauakademie. Mit diesem internationalen Beispiel schließt jener Themenblock ab und verweist zugleich auf den nächsten, in dem eingangs Christiane Salge die Berliner Bauakademie, einen Fixpunkt der modernen Architekturausbildung, zum Thema macht. Anhand der statistischen Auswertung der überlieferten Schülerverzeichnisse aus den Anfangsjahren dieser Institution zwischen 1799 und 1806, können neue Rückschlüsse auf das damalige Architekturstudium sowie die Bedeutung der Bauakademie getroffen werden. Christina Clausen betrachtet im anschließenden Beitrag die Ausbildung an der Londoner Royal Academy zur gleichen Zeit. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen das Sehen-Lernen und die visu- elle Vermittlung der beiden Architekturlehrer John Soane und Charles Robert Cockerell. Beide nutzten als Lehrmittel enorm aufwändige, nahezu überwältigende Architekturvisualisierungen, um etwa Stilgeschichte oder Architekturtheorie zu illustrieren. Dominik Lengyel und Catherine Toulouse behandeln das Thema Visualisierung in der Architekturlehre für die Gegenwart. Sie führen an der BTU Cottbus-Senftenberg Studierende in die Grundlagen der Darstellungslehre ein. Dabei zeigen sie die schrittweise vor- genommene Komplexitätssteigerung der Aufgaben, welche den Studierenden vermittelt, wie sich Ideen, Analysen und Entwürfe beispielsweise mit den Mitteln der Abstraktion oder dem Begriff der „Darstellung von Unschärfe“ visualisieren lassen. Sehen-Lernen steht auch im darauf folgenden Beitrag im Zentrum, gemeinsam mit dem haptischen Austesten und dem Anwenden der gelernten Gestaltungsgrundsätze. Inga Ganzer gibt auf diese Weise einen absichtsvoll subjektiven Erfahrungsbericht darü- ber, wie im vordigitalen Zeitalter an der Kunsthochschule Burg 18 VOM BAUMEISTER ZUM MASTER Giebichenstein in Halle/Saale die Grundlagen der Gestaltung gelehrt und gelernt wurden. Sie thematisiert damit ebenso Fragen der Zugangsvoraussetzungen und der Vorbildung zum Studium. Sehen und Vermitteln bleibt Thema bei Kerstin Renz. Sie unter- zieht ein bedeutendes Lehrwerk erstmals einer genaueren Analyse, das Bildwörterbuch der Architektur von Hans Koepf (1. Auflage 1968). Das Buch zählt seit 50 Jahren zur klassischen Lehrbuchliteratur und hat unzählige angehende Architektinnen, Kunsthistoriker und Denkmalpflegerinnen zum ‚Sehen‘ gebracht und ebenso beim ‚Benennen‘ angeleitet. Das zu Anfang nicht unbedingt beliebte, da vielen zu normativ erscheinende Wörterbuch, trug später zu einer neuen Denkmalschutz- und Stadtreparatur-Debatte bei. Frederike Lausch beschäftigt sich ebenso mit den 1960er bis 1980er Jahren, genauer mit dem Ausbildungsmodell an der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar (HAB), um der Behauptung nachzugehen, das Architekturstudium in der DDR habe sich in einer der Baupraxis entrückten Nische abgespielt. War diese Diskrepanz zwischen Ausbildung und Berufspraxis in der DDR größer oder anders als andernorts und zu anderen Zeiten? Sie untersucht dabei die Rolle der Institution und ebenso die Wahrnehmung von Absolventinnen und Absolventen. Ole W. Fischers Text setzt sich mit der Genese des modernen Unterrichtszuschnitts zu Geschichte und Theorie der Architektur, bekannt unter dem Kürzel „GTA“, ab den 1960er Jahren in den USA und der Schweiz auseinander. Ein Fächerbündel und dem- zufolge auch eine Institutsform (HTC am MIT, gta an der ETH), die entstanden seien, um die mit der Postmoderne anhebende Kritik an Moderne und Nachkriegsmoderne – als Bauform und als Unterrichtsinhalt – aufzufangen. ‚Geschichte und Theorie‘ sollte ein Weg aus der Krise sein. Peter I. Schneider überführt die Analyse des Fächerspektrums Geschichte und Theorie in die Gegenwart und ergänzt diese his- torischen Fächer weiter, etwa um die „Bauformenlehre“. Er unter- zieht eine Reihe von aktuellen Curricula und Institutszuschnitten an deutschsprachigen Hochschulen einer vergleichenden Analyse, um darzustellen, wie verschieden ‚die Geschichte‘, 19 EINLEITUNG → INHALT oder wie er es nennt, der Zugriff auf das „Erbgut“ der Architektur innerhalb der Ausbildungsanstalten ‚formatiert‘ sein kann. Eine andere Art der Reform der Architekturausbildung haben Vera Kaps, Ekaterina Nagibina und Johan De Walsche im Blick, wenn sie ihre Studie „neuer Denkschulen“ vorstellen. Innerhalb des Projekts NeST (New Schools of Thought) unter- suchten sie vier neue Orte des Denkens und der Vermittlung in der Architektur. Unter Beobachtung standen dabei nicht nur die Unterrichtsinhalte, sondern auch die räumlichen Gegebenheiten, Netzwerke und strategischen Partnerschaften. Carola Ebert schließt mit einer vergleichenden Analyse zur zeitgenössischen Architekturlehre. Sie untersucht anhand dreier zurückliegender Tagungen, die das Thema entweder aus der Lehrpraxis, der Wissenschaft oder dem Berufsstand her- aus beleuchteten, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Gegenstände, Akteure und Diskussionen dieser „Inseln der Selbstreflexion“. Die Betrachtung verschiedener Formen der Architekturlehre in drei Jahrhunderten in diesem Band endet somit in der Gegenwart – als Anregung, den weitgefassten Bogen von der Bauakademie bis zu den „New Schools of Thought“ als Folie zur Reflexion und als Inspirationsquelle für zukünftige Lehrkonzepte zu nutzen. Folgenden Institutionen verdanken wir es, dass das 3. Forum Architekturwissenschaft, die Konferenz „Vom Baumeister zum Master. Formate der Architekturlehre vom 19. bis ins 21.  Jahrhundert“, und die vorliegende Publikation gelingen konnten: der Freien Universität Berlin, der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg und der Berlin International University of Applied Sciences sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die uns über das von Christiane Salge geleitete DFG-Projekt „Baukunst und Wissenschaft. Architektenausbildung um 1800 am Beispiel der Berliner Bauakademie“ finanziell unterstützt hat. Für die Unterstützung auf administrativer, organisatorischer und finanzieller Ebene möchten wir uns darüber hinaus ganz herzlich bei einer Reihe von Mitstreiterinnen und Mitstreitern 20 VOM BAUMEISTER ZUM MASTER namentlich bedanken: Dem Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin, nament- lich der damaligen Dekanin, Prof. Dr. Karin Gludovatz, und dem Verwaltungsleiter, Dr. Michael Vallo, danken wir für die schö- nen Tagungsräume in der ‚Holzlaube‘. Für ihre Unterstützung auf vielerlei Ebenen sind wir dem Dekanat der Fakultät 6 der BTU Cottbus-Senftenberg – dem Dekan Prof. Markus Otto und der Fakultätsreferentin Grit Scheppan sowie der damaligen Forschungsreferentin Dr. Margret Becker – zu Dank verpflich- tet. Ein großer Dank geht auch an die studentischen Hilfskräfte, Celine van de Velde und Florian Abe, die einen reibungslosen Ablauf der Tagung ermöglichten. An der Technischen Universität Darmstadt danken wir einerseits Dr. Martin Pozsgai für das umsichtige Lektorat der Aufsätze und andererseits Jürgen Schreiter für die sorgfältige Bearbeitung der Abbildungen für den Druck. Die Layoutgestaltung der Publikation übernahm dankenswerterweise Dr. Julia Gill. Für die kompetente Betreuung und die umsichtige Endkontrolle des Manuskriptes danken wir Dagmar Schobert und Kathleen Forth vom Universitätsverlag der Technischen Universität Berlin. In besonderer Weise danken wir dem Netzwerk Architek- turwissenschaft, welches als Hauptträger der Foren-Reihe auf vielfältige Weise Anteil am Zustandekommen und Gelingen der Tagung und der Publikation hat. Und vor allem bedanken wir uns ganz herzlich bei allen Autorinnen und Autoren, ohne die der vor- liegende Band nicht existieren würde. Berlin, im Dezember 2018 Carola Ebert, Eva Maria Froschauer, Christiane Salge 21 EINLEITUNG → INHALT 22 EVA MARIA FROSCHAUER EVA MARIA FROSCHAUER Dispositive der Architekturlehre Ein Feststellungsversuch anhand fotografischer Aufnahmen Dieser Beitrag stellt im ersten Abschnitt Überlegungen zur Frage an, ob ein bestimmter – teils sehr prägender – Bestandteil im Lehr- und Lernalltag an Architektur-Hochschulen den ‚beherr- schenden‘ Charakter des Dispositivs aufweist. Gemeint sind die Lehrsituationen ‚Präsentation‘, ‚Korrektur‘ oder ‚Konsultation‘, die in verschiedenen Öffentlichkeitsgraden selbstverständlicher Teil des studiobasierten Entwurfsunterrichts sind. Im zweiten Abschnitt werden historische Fotografien, welche die genann- ten Unterrichtssituationen verbildlichen, mit Hilfe der segmen- tierenden Analyse darauf hin untersucht, ob sich die Merkmale eines Dispositivs auch hierin feststellen lassen. Gegenstände der Bildbetrachtung sind zwei Aufnahmen aus dem Entwurfsunterricht des Ludwig Mies van der Rohe am Dessauer und Berliner Bauhaus von 1930 und 1933. Stammesriten Jede und jeder Studierende der Architektur kennt dieses Szenario: an der Wand und an mobilen Stellwänden hängen Skizzen, detaillierte Plandarstellungen und Visualisierungen in unterschiedlichen Maßstäben und Ausfertigungsgraden; davor stehen auf improvisierten Sockeln mehr oder weniger vorläufige Modellbauten, Textausführungen ergänzen die Anordnung des Dargestellten; im Raum – zumeist ein Entwurfsatelier – versam- melt sich eine Gruppe sichtbar angespannter Studierender, die wechselweise die Zuhörerschaft abgeben oder zur erläuternden 23 DISPOSITIVE DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Abb. 1: Standard-Situation im Architekturstudium. Studierende präsentieren ihre Entwurfs- projekte und setzen sich einer Zwischen- oder Endkritik aus. BTU Cottbus-Senftenberg, Lehrstuhl Entwerfen, Wohn- und Sozialbauten, Foto: Irina Hoppe Präsentation des eigenen Projekts einzeln oder als Gruppe nach vorne treten; all dies vor den Augen einer Kommission, beste- hend aus mehreren Hochschullehrinnen und -lehrern, wissen- schaftlichem oder künstlerischem Personal, manchmal externen Kritikerinnen und Kritikern. So läuft in der Regel eine Zwischen- oder eine Endpräsentation eines architektonischen oder stadt- planerischen Projekts ab. Die Studierenden erläutern mehr oder weniger souverän ihren Entwurf, die Kommission tritt milde oder scharf darauf ein, ermuntert oder droht an, die Ausfertigung noch in diese oder jene Richtung verbessern zu müssen, um am Ende das Semesterprojekt, eines von vielen innerhalb des Curriculums, erfolgreich abschließen zu können. Kaum jemand der Studierenden nimmt die Situation wirklich gelas- sen, 1 doch ist sie normaler Bestandteil eines Architektur- oder 1 Vgl. Sara Khorshidifard: A paradigm in Education: Design Studio vs. Traditional Clas- architectural education: Kolb’s Model and sroom. In: Erik Bohemia, William Ion, Ahmed learning styles in studio pedagogy. In: ARCC Kovacevic u. a. (Hg.): Design Education – Journal (2011), S. 621–634, hier 624. URL: Growing our Future. Proceedings of the 15th http://www.arcc-journal.org/index.php/repo- International Conference on Engineering sitory/article/view/370 (11. August 2017). and Product Design Education, Dublin Institu- Die Autorin schildert u. a. den „emotional te of Technology. Westbury 2013, S. 862–867. stress“, welcher in dieser Lehrsituation, URL: https://www.designsociety.org/mul- der „studio pedagogy“ entstehe; außerdem timedia/publication/865cfd7d7da32a1b- Hernan Casakin, Nitza Davidovitch: Learning c819ade8e8edb0754398b26d12f148b88e- Spaces and Social Climate in Architectural a2ff8175737108.pdf (11. August 2017). 24 EVA MARIA FROSCHAUER Gestaltungsstudiums und zugleich eine deren Besonderheiten (Abb. 1). 2 Keine Medizinstudentin, kein Jurastudent macht diese Erfahrung, der Wissensfortschritt lässt sich dort auf andere Weise abfragen. Studierende der Architektur hingegen finden sich jedes Semester erneut in dieser Evaluations-Anordnung wieder, die als Trockentraining für die spätere Praxis verstanden wird: der Berufsalltag, in dem ein Projekt vor einem Stadtrat verteidigt oder einem Investorengremium ‚verkauft‘ werden muss, wirft hier seinen Schatten voraus. Und das Setting strengt bereits während des Studium auf besondere Weise an, da es die eigene, sich oft mühsam abgerungene, kreative Leistung auf einen Prüfstand stellt, in dem nicht immer objektive Bewertungskriterien ange- setzt sind, und mit dem doch Baurealität im geschützten Raum des Ateliers zu simulieren versucht wird. 3 Kaum verwunderlich, dass dies, obwohl nur Momentaufnahme im Studienverlauf, oft als einschneidendes Erleben wahrgenommen wird, worin sich Machtverhältnisse zwischen Auszubildenden und Lehrpersonen manifestieren. Jeremy Till beschreibt in Architecture Depends 4 ganz ähnlich diese Standardsituation des Architekturstudiums und schließt sich einer scharfen Diagnose Reyner Banhams an, welcher solches Ausbildungsgebahren einmal mit archaischen Stammes- und Initiationsritualen verglich. 5 Till findet drastische Worte, entwürdigend sei es für junge Architekturstudierende, die im Ritual des „Crit“ das erste Mal einer Jury begegnen würden, entlarvend sei es für die Disziplin selbst, die sich damit in ihrer Selbstreferentialität eingerichtet habe – insgesamt eine Situation voller „potentially explosive ingredients“. 6 Und Dana Cuff macht vergleichbar die wesentlichen und nahezu symbolisch überhöhten 2 Die Autorin des vorliegenden Beitrags hat 4 Jeremy Till: Architecture Depends. Cam- selbst Architektur studiert und diese Art der bridge MA, London 2013. Entwurfsevaluation erlebt; sie kennt das Setting außerdem aus ihrer Unterrichtstätigkeit an 5 Ebd., S. 8. Till zitiert aus Reyner Banham: Architekturfakultäten. A Black Box: The Secret Profession of Architec- ture. In: Mary Banham, Paul Barker, Sutherland 3 Vgl. Dana Cuff: Architecture: The Story Lyall u. a. (Hg.): A Critic Writes. Essays by Rey- of Practice. Cambridge MA, London 31993. ner Banham. Berkeley, Los Angeles, London Insbesondere der Abschnitt „The Architectural 11996, S. 296. Student“, S. 118–129. Cuff schildert Präsentatio- nen, Kritiken und andere ‚Riten‘ des Architek- 6 Till 2013 (Anm. 4), S. 8. turstudiums. 25 DISPOSITIVE DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Abb. 2: Gemeinsame Sichtung und Kritik wissenschaftlich, theoretischer Semesterarbeiten in Form einer Poster-Präsentation im Architekturstudium. BTU Cottbus-Senftenberg, Fachgebiete Bau- und Kunstgeschichte, Foto: Irina Hoppe, 2016 ‚Lehrelemente‘ im Architekturstudium aus: „Architectural pro- grams share certain elements that have symbolic as well as func- tional value. These are the studio, the crit, and the charrette.“ 7 Ohne nun weitere Wertungen vornehmen zu wollen, es handelt sich beim oben Beschriebenen um ein klassisches Lehrdispositiv des Architekturstudiums. Was kann man darunter verstehen? Zunächst stellt die geschilderte Szenerie eine ‚Lehranordnung‘ dar, eine Vermittlungssituation aus Lehrpersonen und Studie- renden einschließlich der eingeübten Handlungsabläufe und der räumlichen Fassung (Abb.  2). Eine solche End- oder Zwischenpräsentation ist ein zum Dispositiv erweitertes ‚Lehr-‘ und ‚Lernmittel‘ im Ausbildungsgang Architektur. Damit ist frei- lich noch keine inhaltliche Aussage zur Lehre getroffen und an dieser Stelle wird auch nicht die Idiosynkrasie der Methoden einzelner Architekturlehrender in Frage gestellt. 8 Und letzt- lich lassen sich dispositivische Lehr- und Lernsituationen der Architektur nicht nur an einzelnen Unterrichtseinheiten festma- chen, sondern können ganze Schulmodelle umfassen, sei es 7 Cuff 1993 (Anm. 3), S. 118. Mit „charrette“ 8 Im weiteren Verlauf des Textes wird hier meint die Autorin jene Arbeitssituation aus dem dann das Lehrdispositiv ‚Mies van der Rohes Atelier, meist kurz vor Abgabe eines Projekts, in Entwurfsunterricht am Bauhaus Dessau der Studierende regelrecht ‚vor den Karren‘ ge- und Berlin‘ untersucht; inhaltlich beschreibt spannt sind, sich gegenseitig antreiben, Nächte Klaus-Jürgen Winkler: Baulehre und Entwer- durcharbeiten, zu viel Kaffee trinken und sich fen am Bauhaus. 1919–1933. Weimar 2003, in Perfektion oder Originalität zu überbieten S. 112–161, sehr genau die Entwurfsaufgaben suchen, S. 126–129. und Ergebnisse der Lehre Mies’. 26 EVA MARIA FROSCHAUER Abb. 3: Richard Buckminster Fuller umringt im Unterricht von Architektur-Studierenden am Black Mountain College in North Carolina, 1949, einer der Zufluchtsstätten emigrierter Bauhaus-Künstlerin- nen und Künstler. Courtesy of the Western Regional Archives, State Archives of North Carolina gemäß des polytechnischen Bildungsideals des 19. Jahrhunderts oder eines elitären Meisterateliers an einer Akademie, sei es ein ‚radikal‘ neues pädagogisches Konzept 9 aus der Mitte des 20.  Jahrhunderts (Abb.  3) oder ein anwendungsspezifischer Studiengang der Gegenwart. An dieser Stelle gilt es zu ergründen, welche Merkmale das eingangs geschilderte Standard-Setting zum Lehrdispositiv machen. Dabei geht es zunächst gar nicht um die während des Studiounterrichts stattfindenden edukativen Inhaltsangebote 9 Vgl. z. B. das gemeinschaftliche For- University School of Architecture und unter der schungsprojekt „Radical Pedagogies“ zu Nach- Leitung von Beatriz Colomina. URL: http://radi- kriegsentwicklungen im weltweiten Architektu- cal-pedagogies.com/ (11. August 2017). runterricht, angesiedelt an der Princeton 27 DISPOSITIVE DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT oder um die möglichen kognitiven Prozesse in einer Gruppe von Studierenden, sondern um das Erkennen des institutionellen oder sozialen ‚Machtraums‘, welcher sich mit dem „Atelier“, mit dem „Studio“ und zugleich mit den darin stattfindenden Ritualen auf- spannt. 10 So schreiben Hernan Casakin und Nitza Davidovitch: „the studio is not only a producer of knowledge; it is also a site of social practice and social interaction, where social climate plays a critical role. In many ways, the structure of the studio reflects the social structure of most workplaces that are based on sys- tems of hierarchy, and obedience“. 11 Demzufolge gilt es erst zu klären, wie der Begriff des Lehrdispositivs unter Einbezug sol- cher ‚Räume‘ der Ausbildung definiert sein kann, um dann zwei historische Beispiele, belegt über Fotografien, mit Hilfe der seg- mentierenden Bildanalyse auf deren dispositivischen Charakter hin zu untersuchen. Machtraum Entwurfsatelier Zunächst soll der Begriff von Lernartefakten als disziplinen- beschreibenden ‚Gegenständen‘ der Architektur weiter geöff- net werden, mehr als es die Rede von Zeichenwerkzeugen und -techniken, von Modellbaumaterialien und von normier- ten Plandarstellungen tut. Lehrartefakte sind genauso die lebenskluge anekdotische Erzählung eines Entwurfslehrers, die auf den Plan zeigende und damit ‚wegweisende‘ Hand einer Gestaltungslehrerin oder eben die gemeinsame kritische Evaluation eines Semesterentwurfs in einer Gruppe unter hohem Rechtfertigungsdruck. ‚Lehranordnung‘ bedeutet in all diesen Fällen das Zusammenkommen von Agenten: von Lehrpersonen und Lernwilligen, von immateriellen Gestaltungsideen, ausge- drückt in vergegenständlichten Entwürfen, von unterweisender 10 Casakin, Davidovitch 2013 (Anm. 1), S. 862, 11 Ebd., S. 863; vgl. außerdem zur ‚Sozialisa- angemerkt werden hier mangelnde Untersu- tion‘ von Architekturstudierenden bei James chungen zum Thema: „However, the relation of Thompson: Becoming an Architect. Narratives teaching and learning, and the perceived social of Architectural Education. Univ.-Diss. Was- climate in different learning environments has hington DC 2016. URL: https://digital.lib.was- been largely ignored in most design studies.“ hington.edu/researchworks/handle/1773/38079 (22. September 2017), S. 59f. 28 EVA MARIA FROSCHAUER Rede und Geste, von goutierender oder ablehnender Wertung, zusammengefasst im Raum des Ateliers oder Studios, in dem agiert wird. Kurz gesagt: es entsteht ein bestimmtes produkti- ves/unproduktives Klima, das sich in Form eines bestimmten Kräfte- und Abhängigkeitsverhältnisses manifestiert. Eine solche Lehranordnung verdichtet und regelt manchmal recht eindeu- tig, dann wieder sehr subtil das Beziehungsgeflecht zwischen Wissenden und Noch-Nicht-Wissenden, zwischen Ermunternden und Belehrten. Der Begriff des Dispositivs ist im Umfeld von Bildungspraxis und -forschung ein eingeführter Term, welchen zum Beispiel Annette Silvia Gille in einem Text von 2013 nutzt, wenn sie ein „aktuelle[s] Bildungsdispositiv“ hinsichtlich der „strate- gischen Funktionen“ und den „politischen und gesellschaft- lichen Rahmenbedingungen“ untersucht. 12 Zunächst sei Michel Foucaults ‚weitgefasstes‘ Begriffsverständnis, etwa aus Dispositive der Macht von 1978, grundsätzlich dienlich: „Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist ers- tens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wis- senschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwi- schen diesen Elementen geknüpft werden kann“. 13 Nach Gille, folgend Foucault, sei das Hauptsächliche eines festgestell- ten Dispositivs, dass es auf eine bestimmte gesellschaftliche Problemlage, auf einen „Notstand“ antworte; dass es ‚veränder- bar‘ sei und bleibe und selbst „reagieren“ könne; dass manches in der Anordnung wegfallen und anderes Determinierendes neu hinzukommen könne; dass es ‚begrenze‘ wie ‚begründe‘ und 12 Annette Silvia Gille: Die Ökonomisierung 13 Ebd., S. 75, zitiert nach Gille: Michel von Bildung und Bildungsprozessen aus dis- Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexuali- positivanalytischer Sicht. In: Joannah Caborn tät, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S. 119f. Wengler, Britta Hoffarth, Łukasz Kumięga (Hg.): [Hervorhebung im Original]. Verortungen des Dispositiv-Begriffs. Analy- tische Einsätze zu Raum, Bildung, Politik. Wies- baden 2013, S. 73–89, hier 73. 29 DISPOSITIVE DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT dass, wenn man es als ‚Herrschaftsinstrument‘ bezeichnen will, es als solches nicht nur „repressiv“, sondern durchaus „kreativ“ sei. 14 Überdies wäre, so die Bildungsforschung, eine Verschiebung der Betrachtungsweisen, vom „‚discursive turn‘“ zum „‚disposi- tive turn‘“ festzustellen, wie Andrea D. Bührmann und Werner Schneider es formulieren. 15 Allerdings, es sei ein: „ziemlich bun- tes Bild dessen, was in verschiedenen Forschungsfeldern alles als ‚Dispositiv‘ bezeichnet werden kann“ 16. Und weiter, dass das vermeintlich Feststehende im Dispositiv – die Subjekt- oder Objektzuschreibung – „unter bestimmten historisch-kontingen- ten Bedingungen über unterschiedliche, machtvolle Praktiken hervorgebracht“ werde. 17 Wie lassen sich solche Aussagen nun auf den hier verhandelten, nischenartigen Bildungskontext der Architekturlehre übertra- gen? Nimmt man das Dispositiv ‚Entwurfsatelier‘, so ist dieses samt allen in der Anordnung agierenden Subjekten und Objekten folgendermaßen zu charakterisieren: Erstens, das Wissen, das darin über verschiedene evaluierende Schleifen erzeugt wird, reagiert in jedem Fall auf ‚Notstände‘, da es im Fach der Architektur und in anderen Designdisziplinen im Kern darum geht, wie man etwas besser gestalten kann! Zum Zweiten: Eine Lehranordnung der Architektur einschließlich ihrer Lehrmittel ist in ihren Einzelelementen ständig wandelbar und trägt doch man- che Konstanten in sich, wie eben die Zeichnung, das Modell, den Stift oder das Papier als Instrumente und Werkzeuge, die wohl kaum je verschwinden werden. Drittens, manche Artefakte des Lehrens und Lernens verlieren aber für einige Zeit an Bedeutung, werden dann wieder neu entdeckt oder wechseln die Materialität, aber nicht ihre generelle Bestimmung, wie etwa das Modell kaum seine vermittelnde Fähigkeit verliert – gleichgültig ob 14 Gille 2013 (Anm. 12), S. 75f., nimmt hier er- Folgerungen, Herausforderungen und Pers- neut Bezug auf Foucault 1978 (Anm. 13), S. 120, pektiven für die Forschungspraxis. In: Caborn sowie auf Michel Foucault: Der Wille zum Wis- Wengler, Hoffarth, Kumięga 2013 (Anm. 12), sen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt a. M. S. 21–35. 1983, S. 87, 93. 16 Ebd., S. 22. 15 Andrea D. Bührmann, Werner Schneider: Vom ‘discursive turn’ zum ‘dispositive turn’? 17 Ebd., S. 24. 30 EVA MARIA FROSCHAUER Abb. 4: Beispiel eines Entwurfs-Workshops, in dem ein bestimmtes Gestaltungsmittel (doppel- lagige Kartonmodule) eingesetzt wurden, um mit analogen und digitalen Methoden entwerfen zu lernen. BTU Cottbus-Senftenberg, Foto: Fachgebiet Digitales Entwerfen, 2015 es aus Karton oder Daten geformt ist. Viertens, das Dispositiv Architekturlehre ‚begrenzt‘ und ‚begründet‘, wenn zum Beispiel in einer bestimmten Lehrform nur begrenzte Mittel über ein Semester zugelassen sind und damit ein gewünschtes Konzept der Kreation angeregt werden soll (Abb. 4). Bei der Übertragung der Thesen aus dem breiteren bildungswis- senschaftlichen Betrachtungsrahmen in den viel engeren einer Spezialdisziplin, lässt sich letztlich auch das ‚herrschaftsinstru- mentale‘ Moment feststellen. Denn selbst in einer wünschens- wert ausbalancierten Bildungssituation an einer Hochschule behalten die Lehrenden immer den längeren Hebel der Sanktionierung durch Bewertung in der Hand. 18 Innerhalb eines solchen Verständnisses können für die Analyse des Dispositivs ‚Entwurfsunterricht im Studio‘ auch Begriffe wie ‚Korrektur‘ und 18 Zu den Abhängigkeitsstrukturen vgl. Casakin, Davidovitch 2013 (Anm. 1), S. 863. 31 DISPOSITIVE DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT ‚Konsultation‘ hinzugezogen werden. Einige Erkenntnis mag daraus zu gewinnen sein, dass diese Begriffe sowohl prozes- sual wie habituell konnotiert sind. Eine Konsultation der/des Studierenden bei einer Lehrperson wird gemeinhin als notwen- diger Zwischenschritt angesehen, um den Entwurfsprozess weiterzubringen, anzuregen, zu korrigieren, bis hin zu dirigie- ren. Und freilich steckt darin eine habituelle Manifestation, die Anleitenden, so partnerschaftlich sie lehren mögen, stehen zu den Studierenden immer in einem hierarchischen Verhältnis. Zeigeform des Dispositivs Das Dispositiv ist nach Foucault’scher Vorgabe ein „entschieden heterogenes Ensemble“ und es schließt Bestimmungsfaktoren, wie die „Institutionen“ oder „architekturale Einrichtungen“, auch das „Ungesagte“ als Teil des sozialen und hierarchischen Gefüges der Agierenden untereinander ein 19 – lauter markige Kennzeichen, die auch an historischen Gegenständen festge- stellt werden können. Über Fotografien liegen uns eine Reihe sol- cher ‚Beweisbilder‘ für Lehrdispositive vor, die nicht nur die ein- gangs geschilderte, oft ‚gnadenlose‘ Endpräsentations-Szenerie im Entwurfsatelier festhalten, sondern auch die Zwischenschritte von ‚Korrektur‘ oder ‚Konsultation‘. Die beiden gewählten historischen Aufnahmen verbildlichen jeweils eine solche Besprechungs- oder Korrektursituation unter der Ägide des dritten Bauhaus-Direktors Ludwig Mies van der Rohe: Das erste Bild (im Folgenden Abbildung A genannt) ist mit 1931 beschriftet (Abb.  5) 20, das zweite (Abbildung B) datiert auf 1933 (Abb.  6 )21. Die Wahl fiel aus zwei Gründen auf diese Beispiele: einmal ist die Lehre am Bauhaus ein bis heute beach- tenswertes Feld und außerdem bieten die Bilder Folgendes: ihre 19 Gille 2013 nach Foucault 1978 (Anm. 13), 21 Bildbezeichnung: „Ludwig Mies van der S. 75. Rohe speaking with / his architectural design students at / the Bauhaus, Berlin in 1933 20 Bildbezeichnung rückseitig: „PPahl; bez.: [Inscribed by Howard Dearstyne]“. Archivquelle 1931/ Seminar Mies/ Annemarie Wilke, Heinrich und Rechte: BR50.33. Harvard Art Museums Neuy, Werner Klumpp“. Archivquelle und Rech- / Busch-Reisinger Museum, Gift of Howard te: Bauhaus-Archiv Berlin / Peter Jan Pahl. Dearstyne. 32 EVA MARIA FROSCHAUER Herkunft ist weitestgehend bekannt, man weiß, wo sie veröffent- licht und damit kontextualisiert wurden und es besteht Zugriff auf schriftliche Aussagen und Quellen, welche den Bildinhalt (Lehre/ Entwurfsunterricht) zusätzlich zu fassen vermögen. Martina Dobbe führt in ihrem Aufsatz Zeigen als ‚faire voir‘. Für eine Bildtheorie des Fotografischen auf, welche Zugänge zum Beispiel möglich wären, um das „gezeigte[-] Sehen“ 22 einer Fotografie zum Vorschein zu bringen. Trotzdem wird an die- ser Stelle ein methodisch anderer Ansatz aufgegriffen, der zwar kunst-, bild- oder kulturwissenschaftliche Zugänge inte- griert, aber letztlich auf eine Sozialtheorie des Bildes abzielt. Roswitha Breckner stellt in ihrem gleichnamigen Buch die soge- nannte Segmentanalyse von Abbildungen dar, um zu zeigen, wie „aus der Beziehung und Organisiertheit zwischen verschie- denen Elementen eine Bildgestalt als Gesamtkomposition mit ihren zum Teil bestimmbaren, zum Teil unbestimmt bleiben- den Thematisierungspotentialen entsteht.“ 23 Die wesentlichen Schritte in diesem Verfahren nach Breckner sind hier vereinfacht dargestellt: das Dokumentieren dessen, was im Bild auf welche Weise wahrgenommen wird; das Einteilen, Beschreiben und Interpretieren des Bildes in Segmente(n); das Analysieren der kompositorischen Struktur; das Rekonstruieren des Entstehens und Verwendens des Bildes und am Ende das Zusammenführen der Ergebnisse entlang „der Frage: ,Wie wird etwas im und durch das Bild für wen in welchen medialen und pragmatischen Kontexten sichtbar?‘“ 24 Auch wenn hier die Analyseschritte kaum in der gebotenen Detailtiefe vollzogen werden können, scheint das Vorgehen geeignet, um im Ergebnis die Eingangsfrage mit ‚das Dispositiv wird sichtbar‘ oder ‚nicht sichtbar‘ beantworten zu können. 22 Martina Dobbe: Zeigen als faire voir. Für 23 Roswitha Breckner: Sozialtheorie des eine Bildtheorie des Fotografischen. In: Gott- Bildes. Zur interpretativen Analyse von Bildern fried Boehm, Sebastian Egenhofer, Christian und Fotografien. Bielefeld 2010, S. 286. Spies (Hg.): Zeigen. Die Rhetorik des Sichtba- ren. München 2010, S. 159–178, hier 160. Sie 24 Ebd., „Methodisches Verfahren“, führt Clement Greenbergs, Rosalind Kraus’ S. 286–296, hier 293. oder Roland Barthes’ Ausdeutungen zu einer Theorie der Fotografie an. 33 DISPOSITIVE DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Abb. 5: Eine Unterrichtsszene – ‚Korrektur‘ oder ‚Seminar‘ – mit Ludwig Mies van der Rohe und Studierenden am Bauhaus-Dessau (links Annemarie Wilke und Heinrich Neuy, rechts Hermann Klumpp). Die Aufnahme stammt von Pius E. Pahl, 1931. Bauhaus-Archiv Berlin / Peter Jan Pahl Wahrnehmen, Vereinzeln, Verbinden, Einbetten Abbildung A zeigt vier Personen, welche sich eng zueinander gruppieren; drei davon sind durch die mit dem Bildhintergrund teils verschmelzende weiße oder graue Oberbekleidung eher als Randfiguren behandelt. Zudem sind deren Köpfe in diesem Abzug zum Teil beschnitten, während eine Person ausgezeich- net erscheint: durch ihre zentrierte Position und aufgrund ihrer dunkleren, eleganteren Kleidung (Abb.  5). Die Person, überdies älter als die anderen, zieht sofort die Wahrnehmung auf sich. Den Bildbetrachtenden scheint sie sich fast entgegen zu neigen; im Bild beugt sie sich über anscheinend wichtige Unterlagen und zieht damit alle Kraftlinien auf sich. Unterlagen, zu welchen auch die anderen Personen in einer bestimmten Beziehung zu stehen scheinen. Der umgebende Raum ist nur in Ausschnitten 34 EVA MARIA FROSCHAUER sichtbar, er kann trotzdem als Arbeitsumgebung identifiziert werden, da sich einerseits die Abgebildeten geschäftsmäßig auf Materialien einlassen, andererseits hängen an der Wand im Hintergrund Planzeichnungen; Arbeitsplatten und Hocker lassen auf die Ausstattung von Unterrichtsräumen im technischen oder künstlerischen Bereich, etwa einem Atelier, schließen; der weiße Arbeitsmantel der zweiten Person von links passt ebenso in die- ses Metier. Der Hell-Dunkel-Kontrast in der Fotografie unter- stützt die Hierarchisierung der Personen: Weiß und Grau in den Kleidungsstücken tritt zurück, Schwarz zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Für die Arbeitsmaterialien verhält es sich umgekehrt: Weiß lässt offenbar Wichtiges hervortreten, Schwarz, so die Arbeitsmappe im Vordergrund auf dem Tisch, tritt zurück. Vereinzelt man nun drei Bildsegmente (Abb.  7), so erscheinen die beiden links stehenden Personen, eine Frau und ein Mann, in jeweils auf die Mitte und die Unterlagen gerichteten, durch ihre Kopfhaltung ‚zugeneigten‘ oder zuhörenden Posen. Die Handhaltung der Frau (ein Papier in ihrer Hand weist auf die Person in der Bildmitte) verstärkt diesen Eindruck und lässt ins- gesamt darauf schließen, dass es sich bei den beiden Personen um eine Art von ‚Untergebenen‘ oder ‚zu Unterweisenden‘ handeln könnte. Ein weiteres Bildsegment zeigt die Person in der Mitte; sie nimmt durch ihre gebeugte Haltung den Raum deutlich ein, ‚besetzt‘ zusätzlich mit der Handhaltung auf den Arbeitsunterlagen das Motiv, indem sie sich regelrecht darauf ‚abstützt‘. Diese Pose kann sowohl als intensives Interessieren als auch als Distanz-Wahren gedeutet werden; die den Betrachterinnen und Betrachtern ‚gebotene‘ Stirn, leicht kraus- gezogen, weist den Mann einerseits als Denkenden, anderseits als ‚Beherrschenden‘ aus. Der Schlagschatten, der auf das Profil des Kopfes fällt, zeichnet ihn zusätzlich aus. Ausschnitt Nummer drei zeigt den rechts stehenden Mann in rauem Anzugstoff, der sich deutlich vom feinen Tuch seines Nachbarn abhebt. Er richtet seinen Blick wie die anderen in die Mitte, distanziert oder verschließt sich dabei aber ein Stück weit dem Gehörten oder Gesehenen – ausgedrückt über seine Hand, die in der Sakko-Tasche steckt. 35 DISPOSITIVE DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Abb. 6: Ludwig Mies van der Rohe im Gespräch mit Architektur-Studenten am Bauhaus in Berlin, 1933. Spätere Bildbezeichnung durch Howard Dearstyne, von wem die Aufnahme stammt, ist nicht bekannt. Harvard Art Museums / Busch-Reisinger Museum, Gift of Howard Dearstyne. INV021840. © President and Fellows of Harvard College Sieht man im nächsten Schritt das Bild nun wieder als Gesamtes (Abb.  5), um dessen kompositorische Struktur zu verstehen, so wird deutlich, dass die Fluchtlinien der Perspektive in etwa rechts von der Mitte auf die Planzeichnungen an der Wand zulaufen. So ergibt sich ein ausgewogenes Kräfteverhältnis in der Komposition, welches links einen Schwerpunkt durch die beiden Personen, rechts einen durch die perspektivische Hinführung auf einen zentralen Aussagegegenstand des Bildes setzt. ‚Unterwiesen-Werden‘ und ‚Darstellung‘ können als Charakteristik der Szene gelten. In der Fotografie sind zahlreiche senkrechte Linien auszumachen: die aufrechten Personen, deren Kleidung (etwa die Knopfleiste des Mantels des links mittig stehenden Mannes), die Linien des umgebenden Raumes, die Orthogonalen der Planzeichnung. Zwar gliedern diese Linien das Bild recht regelmäßig, sie verdich- ten sich aber hinter der zentralen Person und geben ihr so noch 36 EVA MARIA FROSCHAUER mehr Bedeutung. Auch die wichtigste Horizontale des Bildes, der schwarze Balken an der Wand, durchschneidet die mittig abge- bildete Gestalt. Die wichtigsten Feldlinien der Abbildung ergeben sich mit der Blickrichtung aller vier Person und richten sich auf das Blatt, das in der Mitte auf dem Arbeitstisch liegt. Zur Entstehung und Erläuterung der Fotografie wissen wir, dass hier 1931 eine „Unterrichtsszene“ am Bauhaus Dessau, der Hochschule für Gestaltung, aus dem Entwurfs- oder Seminarunterricht Mies van der Rohes 25 – die zentrale Person – zu sehen ist. Das Foto hebt unter anderem Mies als ‚Direktor‘, ‚Entwurfslehrer‘ und ‚Architekten‘ hervor. In diesem Kontext wird die Aufnahme auch meist gezeigt. 26 Was wir nicht wissen, ist, ob die Fotografie rein zufällig entstand, ob sie zwar arrangiert aber doch eine weitestgehend authentische Unterrichtsszene abbil- det, oder ob sie gänzlich ‚gestellt‘ war. Dass es mindestens eine weitere Aufnahme davon gibt, 27 kann als Beleg für die zweite Sichtweise gelten, ein komplett durchkomponiertes Arrangement ist der Abbildung eigentlich nicht anzusehen. Wir wissen, wer fotografiert hat: Pius E. Pahl, der bekannte Mies-Schüler aus dem Pool der Architektur-Absolventen des Bauhauses. 28 Daraus könnte man schließen, dass es sich um einen dokumentierenden ‚Schnappschuss‘ gehandelt haben mag. 29 Wir wissen, wer die dargestellten Studierenden sind: vorne die spätere Architektin Annemarie Wilke, dahinter der spätere Maler Heinrich Neuy sowie rechts der nicht ganz unumstrittene spätere Feininger-Sammler und Architekt Hermann Klumpp. 30 Alle drei umstellen Mies van 25 Siehe Archivquelle und Bildbezeichnung noch nicht auf diesen hinunter gebeugt hat. (Anm. 20). Das Foto zeigt außerdem einen Spiegel und möglicherweise eine Tür im Hintergrund. 26 Vgl. Selbstdarstellung des Bauhauses im Vorfeld des 100-Jahr-Jubiläums, Rubrik Unter- 28 Pius E. Pahl erhielt eines von 32 Architek- richt. URL: https://www.bauhaus100.de/de/da- tur-Diplomen, bei Schließung des Bauhauses mals/werke/unterricht/unterrichtsszene-des- in Berlin wurden noch einmal 16 vergeben. sau-3/index.html (11. August 2017); oder in Nach einem freundlichen Hinweis von Magda- Magdalena Droste: bauhaus 1919–1933. Köln lena Droste. 31993, S. 210, hier ist jedoch eine etwas andere Version der Fotografie veröffentlicht. 29 Siehe Archivquelle und Bildbezeichnung (Anm. 20). 27 Droste 1993 (Anm. 26), S. 201; diese Auf- nahme unterscheidet sich, indem sich darin 30 Ebd. Mies vom Tisch aufgerichtet oder sich 37 DISPOSITIVE DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Abb. 7: Segmentanalyse der Dessauer Fotografie zur Gruppe um Mies van der Rohe (1931) nach Roswitha Breckner. Collage der Bildsegmente, Eva Maria Froschauer, 2017. Bildnutzung nach freundlicher Genehmigung durch Bauhaus-Archiv Berlin / Peter Jan Pahl der Rohe eng und schließen so Habitus und Unterweisung des ‚Entwurfslehrers‘ sowie das Arbeitsmaterial ‚des Entwerfens‘ mit ein. Es entsteht ein eng aufeinander bezogenes Gesamtensemble aus Personen und Artefakten sowie aus mehr oder weniger deut- lich dargestellten sozialen Bezügen untereinander. Der letzte Schritt der segmentierenden Bildanalyse, die zusammenfas- sende Interpretation, folgt am Ende gemeinsam mit Abbildung B und hinsichtlich einer möglichen dispositivischen Aussage. Bei Abbildung B pendelt die erste Wahrnehmung zwischen dem überstrahlten Hintergrund, der durch viel Licht aus gro- ßen Fenstern entsteht, und den vier Personen, die in jeweils von Schwarz zu Grau abgestufter Kleidung Bildvordergrund und Mittelgrund dominieren (Abb.  6). Sowohl der umfließende Hintergrund wie die zentral gruppierten Männer bilden Einheiten in der Fotografie, die die Perzeption immer wieder vom einen zum anderen Bildelement wechseln lassen. Nach längerem Betrachten dieses motivischen ‚Schwarz/Weiß‘-Kontrastes erscheint eine Zwischenebene, die beide Bildeinheiten noch weiter voneinander trennt: indem viel Licht von hinten auf die Personen fällt, umspielt diese jeweils ein feiner Lichtkranz, einer Aura gleich, womit zusätzlich Hell und Dunkel, Personen und Raum voneinander distanziert werden. Der Hintergrund wirkt zudem unscharf und diffus, wie von Baustellenstaub vernebelt. Ähnlich dem Pendeln der Wahrnehmung zwischen Hintergrund und Vordergrund, ist zunächst schwer zu entscheiden, wo nun der eigentliche moti- vische Schwerpunkt des Bildes liegt: ist es die am größten, dun- kelsten und damit am ‚mächtigsten‘ dargestellte Person links im Vordergrund, die die Hälfte der Bildbreite einnimmt; oder sind es 38 EVA MARIA FROSCHAUER Abb. 8: Segmentanalyse der Berliner Aufnahme zur Gruppe um Mies van der Rohe (1933) nach Roswitha Breckner. Collage der Bildsegmente, Eva Maria Froschauer, 2017. Bildnutzung nach freundlicher Genehmigung durch Harvard Art Museums / Busch-Reisinger Museum die drei anderen Männer, die zusammenzugehören scheinen, die aber durch ihre jeweils eigene Blickrichtung, Beschäftigung oder Pose, eine ansatzweise motivische Verdichtung im Foto wie- der zerstreuen. Überhaupt: obwohl sich die dominante Person des Vordergrundes – entgegen der Kamera halb verdreht – ins Bildzentrum wendet und damit die drei anderen ‚einsammelt‘, entsteht keine mit Abbildung A vergleichbare Konzentration auf einen Gegenstand im Bildraum selbst. Wohingegen die räumli- che Umgebung in Abbildung B viel deutlicher zu sehen ist: es ist wieder ein Arbeitskontext mit Zeichenplatten, Hockern und dies- mal nur spärlich vorhandenen Unterlagen; insgesamt wirkt der Innenraum fabrikartig, noch neu oder wenig benutzt. Segmentiert man die ohnedies schon ‚verstreut‘ wirkenden Personen nun in der Analyse, so betont die Mitte links hervortre- tende Figur in ihrer Ausrichtung den die Szene dominierenden Habitus noch weiter (Abb.  8). Die Hand (mit Zigarre als Attribut ‚managender‘ Männlichkeit) liegt nonchalant auf dem Knie, die Sitzhaltung ist trotz der offenbar nicht wirklich bequemen Hocker annähernd entspannt, die gesamte Körpersprache dabei abwar- tend, so als wolle er sagen: ‚Was gibt es, meine Herren? Was wol- len wir/Sie tun?‘ Blickt man nun auf das nächste Einzelelement, die zwei mittig positionierten, jüngeren Männer, von denen der linke leer in den Raum starrt, die Hände abwartend abgelegt, und der rechte den Kopf verbirgt, sich auf den Tisch stützt und die freie Hand in der Hosentasche belässt, stellt sich in Verbindung mit der ersten Person eine Atmosphäre eher der Ratlosigkeit, denn der Beherrschung ein. Die dritte segmentierte Person ist angeschnitten, scheint dabei wie zufällig ins Bild geraten, doch die Beine ragen am weitesten ins Motiv. Der Mann erscheint 39 DISPOSITIVE DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT unbeteiligt am Gesamten, ist hingegen konzentriert mit seinen Papieren, einer Zeichnung (?) beschäftigt. Trotzdem sind alle drei Bildsegmente gerade über den unklaren, latenten Bezug mit- einander verbunden. Nimmt man nun die Analyse der kompositorischen Struktur des Bildes vor, so wird die Verbindung der Personen am stärksten durch ihre Beinhaltung deutlich gemacht. Die Linien streben auf einen Punkt, vorne und außerhalb des Bildes zu. So als wollten sie sagen: ‚Wir gehören doch zusammen, obwohl es gerade nicht so scheint. Wir gehören zusammen, selbst wenn wir ‚zerstreut‘ wer- den!‘ Diese instabile Personengruppe wird über andere wichtige, kompositorische Elemente, die Raumorthogonalen, gehalten. Die Strenge der senkrechten und horizontalen Linien wird aller- dings durch Schrägen, eine außen am Fenster vorbei geführte Treppe und eine schief gestellte Arbeitsplatte im Hintergrund, gestört. Damit scheint Unsicherheit – entgegen der Klarheit – symbolisiert. Insgesamt verlaufen die perspektivischen Linien der Fotografie wieder, wie in Aufnahme A, auf den Hintergrund rechts im Bild zu; dieser Fluchtpunkt bildet damit den Konterpart zur dominierenden Schwere der Person links im Vordergrund. Auch für dieses Foto ist der Kontext bekannt: es ist 1933, nur wenige Jahre nach Abbildung A, entstanden. In der Monografie von Franz Schulze zu Mies van der Rohe. Leben und Werk aus dem Jahr 1986 wird die Aufnahme fälschlicher Weise auf 1930 datiert und damit noch dem Dessauer Bauhaus zugeordnet, der Student ganz rechts wird als Selman Selmanagić ausgemacht. 31 Tatsächlich zeigt das Foto aber einen Arbeitsraum in der letzten Station des Bauhauses, in der von Mies angemieteten ehemali- gen Telefonfabrik in Berlin-Steglitz. 32 Die einstige Reformschule war nun nur noch eine privat betriebene Ausbildungsanstalt – der letzte Versuch der Rettung der Institution. Die Berliner Räume 31 Franz Schulze: Mies van der Rohe. Leben 32 Siehe Archivquelle und Bildbezeichnung und Werk. Deutsche Ausgabe, Berlin 1986, (Anm. 21). Laut besitzendem Archiv ist nicht S. 184. bekannt, wer das Foto aufgenommen hat. Es handelt sich aber um eine Schenkung Howard Dearstynes, welcher die letzte Bauhaus-Phase in Berlin als Student miterlebt hatte; Dearstyne nahm auch die Inskriptionen auf der Fotografie vor. 40 EVA MARIA FROSCHAUER sind leicht an der Fensterteilung und an der außen angebrach- ten Eisentreppe zu erkennen. 33 Die auf der Abbildung zu sehen- den, meist leeren Arbeitstische und die Hocker dürften jene aus Dessau sein. Inwieweit das Sujet ‚Mies und Studenten‘, oder ‚Mies bei der Unterweisung‘, oder ‚Mies bei der Korrektur bzw. Besprechung‘ ein arrangiertes oder zufälliges Bild ist, darü- ber wissen wir nichts. Mit der ausgemachten ‚Ratlosigkeit‘ und ‚Leere‘, transportiert über die Einzelpersonen, erscheint die Atmosphäre im Raum weit weniger bestimmend, unterweisend und beherrschend als auf der Dessauer Fotografie. Vor dem zeithistorischen Hintergrund könnte man daraus schließen: im Vergleich zu Abbildung A wird in Bild B die nun drastisch ver- änderte politische Situation und die ausweglose Lage des Bauhauses in Deutschland sichtbar. Obwohl Mies noch immer als ‚Direktor‘, ‚Lehrer‘ und ‚Macher‘ auf der späteren Fotografie dargestellt ist, obwohl die Studierenden noch immer auf ihn bezogen wirken, scheint das Bild herauszuschreien: ‚Wir wissen nicht mehr, wie es weitergeht!‘ Pädagogische Eindringlichkeit Der letzte Schritt der Analyse sieht die Interpretation allen, auf dem Wege der Zusammenführung, am Bild gewonnen Wissens vor. Und es müsste die Frage zu beantworten sein, ob die beiden Fotografien in der Lage sind, das Lehrdispositiv ‚Korrektur‘ oder ‚Konsultation‘ als Teile des studiobasierten Entwurfsunterrichts (auch an einem historischen Beleg) zu bestätigen. Das heißt, sind „entschieden heterogene[-] Ensemble[s]“ zu sehen, die verste- hen lassen, wie hier Diskurs und Aussage, Institution und Raum, Regeln und Gesetze, „Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes“ zusammenkommen? 34 Dispositive, worin ‚regiert‘ und ‚reagiert‘, worin ‚begrenzt‘ und ‚begründet‘, worin ‚gemacht‘ und ‚geherrscht‘ wird? Die Analysen der Bilder bestätigen dies zwei- felsfrei, wenn auch auf unterschiedliche Weise: In Abbildung A 33 Vgl. Droste 1993 (Anm. 26), Abbildung des 34 Gille 2013 nach Foucault 1978 (Anm. 13), in der Birkbuschstraße befindlichen Gebäudes, S. 75. S. 233. 41 DISPOSITIVE DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT ‚beherrscht‘ der Architekturlehrer durch Erscheinung und Gestik nicht nur die Szenerie – alle Aufmerksamkeit ist auf sein Tun und Sagen gerichtet –, sondern mit dem Bild ist ebenso die Intensität und Art seines Entwurfslehrens ausgedrückt. In Abbildung B wirkt dieser Grundhabitus zwar weiter und die Initiative des Machers Ludwig Mies van der Rohe ist immer noch erkennbar, doch läuft aufgrund der historischen Situation nun vieles ‚ins Leere‘, manche Elemente des vorherigen Dispositivs sind durch andere ersetzt. Um die Interpretation an dieser Stelle abzuschließen und die Bildaussagen durch weitere Quellen zu ergänzen, kann man die Erinnerungsberichte ehemaliger Studenten von Mies am Bauhaus in Dessau und Berlin hinzuziehen. Eingedenk aller Heldenverehrung berichtet etwa Howard Dearstyne, der von 1928 bis 1932 an beiden Orten studierte, dass Mies als Entwurfslehrer „uns unsere schlechten Entwürfe aus[-]treiben und uns auf die richtige Spur […] bringen“ wollte und wohl „manchmal ganz unab- sichtlich die Gefühle seiner Studenten verletzte“. Und weiter, dabei zum „schwarzen Stift“ griff, „herumstrich“, um Verbesserungen „anzudeuten“. 35 Dearstyne berichtet genauso vom überaus enga- gierten Eintreten Mies’ auf die fortgeschrittenen Entwürfe von Diplomanden, zu denen er einst zählte. 36 Der Mies-Biograf Franz Schulze schildert die Unterrichtspraxis des Architekten – der ermunternd oder mit „entnervender Gründlichkeit“ 37 – beispiels- weise die Entwurfsaufgabe „Einfamilienhaus“ durchdekliniert habe; und er schreibt auch zur Verehrung der Studierenden gegenüber dem ‚gottgleichen‘ Mentor sowie dessen Eindrücklich- keit als Person und Erscheinung 38. Klaus-Jürgen Winkler hat nachfolgend in seiner überaus gründlichen Darstellung Baulehre und Entwerfen am Bauhaus 1919–1933 deutlich zur objektivierten Einschätzung des Mies’schen Unterrichts 35 Howard Dearstyne: Mies van der Rohes 36 Ebd., S. 319; vgl. außerdem den Bericht Lehrtätigkeit am Bauhaus Dessau. In: Eckhard von Pius E. Pahl: Erfahrungen eines akademi- Neumann (Hg.): Bauhaus und Bauhäusler. schen Architekturstudenten. In: Neumann 1994 Erinnerungen und Bekenntnisse. Köln 41994, (Anm. 35), S. 331–337. S. 313–320, hier 316. 37 Schulze 1986 (Anm. 31), S. 184. 38 Ebd., S. 183. 42 EVA MARIA FROSCHAUER beigetragen. Er stellt einzelne Entwurfsaufgaben vor und schätzt all dies vor dem Hintergrund der Spezifik des Bauhauses als hybride Ausbildungsform zwischen technischer, künstlerischer, kunsthandwerklicher und handwerklicher Unterweisung ein. 39 Winkler bringt Habitus und Lehrattitüde des Mies van der Rohe auf den Punkt: sein Unterricht stellte eine „Meisterlehre“ dar, drehte sich im Kern um ästhetische Problemlösungen, wollte die Studierenden gemäß seines Architekturideals formen, weni- ger deren eigene Formfindungswege fördern und agierte im Gesamten gemäß der „pädagogischen Eindringlichkeit“ des Bauhauses zur Durchsetzung moderner Gestaltung. 40 Genau dies sagen die analysierten Fotografien aus. Am Ende soll nicht nur die ‚beherrschende‘ Eigenschaft die- ses Lehrdispositivs stehen bleiben, sondern der Hinweis dar- auf, dass die Lernumgebung des Entwurfsateliers einschließ- lich der beschriebenen Selbst- und Projektdarstellungen sowie Korrekturen und Konsultationen immer wieder auf deren Bildungspotentiale hin erforscht werden. 41 So ist mit dem „Studio-Teaching“-Modell beispielsweise das „think architec- turally“ 42 gewürdigt, von dem andere Ausbildungsgänge und Fächer nur lernen könnten – ein Bildungsmittel, das aufgrund der gleichermaßen vonstattengehenden Vorgänge von Recherche und Analyse, von Kreation und Selbstevaluation, als ‚reflexives Praktikum‘ 43 par excellence zu bezeichnen ist. 39 Winkler 2003 (Anm. 8), S. 162. Models of Design in Studio Teaching. In: Journal of Architectural Education 38 (1985), 40 Ebd., S. 138. H. 2, S. 2–8. Das Studio Teaching wird als 41 Vgl. Analyse des sogenannten Studio- paradigmatisches Lernmodell der Architektur Modells im Unterricht an Architekturschulen angesehen, von dem auch andere Disziplinen und die relative Einzigartigkeit der Situation profitieren könnten, vgl. Casakin, Davidovitch bei Robert M. Arens, Joseph P. Hanus, 2013 (Anm. 1), S. 863 u. 865. Edmond Saliklis: Teaching Architects and Engineers: Up and Down the Taxonomy. In: 42 Arens, Hanus, Saliklis 2009 (Anm. 41), o. S. Proceedings of the ASEE Annual Conference & Exposition, Austin 2009. URL: http://works. 43 Ebd., unter Verweis auf Donald A. Schön: bepress.com/esalikli/10/ (11. August 2017), o. S. Educating the Reflective Practitioner. Toward a Dort auch Bezugnahme auf das „Studio-Tea- New Design for Teaching and Learning in The ching“ unter Hinweisen auf: Stefani Ledewitz: Professions. San Francisco 1987. 43 DISPOSITIVE DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT 44 ERIC GARBERSON ERIC GARBERSON Wilhelm Stier’s "Entwerfung der Gebäude" and the Capstone Design Studio in Berlin in the Early 19th Century From 1828 to 1831 the architect Wilhelm Stier (1799–1856) taught a course at the Bauakademie in Berlin titled “Entwerfung der Gebäude”. Textual documentation shows how Stier conceived this as a form of capstone design studio in which students learned to apply previously acquired skills and knowledge. He initially fol- lowed an established format combining exercises with typologi- cal and historical lectures, but soon moved the historical material into a separate course. The free-standing exercises were the first implementation of an independent design studio envisioned by Karl Friedrich Schinkel in 1822. In April 1828 the architect Wilhelm Stier (1799–1856) (Fig.  1) began his career at the Bauakademie in Berlin with a course titled “Entwerfung der Gebäude”. It was a form of capstone studio, com- bining lectures with instructor-guided design exercises in which students applied the skills and knowledge gained in their pre- vious courses. Borrowed from architecture, the term ‘capstone’ (‘Mauerkrone’) designates a final course or project in which stu- dents synthesize and apply what they have learned in a program of study. ‘Studio’ refers to a course primarily devoted to individual or group creative work with regular guidance and critique from the instructor rather than lecture or discussion. Although noth- ing like either term appears in the primary source documents, 45 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT Fig. 1: Wilhelm Stier in Selinunte, 1823, lithograph. Photo: Universitäts- und Stadtbibliothek, Köln. Inv. Nr. K5/120 there was great interest at the time in creating design courses with the same pedagogical goals as a ‘capstone studio’. There is no equivalent in current German usage, but ‘abschließender Entwurfskurs’ is a good approximation. Extensive textual documentation shows how Stier designed and 46 ERIC GARBERSON implemented the exercises in his course; how he connected them to the lectures, which were both typological and historical; and why he soon moved the historical material to a separate course. Although he only taught it until 1831, Stier’s “Entwerfung” consti- tutes a pivotal moment in the history of architectural training in Berlin. It returned design exercises to the official curriculum after a long absence, and it initially followed the established format that combined them with lectures on building types. In its even- tual separation from most of the lectures and its thorough con- ception as a capstone it implemented the independent design studio envisioned by Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) in 1822. In the following discussion emphasis falls on the capstone design studio as a particular type of course rather than on the specific design principles taught or the underlying conception of design and its relation to graphic realization. 1 The title of Stier’s course uses the slightly unusual form ‘Entwerfung’, but this was synonymous with the more usual ‘Entwerfen’. In administrative documents and Stier’s correspond- ence the terms ‘Erfindung’ and ‘Erfinden’ were often used instead; ‘Entwurf’ and ‘Erfindung’ were also interchangeable. A third syn- onym was ‘Projectiren’. This was distinct from ‘Projection’, which referred to the graphic rendering of three-dimensional forms on a two-dimensional surface. The three synonymous terms can be translated as ‘design’, ‘invention’ and ‘project’ or ‘plan’ respec- tively. While each can have a wide range of its own meanings, when applied to capstone design exercises they all refer to the independent development of an original design for a new, albeit hypothetical building. Whatever the underlying design princi- ples followed or design process employed, the design would be realized in a sequence of drawings including all or some of these standard elements: plans, elevations, views, sections, and details. Depending on the size of the project, these could be 1 I build on a foundational study by Christi- Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsfor- ane Salge: Ästhetik versus Wissenschaft. Die schung der Architektur. München 2013, pp. Entwurfsausbildung an der Bauakademie in 385–414. Salge’s sorting out of the conceptual Berlin um 1800. In: Sabine Ammon, Eva Maria issues was essential in formulating this focus. Froschauer (ed.): Wissenschaft Entwerfen. 47 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT rendered on one or several sheets. Preparation of such drawings was a core architectural competency and an essential element of professional practice. They provided the basis for administrative review and execution, and they functioned as impressive objects for presentation to patrons and submission to competitions. Capstone Design Exercises in Berlin before Stier The Bauakademie was founded in 1799 as a semi-inde- pendent section of the existing Akademie der Künste (AdK), administered jointly with the Oberbaudepartment, later the Oberbaudeputation. 2 It had a fixed curriculum of 21 annually repeating courses, which students could take in any order. As art historian Christiane Salge has shown, there was no uni- form theory of design (‘Entwurfslehre’) among the instructors, nor was there a course specifically dedicated to design exer- cises (‘Entwerfen’). Such exercises were, however, included in “Stadtbaukunst” taught by Heinrich Gentz (1766–1811). 3 In its first semester the course provided an introduction to Vitruvian and classical design principles and to the history and proper appli- cation of the classical orders, the latter through both lecture and exercises in drawing. In the second semester Gentz delivered illustrated lectures on the planning of the most important types of civic buildings and provided instruction and practical exercises in design and estimating the cost and materials for such buildings. 4 Gentz saw these design exercises as promoting the independent application of previously acquired skills and knowledge. In 1807 2 Eduard Dobbert: Bauakademie, Gewer- 3 Salge 2013 (note 1), pp. 395, 402–404. beakademie und Technische Hochschule bis 1884. Historische Skizze. In: Chronik der 4 Ibid., pp. 403f. Deklaration des Publikandi Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin, vom sechsten July 1799 wegen der vorläufi- 1799–1899. Berlin 1899, pp. 11–116, here 19–32; gen Einrichtung der von seiner Königlichen Michael Bollé: Akademien und Kunstschulen Majestät unter dem Nahmen einer Königlichen im deutschsprachigen Raum. In: Ralf Johannes Bau-Akademie zu Berlin gestifteten allgemei- (ed.): Entwerfen. Architektenausbildung in Eu- nen Bau-Unterrichts-Anstalt. Berlin 1803, pp. ropa von Vitruv bis Mitte des 20. Jahrhunderts: 4f. In: Berlin Archiv der Akademie der Künste Geschichte, Theorie, Praxis. Hamburg 2009, pp. (AAdK), PrAdK 0004. URL: https://archiv.adk. 450–480, here pp. 454–462. de/objekt/2307607 (28 July 2017). 48 ERIC GARBERSON he complained to a friend that when his students had to make their own designs (‘selbst projectiren sollten’), they had no con- trol over their own ideas because they lacked the necessary foun- dational knowledge. 5 In comments submitted during the planning for the new Bauakademie in 1798, Gentz stated that independent design exercises should be a part of the curriculum. Learning to draw well and assembling a portfolio of good models alone would not develop the aesthetic sense of young architects. Instructors could direct them to the beauty of the models they presented, but only through exercises and independent designs could students learn to select aspects from those models for their own use. 6 After Gentz’s death in 1811, “Stadtbaukunst” was assigned to another instructor, Martin Friedrich Rabe (1765–1856). The offi- cial course titles show that he covered most of the same material, but without the design exercises in the second semester. Rabe also took over Gentz’s “Konstruction”. 7 In 1809/10 the Bauakademie was fully absorbed into the Akademie der Künste (AdK), and the Oberbaudeputation ceased to have a direct role in its administration. In 1817 plans began to circulate for the creation of an independent institution to improve the training of architects and building officials. In 1818 discus- sions began in earnest between the heads of two newly created ministries responsible for the AdK and the Oberbaudeputation respectively: Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein, known as Altenstein, at the Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (Kultusministerium) and Hans von Bülow at the Ministerium für Handel und Gewerbe. 8 Negotiation dragged on for five years, as Altenstein considered larger plans for reforming the AdK and argued with von Bülow about 5 Quoted in Bollé 2009 (note 2), p. 464. 8 In the current literature examination of this process is still largely based on the account in 6 Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Dobbert 1899 (note 2), pp. 40–45. The discussi- Kulturbesitz (GStA PK) I. HA, Rep 76 alt, Abt. on here draws on an examination of the docu- III, Nr. 40, fol. 79r–v; quoted in Salge 2013 ments in Eric Garberson: Architectural History (note 1), pp. 387, 404. in the Architecture Academy: Wilhelm Stier. In: Journal of Art Historiography, in review. 7 AAdK, PrAdK 0008. URL: https://archiv.adk. de/objekt/2307374 (28 July 2017). 49 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT finances. Finally on 31 December 1823 King Friedrich Wilhelm III approved the ministers’ plan to divide architectural training. ‘Higher’ or ‘aesthetic’ architecture would remain at the AdK, while technical training for building officials and engineers would move to an independent Bauakademie overseen and financed by the Handelsministerium. 9 In the voluminous documentation for these seven years of bureaucratic wrangling design exercises appear in proposed cur- ricula with little direct discussion. In the initial plan for an inde- pendent technical school by the mathematician Johann Georg Tralles (1763–1822), capstone exercises (with cost estimates) were included in two courses in the third year of a sequential cur- riculum. In “Baulehre” these were simple drawings of construc- tion techniques; in “Lehre von den Gebäuden”, which covered all public and private building types, these were primarily ground plans, with perspective views of more complex buildings and large interior spaces. 10 An entire course was dedicated to capstone design exercises in the curriculum that Schinkel devised for the AdK in January 1822 to aid Altenstein in his negotiations with von Bülow. 11 Schinkel’s curriculum arranged 14 courses in nine divisions distributed over three years and employing three modes of instruction in various combinations: demonstration on the blackboard, drawing exer- cises, and lectures. By drawing students both developed skills and acquired knowledge (“Kenntnisnahme durch Zeichnung”). Year One: Drawing Foundation 1. Geometric and stereometric projection with reference to stone-cutting; demonstration 2. Orders after Vitruvius and the monuments; demonstration plus exercises in rendering whole buildings and “Schönzeichnen” 3. Perspective drawing (“Projection”); exercises in drawing ancient monuments 9 GStA PK I. HA Rep 89, Nr. 20399, fol. 1–5; I. 10 GStA PK I. HA, Rep 76 Ve, Sekt. 17, Tit. I, HA, Rep 76 Ve, Sekt 17, Tit. I, Nr. 3, Bd. 2, Nr. 3, Bd. 1, fol. 13r–13v. fol. 27. 11 Ibid, fol. 195–205. 50 ERIC GARBERSON Year Two: Advanced Courses 4. General theory a. History of construction since antiquity; lecture b. Construction methods and mathematical calculations; demonstration c. Construction machines; demonstration 5. General history a. Buildings according to their functions since antiquity; lecture b. Survey of building types; demonstration 6. Decoration in sculpture and painting a. Sculpture with emphasis on the human form; drawing exercises b. Modelling, relative to the previous; drawing exercises c. Painting; drawing exercises to include color 7. Style in architecture with the history of related arts; lecture Year Three: Capstones 8. Design studio 9. Practicum at construction sites Schinkel’s description of the design studio shows its function as a capstone: “Übung im Entwerfen von Bauplänen nach gege- benen Bedingungen, wodurch erst alle die in den 7 vorherge- henden Abtheilungen des Unterrichts verlangten Kenntniße und Fertigkeiten ein Eigenthum des Künstlers werden und ihm zu einem Künstler machen. Nach ausgegebenem Programm werden die Aufgaben unter Aufsicht der Lehrer bearbeitet”. 12 These exer- cises would prepare students for a regular cycle of prize compe- titions modelled directly on those at the École des Beaux-Arts in Paris. 13 At this stage, Schinkel proposed that the design studio 12 GStA PK I. HA, Rep 76 Ve, Sekt. 17, Tit. I, 13 Under carefully controlled conditions Nr. 3, Bd. 1, fol. 198v. competitors produced an initial concept in re- sponse to a specific program, which they then developed into a comprehensive design. Jörn Garleff: ‘Die École polytechnique und die École des Beaux-Arts in Paris’. In: Johannes 2009 (note 2), pp. 413–415. 51 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT be overseen jointly by members of the academy’s senate. Commenting on the plan to Altenstein, the director of the AdK, Johann Gottfried Schadow (1764–1850), noted that the design studio was not currently part of the academy’s curriculum. Instead it was taught by Rabe in his home for a few select stu- dents. 14 In a budget submitted to Altenstein in July 1823, Schinkel indicated that the two capstones would entail no cost; Rabe would oversee the first with help from members of the academic senate, who would be responsible for the second. 15 In early 1824 the two academies worked quickly to hire instruc- tors and implement the approved curricula. The process at the Bauakademie was quite straightforward and carried out by its director, Albert Eytelwein (1764–1849). In the final curriculum Rabe continued his previous courses: “Konstruction” every sum- mer semester and “Stadtbaukunst” every winter. The latter was to include exercises in design and cost estimates. 16 The situation at the AdK was somewhat more complicated. The approved curriculum reduced Schinkel’s extravagant plan to eleven classes by omitting the first drawing course and both capstones. The final curriculum reduced this even further to just four courses: “Stadtbaukunst” taught by Rabe, and three drawing courses covering the orders and perspective, the human form, and ornament. 17 Minutes from a meeting between Schinkel and Schadow show that they intended Rabe’s course at the AdK to be a two-semester survey of building types titled “Unterricht in der Lehre von den Gebäuden”, which he had previously taught as “Stadtbaukunst”. 18 They expected it to include capstone design exercises. As a whole, the curriculum would prepare students for the prize competitions, for which Schinkel had now prepared a detailed plan. He described the competitions themselves as a second, more advanced capstone. Architects about to enter state 14 GStA PK I. HA, Rep 76 Ve, Sekt. 17, Tit. I, Berlin, 1824. In: GStA PK I. HA, Rep 93B, Nr. 31, Nr. 3, Bd. 1, fol. 207. fol. 69. 15 Ibid, Bd. 2, fol. 5–7. 17 AAdK, PrAdK 0008, fol. 79. 16 Dobbert (note 2), p. 43. Nachricht, die Ein- 18 GStA PK I. HA, Rep 76 Ve, Sekt. 17, Tit. I, richtung und den gesammten Unterricht auf der Nr. 3, Bd. 2, fol. 62f., 64–71, 78–84 (Altenstein’s Königl. Bau-Akademie zu Berlin betreffend, approval); Schinkel’s plan also in AAdK, PrAdK 0004, fol. 97–104. 52 ERIC GARBERSON service should possess the ability to employ the full scope of their knowledge and skills with freedom, facility, and proper judg- ment. Only practical design exercises carried out in competition with equally ambitious peers and subject to public critique could develop this ability. 19 The change back to the title “Stadtbaukunst” for Rabe’s course soon led to a tedious but informative bureaucratic exchange. In March 1825 the Kultusministerium ordered the AdK to remove “Stadtbaukunst” from its courses for the upcoming summer semester, as it had only been approved for the Bauakademie. 20 Rabe responded that he was actually teaching two different courses. At the Bauakademie he simply surveyed a wide range of both utilitarian and higher buildings. At the AdK he taught the higher building types through the best ancient and mod- ern examples. Given its importance, this course should be expanded to include practical exercises in the design of build- ings. He had long offered such exercises privately in his home, but he no longer did so. These exercises would also be useful at the Bauakademie, and he had had many conversations with Eytelwein about offering them there. 21 Forwarding Rabe’s expla- nation, Schadow reminded the ministry that in the approved curriculum devised by Schinkel, Rabe’s course prepared stu- dents for the competitions, which constituted the “Schlußstein des Ganzen”. The course was to include practical exercises in which students would sketch buildings lightly but clearly in ele- vation and plan according to specific assignments and under the instructor’s direction. Schadow found it difficult to offer these exercises at the AdK, due to limited space and Rabe’s often negligent behavior. 22 19 AAdK, PrAdK 004, fol. 97v–98r. For the 21 GStA PK I. HA, Rep 76 Ve, Sekt. 17, Tit. VIII, slow and contested implementation of the Nr. 1, Bd. 1, fol. 8f. competitions in 1831 see Hendrik Bärnighau- sen: Carl Scheppig (1803–1885). Ein Schin- 22 Ibid, fol. 6f. Although he used a different ar- kel-Schüler in Berlin, Rom und Sondershausen. chitectural metaphor (‘keystone’), Schadow, like Sondershausen, Dresden 2011, pp. 56–63. Schinkel, saw the competition as the ‘capstone’ to the entire curriculum. 20 GStA PK I. HA, Rep 76 Ve, Sekt. 17, Tit. VIII, Nr. 1, Bd. 1, fol. 4f; AAdK PrAdK 0189, fol. 2. URL: https://archiv.adk.de/objekt/2307549 (27 July 2017). 53 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT After consulting with Schinkel, the ministry imposed a new title: “Lehre von den Gebäuden alter und neuer Zeit durch Entwicklung und Darstellung ihrer Construction”. This confirms that the course corresponded to those numbered 4b and 5b in Schinkel’s initial curriculum. Rabe was also instructed to include the design exercises described by Schadow. 23 Whether Rabe complied is unknown but unlikely, and in any case he did not teach the course every semester due to low enrollments. 24 Compensating for gaps in the curriculum at the Bauakademie was one of the goals of the Architektenverein at its founding in 1824. Its members taught drawing and other courses and led communal design sessions (“gemeinsames Entwerfen”). In 1827 the Verein began holding monthly design competitions like those envisioned by Schinkel. In response to programs set by the director, members submitted original designs for a wide range of buildings, usually on a single sheet with various combinations of plan, section, elevation or perspective view, and sometimes details. The best received a prize. 25 Such, then, was the situation when Stier began teaching his “Entwerfung der Gebäude” in April 1828. The following biographical sketch shows the training and experience that he brought to the course. 26 Wilhelm Stier Stier received his initial training at the Bauakademie in 1816/17. After passing the state surveyor’s exam in October 1817, he embarked on several years of employment and travel. He worked as a building site supervisor (‘Bauconducteur’) in Düsseldorf, Cologne, and Bonn, until August 1821. After four months in Paris, 23 Ibid, fol. 10, 12. 26 This is based on a detailed examination of Stier’s Nachlaß in the Architekturmuse- 24 Ibid, fol. 26f., 32, 35f., 37f. um, Technische Universität Berlin (AmTU), and other documents in Garberson (note 8). 25 Eva Börsch-Supan: Berliner Baukunst See also Börsch-Supan 1970 (note 25), pp. nach Schinkel, 1840–1870. München 1970, pp. 683–689; and Wilhelm Lübke: Wilhelm Stier. 718–796; James Hobrecht: Architekten-Ver- Nekrolog. In: Deutsches Kunstblatt 7 (1856), ein zu Berlin. Schinkelfest am 13. März 1874. pp. 371–374; cited here from the reprint in In: Zeitschrift für Bauwesen 24 (1874), col. Zeitschrift für Bauwesen 7 (1857), col. 85–94. 407–424, here col. 412. 54 ERIC GARBERSON including five weeks in the atelier of the architect Jean-François Joseph Lecointe (1783–1858), he went to Rome, where he stayed until September 1827. He was an active member in the large community of German artists and architects in the city, where his closest friends included the painters Julius Schnorr von Carolsfeld (1794–1872) and Ludwig von Maydell (1795–1846). To supplement his savings Stier worked for others, most notably the architect Jakob Ignaz Hittorff (1792–1867). 27 In 1824 the diplomat and historian Christian Carl Josias Bunsen (1791–1860) hired Stier as a contributor to the multi-volume Beschreibung der Stadt Rom. 28 Through Bunsen, Stier met Schinkel when he came to Rome in October 1824. With Schinkel’s support, Stier received a stipend from the Kultusministerium for two more years in Italy to prepare him to teach ‘higher’ architec- ture at the AdK. Stier was to submit a study plan to Schinkel for the first six months; a report of work done (with study drawings) and a new plan were to follow every six months thereafter. 29 Stier stopped submitting material after the first year as he dis- tanced himself from Schinkel, whose approach to architecture he had come to reject as superficial and misguided in its (supposed) rejection of the Middle Ages in favor of a stricter classicism. 30 Stier had also turned his attention to the design of a monumental Protestant church; to culminate in a full set of presentation draw- ings, this would, he hoped, demonstrate his abilities and all that he had learned in Italy. 31 In August 1827 Stier sent Schinkel an obsequious letter apologiz- ing for his long silence. So that Schinkel might judge his qualifica- tions and help him secure a teaching position, he included three enclosures: a set of disjointed theses setting forth his conception 27 AmTU II.M.54, letters from Paris and Rome; 30 AmTU II.M.54, Mappe B, Stier to Wilhelm II.M.59, fragments of an autobiography. Stier, 20 February 1827. Partially quoted in Börsch-Supan 1970 (note 25), p. 65. 28 Ernst Platner, Carl Bunsen, Eduard Gerhard u. a.: Beschreibung der Stadt Rom. 31 Frank Foerster: Christian Carl Josias Bun- Stuttgart, Tübingen 1829–1842. sen. Diplomat, Mäzen und Vordenker in Wis- senschaft, Kirche und Politik. Bad Arolsen 2001, 29 AmTU II.M.67, Mappe B, Altenstein to Stier, pp. 99–103; Kathleen Curran: The Romanesque 2 January 1825. Revival: Religion, Politics, Transnational Exch- ange. University Park 2003, pp. 105–110. 55 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT of architecture, an explanation of the still unfinished church design, and his views on the proper purpose and organization of an architecture school. 32 The third was the longest and most detailed, with an ideal curriculum that suggests knowledge of Schinkel’s plan of 1822 for the AdK. Architectural training would have been a topic of conversation when the two met in October 1824; in 1827 it was the one area where Stier knew they were still in agreement. 33 Schinkel probably had no time to respond, as Stier soon left for Berlin with Bunsen, arriving there in October. Stier’s "Entwerfung der Gebäude" The idea to appoint Stier to teach capstone design exercises as a separate course probably arose from a conversation between Schinkel and Eytelwein, director of the Bauakademie. On 12 No- vember 1827 the crown prince, the future Friedrich Wilhelm IV, wrote to Friedrich von Schuckmann, the minister now respon- sible for the Bauakademie, to recommend that Stier be hired to teach “Projectiren und Zeichnen”. 34 On 15 November Schinkel informed Stier that the crown prince had acted in response to a request from Eytelwein, which Schinkel had communicated to the prince in person. Schinkel advised Stier to pay a call on Eytelwein immediately. 35 On 24 January 1828, after much negotiation, Stier accepted a one-year provisional appointment. To be considered for a permanent position, he would need to demonstrate success in teaching and pass the state architect’s exam. 36 Stier began teaching at the Bauakademie in April 1828 with a course titled “Entwerfung der Gebäude und perspektivische Uebungen”. In the summer semester it met four days per week 32 Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin 34 GStA PK I. HA, Rep 76 Vb, Sekt. 4, Tit. III, Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Schinkel Nr. 11, Bd. 1, fol. 125. The Handelsministerium 6.49 (Mappe 172), Stier, Wilhelm. Full transcrip- was dissolved after von Bülow’s death in 1825 tion in Lionel von Donop: Erinnerung an and the Bauakademie transferred to the interior Wilhelm Stier. In: Zeitschrift für Bauwesen 39 ministry. (1889), col. 73–84, 215–230. 35 AmTU II.M.67, Mappe A, Schinkel to Stier, 33 AmTU II.M.54, Mappe B, Stier to Wilhelm 15 November 1827. Stier, 20 February 1827. 36 GStA PK I. HA, Rep 76 Vb, Sekt. 4, Tit. III, Nr. 11, Bd. 1, fol. 126, 130f., 132, 133f., 136. 56 ERIC GARBERSON for three hours, in the winter four days per week for 2 hours. 37 The need to provide the exercises that Rabe omitted from his “Stadtbaukunst” probably outweighed the fact that Stier’s sti- pend had been financed by the Kultusministerium to prepare him for the AdK. By including perspective Stier’s course filled another gap at the Bauakademie, which had no individual course for it. On the first day of the semester, Stier delivered a three-part lec- ture in which he defined the pedagogical purpose of his course and the means he planned to employ. 38 (Fig.  2) He began by advising his students that without a clear, well-ordered under- standing of basic principles and concepts, it was not possible to produce good independent work or to defend that work against criticism. Such clarity was especially important for beginning artists, because it kept them from becoming confused and wast- ing time with errors and misguided efforts. He allowed himself a digression on the current poor state of all the arts and the press- ing need for extended theoretical and historical investigation, but quickly put that aside as an impediment to his main purpose. While theories and explanations were somewhat necessary at the start of practice, they only became truly understandable through living enterprise (“in dem lebendigen Betrieb”). 39 Stier then introduced fundamental principles in the form of 20 theses on the nature and essence of architecture and its rela- tion to history. 40 Distilled from Stier’s convoluted, antiquated German, these fall into four clear groups. Theses one to nine posit that every design must be a unified whole, in which plan, masses, and details freely arise from and satisfy the function and purpose of the building and its individual parts. Actual con- struction must be truthfully expressed throughout, and no arbi- trary proportions or set repertoire of forms may be prescribed. Thesis ten asserts that every building must be brought forth 37 Ibid, fol. 140; I. HA, Rep 93B, Nr. 31, fol. 179. 40 Ibid, pp. 10–22. These are a slight revision of the first enclosure sent to Schinkel from 38 AmTU II.M.64, Rede bei Eröffnung der Vor- Rome, in von Donop 1889 (note 33), col. 82–84. träge auf der Bauakademie zu Berlin, Ostern Stier’s son, the architect Hubert Stier, later 1828; II.M.91, Aus der Eröffnungsrede meines published a slightly revised version. Hubert Lehr-Amtes: Auffassung des Unterrichts. Stier (ed.): Architektonische Erfindungen von Wilhelm Stier. Berlin 1867, pp. vi–xiii. 39 AmTU II.M.64, Rede, pp. 2–10. 57 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT Fig. 2: Wilhelm Stier, Opening lecture at the Bauakademie 1828, first page. Architektur- museum, Technische Universität zu Berlin, Inv. Nr. II.M.64. Photo: Architekturmuseum 58 ERIC GARBERSON freely and consciously, unconstrained by academic rules, and it must be appropriate to the culture and circumstances of its time and place. Theses eleven to 19 state that architectural style must arise directly from the interplay of immediate function and his- torical conditions. Borrowings from the past must be fully assim- ilated and freely chosen from among all suitable options; no sin- gle style or school may be imposed as a norm. Thesis 20 finds architecture of the present to be highly mediocre when judged on these criteria. In a short second section Stier described how the course func- tioned as a bridge between theoretical studies and practical life, and why special exercises in the practical application of theory were necessary. The first time we attempt a new application in a specific instance, everything we have learned appears before us like a monstrous tangle; over time, the things we do not use often recede into the depths of memory. In the design of buildings, it is not just advantageous but also necessary to identify as quickly as possible the exact theory we need and to reactivate our under- standing of it. Because not all students had completed their theo- retical studies, his lectures would provide essential foundation for the less prepared and necessary review for the more advanced. Most had not yet studied perspective, so he would provide a brief introduction to its basic theories. 41 The long final section set forth a detailed plan for distributing an immense amount of material over two semesters. The primary organization was typological and moved from the simplest to the most complex building types, and thus from the easiest to the most difficult design problems. This progression served the peda- gogical goals outlined in the previous section, especially the need to accommodate less prepared students, but it was also effective in other ways. The simpler types in the first or summer semester would cover fundamentals, including the appropriate distribu- tion of the plan, construction methods, architectural forms and 41 AmTU II.M.91, Aus der Eröffnungsrede, pp. 1–8. 59 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT details; the more complex types in the winter could then be stud- ied as complex wholes. Summer, with its longer days, would be devoted primarily to drawing exercises, winter to longer lectures on complex types. The theory and practice of perspective would fall primarily in the summer. 42 Every week or two Stier planned to distribute a new group of written programs for buildings of one or several related types. To introduce each group, he would present a survey of existing buildings from periods where the type or types were common and which he considered most instructive for the present. The lecture would situate the buildings in their historical context and criti- cally evaluate their plan, construction, and architectural forms; it would then demonstrate what the present could learn from them, relating this briefly to the current needs and requirements of each type. In this way, the course could cover the relevant building styles and art periods in manageable sections related directly to the immediate needs of practice. 43 It was not necessary to cover the entire history of art and architecture, as in the available archaeological and purely historical studies, which served other purposes and obscured the things of most interest to practicing architects, namely construction and architectural forms. 44 Stier listed the building types to be covered each semester and the historical examples selected for them. In the summer the types fell into two groups arranged in ascending order of com- plexity. Country buildings: simple dwellings for farmers and work- ers, barns and sheds, larger houses for tenant farmers and gov- ernment officials, various sorts of manor houses, and finally brick and other kilns. City buildings: houses of various sizes for the mid- dle class, merchants, and the wealthy; small utilitarian buildings; city halls and schools; warehouses, market halls, and slaughter houses; and city gates. The best examples for these types would be drawn from antiquity, the Italian Renaissance, modern France, and the work of Schinkel and Friedrich Weinbrenner (1766–1826). 42 Ibid, pp. 9, 11, 15. 44 Ibid, pp. 5f. 43 Ibid, pp. 12, 13–15. 60 ERIC GARBERSON The sequence of city buildings continued in the winter: facto- ries, prisons, and hospitals; government and cultural buildings; churches; theaters and dance halls; public monuments and fountains; gardens and garden buildings, and the palaces of princes. Ancient Rome and modern France would provide models for the large-scale secular buildings, while church architecture would require a comprehensive survey of styles from the ancient world through the middle ages and the style current in Europe since the middle of the 16th century. 45 The programs in each group would vary in extent and difficulty, and students would be allowed to choose according to their indi- vidual inclination and level of preparation. Stier promised to make the programs as specific and detailed as possible, like those in actual practice, and to include the most common requirements for each type. Exact programs called upon the students’ inge- nuity more fully than vague or general programs, which always led to harmful play with mere form and fanciful ideas. The pro- grams would also provide opportunities for practice in various construction systems, supported by appropriate discussion in the lectures. 46 As the students worked on their designs, Stier would confer with each individually. He promised not to impose his own artistic views and to offer only practical, well-founded advice. He would call attention to particularly difficult aspects of the design and ask students to provide detailed explanations of their solutions to those problems. 47 Stier presented the course as joint effort undertaken with his students. He concluded by asking them to see him as a friend committed to aiding them in their artistic pur- suits through word and deed and who would be at their service even outside class time. 48 This detailed plan shows that Stier’s “Entwerfung der Gebäude” represents a transitional moment in the history of design training in Berlin. Its overall learning objective was essentially the same as the one Schinkel stated for the independent capstone studio 45 Ibid, pp. 8–11, 15–17. 47 Ibid, pp. 7, 18. 46 Ibid, pp. 12f., 17f. 48 Ibid, p. 22. 61 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT in his curriculum of 1822 for the AdK: to guide students in the practical application of all they had learned in preparation for independent creative work. However, it retained the same lec- ture-plus-exercise format established by Gentz’s “Stadbaukunst” and prescribed for Rabe’s ill-fated capstone courses at both academies. In this it also corresponded to the capstone in the ideal curriculum Stier sent to Schinkel from Rome. This com- bined exercises with lectures on individual types and discussion of instructive historical examples. It followed and built upon two history courses: a theoretical introduction to the historical study of the arts and a survey of existing works in their historical con- texts. 49 This again recalls Schinkel’s curriculum for the AdK, which included a history course right before the capstone studio (7: style in architecture and the history of related arts), separate from the standard histories of construction and building types (4a and 5a). Although Stier followed an established format, he was attempting to do something new within that format. Where Gentz and Rabe devoted the entire first semester to establishing a foundation in Vitruvius and the classical orders, Stier spent just a few minutes in his opening lecture to present foundational prin- ciples. While this allowed him to distribute design exercises over both semesters, it meant that his introductions to the individual types had to be more extensive, covering not just the require- ments of the types but also historical context for the instructive examples. Because the examples now came from many differ- ent periods, the amount of historical information to be presented increased significantly. As Stier stated in a letter to a friend just before the start of the semester, he was not fully prepared to teach his course and had a great deal to learn himself. To prepare concise and engaging lectures he would need to draw relevant information from a very small body of existing scholarship, most of which was inade- quate and written for other purposes. Thus in its first year or two, the course would only present the roughest outline of the whole. 49 von Donop 1889 (note 33), col. 225–228. 62 ERIC GARBERSON In addition, he anticipated many months of endless mechanical work to prepare folio drawings illustrating almost the whole his- tory of architecture. The Bauakademie could provide none, and the available publications were either too expensive, incompre- hensible, or did not have illustrations in an appropriate format or scale. This letter also reiterates Stier’s belief, as expressed in the letter to Schinkel, that the understanding of any building required deep knowledge of its historical context, and it suggests that he planned to incorporate material from the two history courses in the ideal curriculum into his “Entwerfung”. 50 Already by the start of the second semester Stier recognized the need to move the historical material into a separate course. As he told his friend Schnorr, his students, like most people, had lit- tle knowledge or even awareness of the great works of the past, and this prevented them from making or even wanting to make good work of their own. To address this problem, he had decided to devote himself entirely to increasing general knowledge and understanding of the extant works of architecture, definitively abandoning his pursuit of a practical career. He envisioned an ambitious program of original research and publication, includ- ing extensive travel, but his immediate project was a three-se- mester survey of architectural history at the Bauakademie. In the first semester he would cover the monuments of the ancient world, in the second those from the 15th century to the present (because of their connection to antiquity), in the third monuments in the Arabian, Byzantine, and pointed-arch styles plus those in Italy from the 5th to the 14th century. 51 He began working toward this goal immediately, although he was not able to realize it until the 1830s. Stier soon moved the historical lectures into a second course with the title “Studien über Monumente der Baukunst”. In win- ter 1829/30 and summer 1830 it met at exactly the same time as the first course, now titled simply “Architektonische Entwürfe”. 50 AmTU II.54, Mappe B, fragment of a letter to an unnamed friend, February or March 1828, pp. 3–6. 63 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT In winter semester 1830/31 and summer semester 1831 the histor- ical lectures met Monday, Wednesday and Friday for two hours, with the now separate design studio meeting just on Friday for two hours. 52 Lectures on the Greek orders provided the basis for the first iteration of the monuments course, expanded to include ancient India and Egypt. 53 For those first lectures Stier had pre- pared about 180 folio drawings of ancient architectural orna- ment. 54 He continued to produce drawings for other periods, but these were probably not as extensive. According to Lübke the initial drawings of Greek ornament were still used in introductory drawing courses at the time of Stier’s death. Most likely damaged by constant use, these have not survived. Drawings in student notes from later iterations of the monuments course were cer- tainly made from them and confirm that Stier had indeed depicted these architectural forms with what Lübke called the “Fleiß eines Botanikers”. 55 (Fig. 3) Stier used drawings not just to illustrate his lectures, but also for communal drawing sessions outside class time. These extended late into the evening and were supervised or at least attended by Stier. Besides the practice of basic drawing skills, these ses- sions served what Schinkel had called “Kenntnisnahme durch Zeichnung”. By drawing selected details at a larger scale the stu- dents gained a clearer understanding of each style and of com- monalities that extended across styles. 56 Closely connected to Stier’s lectures, these also avoided the rote memorization and mindless copying already criticized by earlier teachers like Gentz and Weinbrenner. 57 Stier also took his closest students on excur- sions (“Fußwanderungen”) to study and draw historic buildings 51 AmTU II.M.68, Mappe A, 15 November 54 AmTU II.M.71, Mappe F, draft of cover letter 1828, pp. 3f.; Lübke 1857 (note 26), col. 88–89. for submission to the Oberbaudeputation, June or July 1831, p. 5. Lübke 1857 (note 26), col. 90, 52 GStA PK, I. HA, Rep 93B, Nr. 31, fol. 189, states that these drawings were still used in 195; I. HA, Rep 76 Vb, Sekt. 4, Tit. III, Nr. 11, Bd. introductory drawing classes at the Bauakade- 2, fol. 120f. mie at the time of Stier’s death. 53 AmTU, II.M.74, Mappe 4, extract from a let- 55 Lübke 1857 (note 26), col. 90. ter to Ludwig von Maydell, 1832. II.M.81, Mappe A, Griechische Säulenordnung, Einleitung, 56 AmTU II.67, Mappe A, copy of an undated Ostern 1828–1833, partial lecture text; II.M.81.C, autobiographical fragment, p. 3. Griechische Ionische Säulenordnung, 7 Octo- ber 1829, lecture draft. 57 Salge 2013 (note 1), pp. 386f. 64 ERIC GARBERSON Fig. 3: Unknown student, notes after Wilhelm Stier, „Vorträge über antike Monumente“, summer semester 1834, unpaginated. Photo: Architekturmuseum, Technische Universität zu Berlin, Inv. Nr. II.M.35. Photo: Architekturmuseum 65 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT in cities and towns near Berlin. 58 With both the drawing sessions and excursions Stier attempted to avoid what he recalled as the rigid, overly technical instruction at the old Bauakademie. 59 He also sought to recreate the sense of community and shared ide- als he had experienced with his German friends and among the French architecture students in Rome. Stier’s writing and presentation of the design assignments in class also served these same goals. He explained to Bunsen that his method was very simple but entirely new. In each written pro- gram he set forth his best ideas on how to approach the design problem posed by the stated requirements. Each also included a sample design solution, probably of his own invention. This allowed him to lead the students through each step of the design process, discussing the reasons for each element, from the over- all conception down to the smallest detail. 60 Each program also specified the application of a single historical style in its pure form, for instance the Greek post-and-lintel style. 61 Stier felt he had achieved some success with his exercises, telling Bunsen that inexperienced beginners had learned to produce sound work they would not have dared attempt on their own. 62 Overall, how- ever, he was less than satisfied. In his cover letter for the archi- tect’s exam in 1831, he asked that the examiners not judge him too harshly for submitting just a few, mostly poor examples of stu- dent work. Despite his best efforts, the students were either com- pletely lacking in practical sense or unable to devote themselves fully to a task requiring concentrated thought. Among the over 200 students he had taught since 1828, at most 20 had attempted original inventions and only eight or ten had succeeded. 63 58 AmTU II.M.71, Mappe F, draft of cover letter 61 AmTU II.67, Mappe A, copy of an undated for submission to the Oberbaudeputation, June autobiographical fragment, p. 3. See also Lübke or July 1831, p. 5; Lübke 1857 (note 26), col. 88. 1857 (note 26), col. 89. 59 AmTU II.M.59, Zur Einleitung in die Studien 62 AmTU II.67, Mappe A, copy of a letter to der Denkmaehler der Baukunst, pp. 1–8. Bunsen written in 1834, p. 4. 60 AmTU II.67, Mappe A, copy of a letter to 63 AmTU II.M.71, Mappe F, draft of cover letter Bunsen written in 1833, pp. 3f. for submission to the Oberbaudeputation, June or July 1831, p. 4. 66 ERIC GARBERSON Stier had repeatedly postponed the architect’s exam, citing the large amount of work required to prepare his two classes, until interior minister Schuckmann threatened to fire him. 64 In July 1831 Stier passed an exam that had been modified, on Schuckmann’s instructions, to evaluate his qualifications as a teacher rather than for state service or a professional career. 65 Although Stier was appointed to a permanent position, his “Architektonische Entwürfe” was assigned to another instructor in a major reform of the Bauakademie under the new director Christian Peter Wilhelm Beuth (1781–1853). Design studios after 1832 In 1832 the Bauakademie became the Allgemeine Bauschule with an increased focus on technical and professional training. To improve instruction, two new curricula were established: a two- year curriculum for architects and a more advanced one-year cur- riculum for building superintendants. After a slight revision in 1834, both remained in place until another reform in 1849. In the two-year curriculum Stier taught a two-semester survey of ancient monu- ments and three drawing classes (architectural, free-hand, and ornament). For the one-year curriculum he developed a one-se- mester course covering architecture from the Middle Ages to the present. 66 Only minimal documentation is available for Beuth’s reform, but Stier claimed that he lost the design course because his teaching was seen as likely to produce too many artists and thus inconsistent with the school’s refocused mission. 67 He was quite disappointed to lose a course he had initiated, but he felt that his replacement continued to teach it in much the same way. 68 64 GStA PK I. HA, Rep 76 Vb, Sekt. 4, Tit. III, 67 AmTU II.M.74, Mappe 4, notes for Stier’s Nr. 11, Bd. 1, fol. 161f., 163f., 168; Bd. 2, fol. 31. biography by his wife Karoline; Lübke 1857 (note 26), col. 90. 65 Ibid, Bd. 1, fol. 171; Bd. 2, 61f.; AmTU II.M.67, Mappe A, Zeugnis, 21 October 1831. 68 AmTU II.67, Mappe A, copy of an undated autobiographical fragment, p. 3. 66 Dobbert 1899 (note 2), pp. 46–60, including both curricula. For the two architectural history courses see Garberson, in review (note 8). 67 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT This replacement was Friedrich August Stüler (1800–1865), who taught three courses in the one-year curriculum: “Stadtbaukunst”, “Entwerfen von Stadtgebäuden”, and “Entwerfen von Gebäuden im höheren Stil”. 69 In 1842 Stüler was replaced by Stier’s stu- dent and cousin Gustav (1807–1880). 70 In 1834 exercises in the design of agricultural and rural domestic buildings were added to “Cameralbau” in the two-year curriculum, taught by G. A. Lincke (before 1800–1867). The next year the design exercises became a separate course. After Lincke’s departure from the Bauschule in 1847, Ferdinand von Arnim (1814–1866) taught this design course plus another titled “Projectiren von Gebäuden”. 71 In a proposal submitted for the reform of 1849, Stier noted that these two courses were not sufficient. Because the students were just beginning to work independently, they were only capable of fin- ishing two, three, or at most four designs of modest proportions for country buildings such as a tax collector’s house, a school, a farmhouse, or a village church. 72 The reform of 1849 addressed this concern, among others, by greatly expanding design instruc- tion throughout its two-year foundational curriculum. Design exercises were incorporated into some lecture courses again, and von Arnim taught a four-semester drawing and design studio. The advanced one-year curriculum for architects still had two design studios, one taught by Gustav Stier , the other by Stüler, who was replaced by Heinrich Strack (1805–1880) in 1854. 73 In Beuth’s reform Rabe, along with several others, was not kept on for the Allgemeine Bauschule. 74 At the AdK there was no change in his course until summer 1839, when it was divided into three elements. He continued to offer lectures on building types with “Uebungen im Entwerfen” at the academy, but he now offered 69 Dobbert 1899 (note 2), p. 50; Bollé 2009 71 GStA PK I. HA, Rep 76 Vb, Sekt. 4, Tit. III, (note 2), p. 470. GStA PK I. HA, Rep 76 Vb, Nr. 11, Bd. 3, fol. 35, 62, 102, 112; Bd. 4, 187, 192, Sekt. 4, Tit. III, Nr. 11, Bd. 3, fol. 46. 217f. 70 Dobbert 1899 (note 2), p. 50; GStA PK I. 72 GStA PK I. HA, Rep. 93 B, Nr. 32, fol. 143v. HA, Rep 76 Vb, Sekt. 4, Tit. III, Nr. 11, Bd. 4, fol. 74, 78. 73 Dobbert 1899 (note 2), p. 58; see also Gar- berson, in review (note 8). 74 GStA PK I. HA, Rep 76 Vb, Sekt. 4, Tit. III, Nr. 11, Bd. 2, fol. 6–14, 72f. 68 ERIC GARBERSON lectures on construction and the history of architecture pri- vately. 75 Another course in “Entwerfen der Gebäude” was taught by Heinrich Strack (1805–1880) beginning in winter 1839/40. 76 Conclusion In its transformation into two separate but linked courses, “Architektonische Entwürfe” and “Studien über Monumente der Baukunst”, Stier’s “Entwerfung der Gebäude” represents a piv- otal moment in the history of architectural training. The division dissolved the established combination of design exercises with typological and historical lectures and produced two new kinds of courses, the independent design studio and the chronological survey of architectural history. While Beuth’s reform denied Stier the opportunity to develop the design studio, it allowed him to expand and revise his historical lectures over the next three dec- ades. In doing so he explored new ways to teach the fundamental principles introduced on his very first day as a teacher in 1828. 75 GStA PK I. HA, Rep 76 Ve, Sekt. 17, Tit. VIII, Nr. 1, Bd. 1, fol. 154. 76 Ibid, fol. 159; AAdK PrAdK 0189, fol. 43. 69 WILHELM STIER’S "ENTWERFUNG DER GEBÄUDE" → INHALT 70 ANNA HIPP UND BERNHARD BÖHM ANNA HIPP UND BERNHARD BÖHM Forschung in der Architekturausbildung Sozialwissenschaftliche Methoden in der Entwurfslehre an zwei Architekturschulen in Großbritannien und der Schweiz Bedingt durch Reformen wie Bologna kam es an Universitäten und Fachhochschulen zu einer zunehmenden Forschungsorientierung der bisher berufsorientiert ausgerichteten Architekturausbildung. Mit Ansätzen der Wissenschafts- und Technikforschung unter- sucht dieser Beitrag, wie Forschung im Entwurfsunterricht an zwei Architekturschulen in Großbritannien und der Schweiz durchge- führt wird. Die Studien zeigen, dass es in beiden Fällen sozial- wissenschaftliche Zugänge sind, die als Forschungsmethoden Eingang in die Lehre finden. An diese Ergebnisse anknüpfend stellt der Artikel die Frage nach dem Status des Entwurfs im Rahmen einer zunehmend forschungsbasierten Architekturausbildung. Die Architektur hat sich an Universitäten, Kunsthochschulen und Fachhochschulen als berufspraktisch orientierte Disziplin etabliert. 1 Um als Entwurfsprofessorin oder Entwurfsprofessor an eine Architekturschule berufen zu werden, war es bisher ent- scheidend, sich in der Praxis einen Namen und ein Werk erar- beitet zu haben. Die Studierenden wiederum lernen im Laufe der Architekturausbildung das Handwerkszeug, um nach erfolgrei- chem Abschluss des Studiums in die berufliche Praxis einzu- steigen und beispielsweise eine Stelle in einem Architekturbüro 1 Vgl. Dana Cuff: Architecture. The Story of terkonstellationen im disziplinären Vergleich. Practice. Cambridge MA 1991; Bettina Heintz, Bielefeld 2004; Spiro Kostof: The Architect. Martina Merz, Christina Schumacher (Hg.): Chapters in the history of the profession. New Wissenschaft, die Grenzen schafft. Geschlech- York 1977. 71 FORSCHUNG IN DER ARCHITEKTURAUSBILDUNG → INHALT anzutreten. Seit einigen Jahren wandelt sich jedoch die vor- nehmliche berufsorientierte Architekturausbildung. Der Wandel äußert sich darin, dass an einer zunehmenden Anzahl europä- ischer Architekturschulen Strukturen aufgebaut und Ausbil- dungsprogramme angeboten werden, in denen Forschung in der Architektur eine immer größere Rolle spielt. 2 Eine der Triebkräfte dieser zunehmenden Forschungsorien- tierung in der Architektur sind wissenschaftspolitische Reformen. 3 Im Rahmen der Bologna-Reform wurde beispielsweise das drei- stufige Bachelor-, Master- und Doktoratsstudium innerhalb des gesamten europäischen Hochschulraums umgesetzt. Seitdem stellt sich für die Architekturdepartments an Universitäten und Fachhochschulen verstärkt die Frage nach dem Umgang mit einem per Definition forschungsbasierten Doktorat in Architektur und nach dem Stellenwert von Forschung in der Bachelor- und Masterausbildung. In zahlreichen Masterprogrammen besteht beispielsweise Unklarheit in Bezug auf die Frage, inwieweit ein Masterprogramm in der Architektur auf berufsorientierter Entwurfsausbildung beruhen soll und inwieweit auf akademi- scher Forschung. In Großbritannien wiederum steht das Thema Forschung in der Architektur weniger mit der Umsetzung der Bologna- Reform in Verbindung, sondern mit der Durchführung von Forschungsevaluierungen. So werden neben klassischen For- schungsdisziplinen wie den Natur- und Sozialwissenschaften auch die Architektur in das sogenannte ‚Research Excellence Framework’ (REF) miteinbezogen. Im Rahmen des REF werden 2 Bspw. Sabine Ammon, Eva Maria 3 Vgl. Monika Kurath: Architecture as a Froschauer: Zur Einleitung: Wissenschaft Science. Boundary Work and the Demarca- Entwerfen. Perspektiven einer reflexiven Ent- tion of Design Knowledge from Research. In: wurfsforschung. In: Sabine Ammon, Eva Maria Science & Technology Studies 28 (2015), H. 3, Froschauer (Hg.): Wissenschaft Entwerfen. S. 81–100; Anna Flach, Monika Kurath: Die Ar- Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsfor- chitektur als Forschungsdisziplin. Spannungs- schung der Architektur. München 2011; Priska felder der Akademisierung in der schweizeri- Gisler, Monika Kurath: Architecture, design et schen Architekturausbildung. In: Archithese 2 arts visuels: les transformations des disciplines (2016), S. 73–80. après la Réforme de Bologne. In: Adriana Gor- gas, Jean-Philippe Leresche (Hg.): Transfor- mations des disciplines académiques: entre innovation et résistance. Paris 2015. 72 ANNA HIPP UND BERNHARD BÖHM die britischen Universitäten hinsichtlich ihrer Forschungsleistung evaluiert und je nach Abschneiden bei dieser Evaluation mit mehr oder weniger öffentlichen Mitteln ausgestattet. Da im Jahr 2001 eine große Zahl an Architekturschulen unterdurchschnittlich bewertet wurde, kam es zu einem Aufschrei von Entwurfsprofessorinnen und Entwurfsprofessoren, die den REF-Verantwortlichen vor- warfen, bei der Bewertung zu viel Augenmerk auf Artikel in den sogenannten ‚peer-reviewed journals’ zu legen und zu wenig auf die Entwurfsarbeit einzugehen. Das zentrale Argument in diesem Zusammenhang war, dass an Architekturschulen im Vergleich zu anderen Universitätsdepartments weniger Artikel publiziert wer- den, da eine zentrale Komponente architektonischen Arbeitens das Erstellen von Entwürfen sei. 4 In der Folge erlangte das Thema der Forschung in der Architektur an den britischen Universitäten um die Jahrtausendwende verstärkte Aufmerksamkeit und es kam zu Diskussionen rund um die Frage, inwieweit Forschung bereits Teil der Architekturausbildung sein soll. Vor diesem Hintergrund verstehen wir die zunehmende Forschungsorientierung in der Architektur als ein aktuelles Phänomen, das in einem engen Verhältnis zu wissenschaftspoli- tischen Veränderungen steht. Wenig Beachtung fand im Kontext dieser Entwicklungen bisher die Frage, wie sich diese zuneh- mende Forschungsorientierung auf Architekturschulen und auf die Entwurfslehre auswirkt. Diese Fragestellung verfolgen wir im Folgenden anhand von Materialien aus zwei ethnographi- schen Fallstudien zur Architekturausbildung und zur Forschung in der Architektur. Besonderes Augenmerk legen wir darauf, wie sich Forschung in den untersuchten Schulen institutionalisiert hat und sich im Curriculum der Masterprogramme abbildet, wie Forschung im Entwurfsunterricht praktiziert wird und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede die untersuchten Fälle hin- sichtlich Forschung in der Entwurfslehre ausweisen. Der konzep- tionelle Hintergrund dieses Artikels ist die Wissenschafts- und 4 Vgl. Sebastian Macmillan: Criticising criticisms of research assessment. A caution against special pleading. Architectural Re- search and its enemies. In: Perspective 14 (2010), S. 11–16. 73 FORSCHUNG IN DER ARCHITEKTURAUSBILDUNG → INHALT Technikforschung. Die Erkenntnisse der empirischen Forschung basieren einerseits auf teilnehmender Beobachtung von Lehre in Entwurfsstudios und andererseits auf qualitativen Interviews an je einer Architekturschule in der Schweiz und in Großbritannien. In Bezug auf das Verhältnis von Forschung und Lehre in der Architekturausbildung zeigen die Ergebnisse der beiden Fall- studien sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede auf. Während es in der Schweizer Fallstudie kaum institutionell eta- blierte Strukturen gibt, die Forschung in der Entwurfslehre anleiten können, hat sich an der britischen Architekturschule bereits ein Masterprogramm etabliert, in dem Forschung fester Bestandteil der Entwurfsausbildung ist. Gemeinsamkeiten wei- sen beide Fallstudien auf der Ebene der Praktiken auf, da an bei- den Schulen Forschung über Zugänge sozialwissenschaftlicher Methoden betrieben wird. Theoretischer Hintergrund Der Artikel bezieht sich auf die theoretischen Ansätze der Wissenschafts- und Technikforschung (STS 5), einem interdiszi- plinären Feld, das sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den mannigfaltigen Beziehungen von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft beschäftigt. Insbesondere beziehen wir uns auf solche Ansätze der STS, welche die Produktion von Wissen als kulturelles Phänomen verstehen und beschreiben. 6 In die- ser Tradition stehende Ansätze haben sich beispielsweise anhand ethnographischer Methoden mit der Forschungspraxis in naturwissenschaftlichen Laboren beschäftigt. 7 Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen, dass Labore Orte sind, an denen Ergebnisse durch unterschiedliche Praktiken produziert 5 Aus dem Englischen: Science and Tech- 7 Vgl. Katrin Amelang: Laborstudien. In: nology Studies. Vgl. Sergio Sismondo: An Stefan Beck, Jörg Niewöhner, Estrid Sörensen Introduction to Science and Technology Stu- (Hg.): Science and Technology Studies. Eine dies. Hoboken, Boston, Chichester u. a. 2010. sozialanthropologische Einführung. Bielefeld 2012; Bruno Latour, Steve Woolgar: Laboratory 6 Vgl. Steven Epstein: Culture and Science/ Life. The Construction of Scientific Facts. Technology. Rethinking Knowledge, Power, Princeton, New Jersey 1986 [1979]; Karin Materiality and Nature. In: The ANNALS of Knorr Cetina: Wissenskulturen. Ein Vergleich the American Academy of Political and Social naturwissenschaftlicher Wissensformen. Sciences 619 (2008), S. 165–182. Frankfurt a. M. 2002. 74 ANNA HIPP UND BERNHARD BÖHM werden, etwa durch Klassifizieren und Messen, Verhandeln von Ergebnissen oder Schreiben von Publikationen. Eine verglei- chende Studie der Soziologin und Wissenschaftstheoretikerin Karin Knorr Cetina zu Wissenskulturen in der Molekularbiologie und der Teilchenphysik demonstriert wiederum, dass es sich bei den beiden Bereichen um unterschiedliche ‚epistemische Kulturen’ handelt, die sich hinsichtlich ihrer Wissenspraktiken und untersuchten Objekte, als auch in ihrer sozialen Organisation grundlegend voneinander unterscheiden. 8 Auf diesen STS- Ansätzen aufbauend wurden bereits einige Arbeiten durchge- führt, die sich mit Architektur beschäftigen. Diese lassen sich in zwei Kategorien einteilen: einerseits Studien zur Wissenskultur der Architektur und andererseits Studien zur zunehmenden Forschungsorientierung der Architektur. Studien zur Wissenskultur der Architektur wurden beispiels- weise von Autorinnen und Autoren wie Yaneva, Houdart oder Potthast durchgeführt. 9 Sie beschreiben Praktiken wie Zeichnen, Modellbau oder computerbasiertes Entwerfen als zentrale Be- standteile architektonischer Kultur und zeigen anhand ethno- graphischer Studien, wie Architektinnen und Architekten durch diese Praktiken Wissen über ein noch nicht existierendes Objekt erlangen, sodass dieses Objekt verwirklicht werden kann. 10 Der Soziologe Ignacio Farias geht in seiner Arbeit auf den spezifi- schen Charakter architektonischen Wissens ein und beschreibt es als basierend auf „epistemischer Dissonanz“. 11 Wie Farias anhand seiner ethnographischen Studien der Arbeitspraxis in Architekturbüros in Chile zeigt, werden in der Architektur unterschiedlichste Wissensvorräte zueinander in Beziehung gesetzt, was die Generierung neuer Designalternativen erlaubt. 8 Vgl. Knorr Cetina 2002 (Anm. 7), S. 121, bauen? Das Architekturbüro als Labor der 220f., 329f. Stadt. Berlin 1998, S. 1–80. 9 Vgl. Albena Yaneva: The Making of a 10 Vgl. bspw. Yaneva 2009 (Anm. 9). building. A Pragmatist Approach to Architec- ture. Bern 2009; Sophie Houdart: Copying, 11 Ignacio Farias: Epistemische Dissonanz: Cutting and Pasting Social Spheres: Computer Zur Vervielfältigung von Entwurfsalternativen in Designers Participation in Architectural Project. der Architektur. In: Sabine Ammon, Eva Maria In: Science Studies 21 (2008), H. 1, S. 47–63; Froschauer (Hg.): Wissenschaft Entwerfen. Per- Jörg Potthast: Sollen wir mal ein Hochhaus spektiven einer reflexiven Entwurfsforschung. Basel 2011, S. 77–108. 75 FORSCHUNG IN DER ARCHITEKTURAUSBILDUNG → INHALT Der Organisationsforscher Ewenstein und die Innovations- und Designforscherin Whyte wiederum sehen die Spezifität des architektonischen Wissens in den Entwurfszeichnungen. Sie argumentieren, dass die Architektur ein Bereich sei, der stark gekennzeichnet ist durch visuelles Wissen, das sich in und durch Zeichnungen ausdrückt. 12 Als Sozialwissenschaftlerin und Architektin befasste sich Dana Cuff bereits 1991 mit alltäglichen Arbeitsprozessen in der Architektur, wobei sie darauf hinweist, dass die Ausbildung an Architekturschulen vor allem auf dem Erlernen der Entwurfspraxis basiert. 13 Aufbauenden auf diesen Erkenntnissen und in Anlehnung an Knorr Cetina beschreibt die Sozialwissenschaftlerin Monika Kurath die Architektur als eigen- ständige epistemische Kultur. 14 Diese könne durch folgende Merkmale charakterisiert werden: einen Fokus auf handwerkliche und künstlerische Praktiken sowie die Produktion einzigartiger Artefakte; ein Hochhalten von Idealen von Individualität und nicht reproduzierbarer Originalität; und eine soziale Organisation, die durch eine Rekrutierung professioneller Eliten und die Kritik im Studio strukturiert ist. Neben den hier zitierten Arbeiten zur Wissenskultur der Architektur lassen sich weitere Artikel finden, die sich mit dem zweiten Themenfeld beschäftigen, der Verknüpfung von Wissenschaftspolitik, Architektur und der zunehmenden Forschungsorientierung der Architektur an den Universitäten. So geht Kurath davon aus, dass es sich bei der Architektur um ein Feld handelt, das sich als professionell-berufsbezogene Kultur an Universitäten und Hochschulen etabliert hat. 15 Durch eine zunehmende Ökonomisierung und Standardisierung, die von wissenschaftspolitischen Reformen wie dem Bologna- Prozess vorangetrieben werden, kommt es zu einer verstärk- ten Forschungsorientierung in Disziplinen wie der Architektur, die bisher keine eigene genuine Forschungskultur haben. 12 Vgl. Boris Ewenstein, Jennifer Whyte: 14 Vgl. Kurath 2015 (Anm. 3), S. 8–486; vgl. Beyond Words: Aesthetic Knowledge and Knorr Cetina 2002 (Anm. 7). Knowing in Organizations. Organization Studies 28 (2007), S. 689–708 15 Vgl. Kurath 2015 (Anm. 3). 13 Vgl. Cuff 1991 (Anm. 1). 76 ANNA HIPP UND BERNHARD BÖHM Die Sozialwissenschaftlerinnen Flach und Kurath zeigen, dass es unter den gegenwärtigen Bedingungen einer verstärkten Forschungsorientierung innerhalb des Feldes der Architektur zumindest drei unterschiedliche Verständnisse von Forschung gibt. 16 Erstens wird darunter eine architektonische Praxis ver- standen, wie sie in Architekturbüros ausgeführt wird. Zweitens gibt es die Auffassung, dass die Architektur in Nebendisziplinen wie der Geschichte oder Soziologie der Architektur, den Materialwissenschaften oder der Statik forscht. Drittens entwi- ckelt sich gegenwärtig unter Namen wie ‚Design Research’ eine eigenständige Forschungskultur, in der Entwurfspraktiken als Forschungsmethoden verstanden werden. In ihrer Dissertation untersucht Hipp anhand einer empirischen Studie den Einfluss aktueller wissenschaftspolitischer Entwicklungen auf die Architektur an Universitäten und an Fachhochschulen in der Schweiz. 17 Dabei beobachtet sie, dass es durch die Einführung von Bachelor- und Masterprogrammen zu Unklarheiten bezüglich des Stellenwertes von Forschung in der Architekturausbildung kommt. Konflikte gibt es vor allem rund um die Frage, in welchem Verhältnis die berufspraktisch ausgeprägte Entwurfsausbildung zu Praktiken des Verschriftlichens steht. Fokus der Studie und Forschungsmethoden Auch wenn sich die oben zitierten Beiträge aus unterschiedli- cher Perspektive mit der Wissenskultur der Architektur und mit den Auswirkungen einer zunehmenden Forschungsorientierung auf die Architektur auseinandergesetzt haben, so bleibt eine Frage bisher unbehandelt – nämlich, wie sich diese zunehmende Forschungsorientierung auf die Architekturlehre und vor allem auf den Kern der Architekturausbildung, die Entwurfslehre, aus- wirkt. 18 Im Folgenden untersuchen wir drei Themenfelder, um 16 Vgl. Flach, Kurath 2016 (Anm. 3). Zeitalter von Bologna. Zürich 2017 (Dissertation an der ETH Zürich). 17 Vgl. Anna Hipp (vorm. Flach): Wissenspro- duktion im Spannungsfeld zwischen Forschung 18 Vgl. Cuff 1991 (Anm. 1), S. 109–111. und Praxis: Die Architekturausbildung im 77 FORSCHUNG IN DER ARCHITEKTURAUSBILDUNG → INHALT diese Fragen zu adressieren: Da die zunehmende Forschungs- orientierung durch wissenschaftspolitische Entscheidungen und Initiativen mitbedingt ist, interessieren wir uns erstens für die institutionellen Auswirkungen von Initiativen wie der Bologna- Reform und der Forschungsevaluierungen. 19 Wie reagie- ren Architekturschulen auf diese veränderten Bedingungen? Welchen Platz nimmt Forschung in den Ausbildungscurricula an Architekturdepartments ein? Nach Cuff liegt der Schwerpunkt der Architekturausbildung im Entwerfen; daher möchten wir zum Zweiten herausfinden, ob und wie sich diese Veränderung auf die Entwurfslehre an Architekturschulen auswirkt. 20 Wie wird also Forschung im Entwurfsunterricht praktiziert? Drittens interessieren wir uns im Rahmen unseres Fallver- gleichs dafür, ob es in Bezug auf Forschung und Lehre Tendenzen gibt, die über einzelne Institutionen und Landesgrenzen hinaus- gehen. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich in Bezug auf Institutionalisierung und Praxis der Forschung im Entwurfsunterricht an unterschiedlichen Architekturschulen in verschiedenen Ländern feststellen? Zur Beantwortung dieser Fragen bedienen wir uns des empi- rischen Materials, das während zweier ethnographischer Fallstudien zur Forschung in der Architektur an einer Schweizer und einer britischen Universität erhoben wurde. In beiden Fällen haben wir Architekturdepartments an größeren Universitäten untersucht, an denen Forschung eine wichtige Rolle spielt. Des Weiteren waren beide Universitäten wissenschaftspolitischen Einflüssen unterworfen, indem sie entweder die Bologna-Reform umsetzten (Schweiz) oder in die Forschungsevaluierungen invol- viert waren (Großbritannien). In den Untersuchungen haben wir unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die Masterprogramme gelenkt, da in dieser Ausbildungsstufe die Lehre von Entwurf und Forschung zusammenfällt. 19 Vgl. Kurath 2015 (Anm. 3); Flach, Kurath 2016 (Anm. 3). 20 Vgl. Cuff 1991 (Anm. 1). 78 ANNA HIPP UND BERNHARD BÖHM Das methodische Vorgehen orientiert sich an Ansätzen der Wissenschafts- und Technikforschung, die den Blick auf all- tägliche Prozesse und Handlungen legen, um diese „unter dem Mikroskop zu vergrößern“. 21 So wurde während eines ganzen Semesters jeweils eine Architekturschule in der Schweiz und in Großbritannien beforscht. Vor Ort wurde anhand zweier sozial- wissenschaftlicher Methoden vorgegangen: einerseits durch teilnehmende Beobachtung in verschiedenen Entwurfskursen und andererseits durch qualitative leitfaden-gestützte Interviews mit Dozierenden, Administrierenden und Studierenden. 22 Mit Hilfe der teilnehmenden Beobachtung können alltägliche Handlungsprozesse am Ort des Geschehens beobachtet und analysiert werden, beispielsweise die Forschungspraxis im Entwurfsunterricht. Die Interviews ermöglichen eine vertiefte Verständigung über die beobachtete Arbeit im Entwurfsstudio als auch über die Curricula und Ausbildungsstrukturen der untersuchten Masterprogramme. Die Interviews wurden auf- genommen, transkribiert und nach Kriterien der Inhaltsanalyse und der ‚Grounded Theory’ ausgewertet. 23 Die teilnehmende Beobachtung resultiert in der Herstellung von Feldnotizen und Fotografien zur Dokumentation der Situationen. 24 Forschung im Entwurfsunterricht Die Ergebnisse unserer Untersuchung zeigen zweierlei. Einerseits gibt es zwischen der schweizerischen und der bri- tischen Architekturausbildung Unterschiede hinsichtlich der 21 Vgl. Knorr Centina 2002 (Anm. 7), S. 12f. 23 Vgl. Mayring 1990 (Anm. 22); vgl. Anselm L. Strauss, Juliet M. Corbin: Basics for Qualitati- 22 Vgl. Reiner Keller: Wissenssoziologische ve Research Techniques and Procedures for Diskursanalyse. Grundlegung eines For- Developing Grounded Theory. London 1998. schungsprogramms. Wiesbaden 2011, S. 30; Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. 24 Vgl. Robert Emerson, Rachel Fretz, Linda Grundlagen und Techniken. Weinheim 1990; Shaw: Writing ethnographic fieldnotes. Chi- vgl. James A. Holstein, Jaber F. Gubrium: The cago, London 1995. Das Datenmaterial der Active Interview. Thousand Oaks, London, britischen Fallstudie besteht aus 15 Feldnotizen New Delhi 1995; Christel Hopf: Pseudo-Explo- und 20 Interviews, das der schweizerischen aus ration. Thoughts on Techniques of Qualitative 29 Feldnotizen und 8 Interviews. Interviews in Social-Research. In: Zeitschrift für Soziologie 7 (1978), H. 2, S. 97–115. 79 FORSCHUNG IN DER ARCHITEKTURAUSBILDUNG → INHALT Institutionalisierung der Forschung in der Lehre. Während es in der Schweizer Fallstudie so gut wie keine übergreifenden Strukturen gibt, die die Forschungsausbildung in der Architektur anleiten, ist im britischen Masterprogramm Forschung bereits als explizi- ter Bestandteil in den Entwurfsunterricht integriert. Andererseits konnten wir durch den Vergleich der schweizerischen und der britischen Architekturausbildung auch einige Gemeinsamkeiten feststellen, die zeigen, dass Forschung in der Architektur über Methoden und Zugänge wie Dokumentenanalyse, Interviews oder Beobachtungen betrieben wird, die ursprünglich in den Sozialwissenschaften entwickelt wurden. Des Weiteren werden in beiden Fällen diese ursprünglich sozialwissenschaftlichen Methoden mit der Entwurfsausbildung verknüpft gelehrt und praktiziert. Dies führt dazu, dass es, wie wir es nennen wollen, zu einer „Architektonisierung“ dieser Praktiken kommt, also zu einer Integration des daraus gewonnenen Wissens in die Entwurfsarbeit. Wie sich diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten nun in der Lehre in der Schweiz und Großbritannien ausdrücken, werden wir nachfolgend an Hand von zwei Fallbeispielen demonstrieren. Sozialwissenschaftliche Methoden im Entwurfsprojekt (1): Großbritannien An der im Rahmen unserer Forschungsprojekte untersuchten bri- tischen Architekturschule wird ein zweijähriges Masterprogramm angeboten, in dem alle Studierenden Teil des sogenannten ‚Design Research Studios’ sind. Die Idee des Masterprogramms besteht darin, dass die Studierenden einen zweijährigen Prozess durchlaufen, in dem sie sowohl ein Entwurfsprojekt verwirk- lichen als auch einen Feldforschungsaufenthalt von sechs Monaten absolvieren, der an dem Ort stattfindet, an dem das Entwurfsprojekt der Studierenden angesiedelt ist. Bevor die Studierenden ihre Forschungsarbeit beginnen, durchlaufen sie Tutorien, in denen sie Forschungsfragen und -methoden definie- ren müssen. Feldforschung wird dabei vor allem in Anlehnung an sozialwissenschaftliche Methoden verstanden, wie Interviews 80 ANNA HIPP UND BERNHARD BÖHM und Beobachtungen von Interaktionen und Handlung oder Literaturrecherche über lokale politische Verhältnisse und die Geschichte des Ortes. Wie diese Forschung praktiziert wird und wie sie in Verbindung mit der Verwirklichung eines Entwurfsprojekts gebracht wird, zeigt das Beispiel eines Studenten, der im Rahmen seines Forschungsaufenthaltes insgesamt acht Monate in der Stadt Nikosia auf Zypern verbrachte. Während dieser Zeit interessierte sich der Student für den Umstand, dass es sich bei Nikosia, wie er es in einem Interview nannte, um eine geteilte Stadt han- delt. Also um eine Stadt, die zur einen Hälfte von Menschen bewohnt wird, die sich Griechenland zugehörig fühlen, und zur anderen Hälfte von Menschen, die sich als Türkinnen oder Türken bezeichnen. Um Konflikte zu vermeiden, wurde durch die Vereinigten Nationen (UN) eine Pufferzone eingerichtet, die die beiden Gruppen voneinander trennt. 25 Während seines Forschungsaufenthalts in Nikosia dokumen- tierte der Student die materiell-architektonische Dimension der Teilung der Stadt, indem er Spaziergänge entlang der Pufferzone durchführte, die er fotografisch festhielt. Ergänzend dazu hat er sich mit den Menschen auf beiden Seiten der Pufferzone unter- halten. Auf dieser Grundlage kam er zu dem Schluss, dass es in erster Linie Vorurteile seien, die die Menschen davon abhal- ten, die Pufferzone zu überqueren, und die potentielle Konflikte zwischen der griechischen und türkischen Bevölkerung schüren. Eine zusätzlich durchgeführte Literaturrecherche und Interviews mit UN-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern brachten zudem her- vor, dass die Trennung des türkischen und des griechischen Teils auch eine institutionell-architektonische Dimension hat, die über die Pufferzone hinausgeht. So gibt es quasi keine öffent- lichen Gebäude und Einrichtungen, die von Menschen beider 25 Nachdem Zypern in den 1960er Jahren zu heute bestehenden Pufferzone geführt hat, die einer eigenständigen Republik erklärt wurde, den griechischstämmigen Teil der Bevölkerung brachen Unruhen zwischen der griechisch- und vom türkischstämmigen trennt. (Für weitere türkischstämmigen Bevölkerung aus. Um den Informationen siehe zum Beispiel die Webseite Frieden auf der Insel zu gewährleisten wurde der UN: http://www.un.org/en/peacekeeping/ von der UN im Jahr 1964 eine Friedensmission missions/unficyp/background.shtml) aufgenommen, die zur Einrichtung der bis 81 FORSCHUNG IN DER ARCHITEKTURAUSBILDUNG → INHALT Seiten der Stadt gleichermaßen genutzt werden. Durch seine wiederholten Besuche der Pufferzone und durch Spaziergänge vor Ort fand der Student jedoch eine Ausnahme: Ein Fußballfeld, das sich innerhalb der Pufferzone befindet und das durch seine besondere Lage in dieser UN-Zone von Menschen beider Seiten benutzt werden kann. Die Erkenntnisse dieser Feldforschung spielen nun für den erfolg- reichen Abschluss des Studiums in zweifacher Hinsicht eine Rolle. Auf der einen Seite ist eine ‚Master Thesis’ im Umfang von 15.000 Wörtern zu verfassen. Im Falle des eben beschriebenen Studenten besteht diese Thesis, wie in den Sozialwissenschaften üblich, aus einem Text, in dem er seine ethnographischen Eindrücke verschriftlicht. Dieser Text muss im Rahmen des Master-Programms jedoch nicht innerhalb einer einzelnen sozial- wissenschaftlichen Disziplin verortet werden. Stattdessen setzte der Student seine Beobachtungen und Interviews zu Ansätzen der Soziologie, Philosophie und Urban Studies in Beziehung. Auf der anderen Seite soll ein architektonisches Entwurfsprojekt verwirk- licht werden, das die Erkenntnisse der Feldforschung miteinbe- zieht. Der Student entschied sich – inspiriert von dem Fußballfeld innerhalb der Pufferzone – einen Flughafen zu entwerfen, der sowohl von der griechischen als auch von der türkischen Seite betreten werden kann. Dadurch, so seine Idee, könnte er einen architektonischen Beitrag dazu leisten, die Menschen des grie- chischen und türkischen Teils von Nikosia einander näherzubrin- gen. Um den beobachteten Vorurteilen und Konflikten begegnen zu können, arrangierte der Student beispielsweise einen großen Teil des Flughafens als offenen Platz, an dem all jene, die das wollen, gemeinsam etwas trinken, essen oder einfach nur Zeit verbringen können. Wie diese Fallstudie zeigt, treffen in dem Masterprogramm der untersuchten britischen Architekturschule zwei Wissenskulturen aufeinandertreffen. Eine sozialwissenschaftliche Kultur, die grundlegende Schritte eines qualitativen sozialwissenschaft- lichen Forschungsdesigns beinhaltet, wie das Stellen von Forschungsfragen als auch das ethnographische Beobachten und Interviews vor Ort und eine Kultur des architektonischen 82 ANNA HIPP UND BERNHARD BÖHM Entwurfs. Diese beiden Kulturen drücken sich auch in den Ergebnissen aus. So hat der Student in der Fallstudie sowohl einen Text verfasst, in dem die Eindrücke seiner ethnographischen Forschung zu Theorien der Sozialwissenschaften in Beziehung gesetzt wurden, als auch den Entwurf eines Flughafens verwirk- licht, der die geteilte Stadt Nikosia ein Stück weit verbinden soll. Über diese Unterschiede hinaus gibt es aber auch Verbindungen zwischen sozialwissenschaftlicher Forschung und architektoni- schem Entwurf, da sich der Student in seinem Entwurfsprojekt auf die Eindrücke und Erkenntnisse der Feldforschung bezieht, was wiederum seine Entwurfsentscheidungen beeinflusst hat. Forschung und sozialwissenschaftliche Methoden im Entwurf (2): Schweiz An der untersuchten Schweizer Universität lassen sich weniger Überschneidungen zwischen architektonischen Entwurfspraktiken und sozialwissenschaftlichen Forschungs- ansätzen beobachten als im britischen Fall. In der Schweiz gibt es bisher keine institutionalisierten Strukturen, in denen Forschung und Entwurfsausbildung eng geführt werden. Vielmehr, so zeigen die Interviews an der Universität, ist der Entwurfsunterricht institutionell, räumlich und personell getrennt vom akademischen Theorieunterricht, wie der Geschichte und Theorie der Architektur, der Einführung in die Soziologie oder der Materialwissenschaft. Wird im britischen Beispiel Forschung und Entwurf über das Curriculum eines Masterprogramms für alle Beteiligten vor- geschrieben, so ist in der Schweizer Universität das indivi- duelle Interesse der Professorinnen und Professoren oder der Studierenden ausschlaggebend für eine Verbindung von Forschung und Entwurf. Somit lässt sich der Zusammenhang zwischen hochschulpolitischen Entwicklungen wie der Bologna- Reform und der Forschungsorientierung an den Schweizer Architekturhochschulen als lose beschreiben. Die hierbei ver- wendeten forschungsbezogenen Ansätze beziehen sich fast ausschließlich auf sozialwissenschaftliche Methoden wie 83 FORSCHUNG IN DER ARCHITEKTURAUSBILDUNG → INHALT beispielsweise Textanalyse, Dokumentenanalyse, das Führen von Interviews oder statistische Auswertungen. Das folgende Beispiel aus einem Masterkurs veranschaulicht diese Beobachtung. Untersucht wurde das Entwurfsprojekt zweier Masterstudierender, die sich ausgehend von einer Gebäudereferenz mit sozialwis- senschaftlicher Textrecherche und -analyse befassten, um ihr Entwurfsprojekt weiterzuentwickeln. Nachdem ein Assistent die beiden Studierenden auf die Möglichkeit hingewiesen hatte, sich mit einer anderen, sozialwissenschaftlichen Herangehensweise mit der Projektaufgabe auseinanderzusetzen, verfolgten die beiden diesen Rat. Die dabei herangezogene Gebäudereferenz bezieht sich auf das Hotel Palenque in Mexiko. Anstatt sich wie ihre Studienkolleginnen und Studienkollegen zeichne- risch mit dieser Referenz auseinanderzusetzen, haben sich diese beiden Studierenden in die Bibliothek begeben und eine Begriffsrecherche durchgeführt. Diese hat sie zum amerikani- schen ‚Land-Art-Artist’ Robert Smithson geführt, welcher das Hotel in der Fotoserie Rebuilding Hotel Palenque festgehalten hat und einige Texte dazu verfasst hat. 26 Sie haben diesen Fund als Grundlage für eine Dokumentenanalyse sowie als Grundlage für ihre zeichnerische Annäherung an die Restaurierungsaufgabe des Hotels genutzt, mit welcher sie sich daran anschließend auseinandersetzen wollten. Sie bezogen sich hierbei auf den Zustand des Hotels Ende der 1980er Jahre, wie er auf den Bildern von Smithson zu sehen ist. Anschließend führten sie weitere Recherchen durch, die sie zu politischen Manifesten und wei- teren offiziellen Dokumenten geleitet haben, welche aktuelle Gebäudevorschriften enthalten und anhand welcher sie ihre Entwurfsarbeit anschließen konnten. Daraufhin haben sie ein erstes Modell erstellt. Die weitere Textanalyse hat die beiden Studierenden zu Begriffen geführt, die sie als Ausgangslage für neue Konstruktionsperspektiven verwendet haben, wie bei- spielsweise das Thema Lichteinfall. In der Folge ist ein Hin und Her zwischen gefundenem Textmaterial und entwurfsbasierter 26 Vgl. Robert Smithson: Rebuilding Hotel Palenque. New York 1969–1972. 84 ANNA HIPP UND BERNHARD BÖHM Auseinandersetzung entstanden. Das Ergebnis waren Skizzen, Pläne und ein Entwurfsmodell ebenso wie die Ergebnisse ihrer Studienkolleginnen und Studienkollegen. Der Unterschied zur Arbeit der Mitstudierenden bestand jedoch darin, dass die- ses Projekt einer anderen, sozialwissenschaftlichen Heran- gehensweise gefolgt ist. Das Beispiel verdeutlicht, dass forschende Auseinander- setzungen mit Entwurfsaufgaben auch von den Studierenden selbst initiiert werden können, solange diese hinreichend mit den entsprechenden Methoden und Ansätzen bekannt sind und wis- sen, wie sie deren Vorgehensweisen für ihre Entwurfsprojekte einsetzen können. Im Falle dieses Beispiels hatten die bei- den Studierenden zuvor eine Vorlesung zur Einführung in die Sozialwissenschaften besucht und bereits Textanalyse sowie -recherche als Methode kennengelernt und durchgeführt. Die Aufgabenstellung des beschriebenen Projekts richtete sich nicht explizit auf die Verwendung von sozialwissenschaft- lichen Methoden, sondern entstand aus dem Interesse der Studierenden heraus. Die Auseinandersetzung mit Textmaterial erfordert jedoch andere, nicht-zeichnerische Methoden, die den Umgang mit Text, als Quelle, ermöglichen. Aus diesem Grund haben die Studierenden die sozialwissenschaftliche Text- und Dokumentenanalyse herangezogen, um sich forschend mit ihrem Projekt auseinanderzusetzen. Anders als bei rein sozi- alwissenschaftlichen Projekten steht am Ende des Prozesses jedoch ein Entwurfsprojekt und kein Text. Auch inhaltlich unter- scheiden sich die Vorgehensweisen, da sich die Studierenden der sozialwissenschaftlichen Methoden zwar bedienen, diese jedoch für ihre Zwecke umdefinieren. Sozialwissenschaftliche Forschung hätte eine Aussage zu einer sozialwissenschaft- lichen Fragestellung zur Folge, welche sich zudem an eine übergeordnete theoretische Fragestellung rückbinden ließe. Stattdessen ordnet sich in diesem Beispiel die sozialwissen- schaftliche Vorgehensweise der architektonischen Entwicklung des Entwurfsprojekts unter. Das Ziel des Prozesses ist von Anfang an die Entwicklung einer entwerferischen Antwort auf die spezifische Situation des Hotel Palenque der 1980er Jahre. 85 FORSCHUNG IN DER ARCHITEKTURAUSBILDUNG → INHALT Die Reaktionen der Dozierenden an der Schlusskritik des Projekts verdeutlichen diese Beobachtung. Das Projekt wurde vom Gastjuror aus dem Fach Architekturtheorie als „wahrhaf- tig theoretisches Projekt“ gelobt, weil ihm der Brückenschlag zwischen wissenschaftlichen Methoden und architektonischer Entwurfspraxis gelinge. 27 Den Studierenden selbst war diese Leistung nicht bewusst, da für sie der erfolgreiche Abschluss des Projekts im Vordergrund stand. Konklusion In diesem Text haben wir argumentiert, dass es bedingt durch aktuelle hochschulpolitische Veränderungen wie jene der Bologna-Reform in der Schweiz oder der Forschungsevaluierung in Großbritannien zu einer verstärkten Forschungsorientierung an den bisher auf die Vermittlung von Berufspraxis ausgerichteten Architekturdepartementen an Universitäten kommt. Im Kontext der Frage, wie sich eine zunehmende Forschungsorientierung auf Architekturschulen und die Praxis der Lehre auswirkt, ließen sich aus den zwei ethnographischen Fallstudien in Großbritannien und der Schweiz sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten bezüglich der Umsetzung von Forschung in der Lehre in beiden Regionen herausarbeiten. Unterschiede sind vor allem im Rahmen der institutionel- len Verankerung von Forschung sichtbar: In der Fallstudie des britischen Masterprogramms ist Forschung Bestandteil der Architekturausbildung und über Tutorien und einen Forschungsaufenthalt fest verankert. Im Falle des Schweizer Beispiels hingegen gibt es zwar eine Tendenz Richtung Forschung in der Architekturausbildung, diese ist aber noch wenig institu- tionalisiert und hauptsächlich abhängig von den individuellen Interessen der Dozierenden und Studierenden. Während im briti- schen Beispiel alle Studierenden über einen Zeitraum von sechs Monaten forschen müssen, um das Master-Programm erfolgreich 27 Aussage aus teilnehmender Beobachtung einer Schlusskritik, 27.05.2014, Zürich. 86 ANNA HIPP UND BERNHARD BÖHM abzuschließen, können Studierende im Schweizer Beispiel for- schen, eine Forschungstätigkeit ist aber nicht ausschlaggebend für das erfolgreiche Absolvieren des Studiums. Beiden untersuch- ten Beispielen gemeinsam ist hingegen eine Forschungspraxis, die auf Methoden der Sozialwissenschaften basiert; im Schweizer Fall auf Dokumentenanalyse und in Großbritannien auf Interviews, Beobachtungen aus der Feldforschung außerhalb der Universität und das Verfassen eines Textes, in dem auf die Erkenntnisse der Feldforschung bezuggenommen wird. Vergleicht man die Ergebnisse unserer Studien mit den ethno- graphischen Untersuchungen architektonischen Arbeitens, in denen Praktiken wie Modellbau, Computermodellierung oder Zeichnen als zentrale epistemische Praktiken identifiziert wer- den 28, dann zeigt sich in beiden Fällen, dass sich das Repertoire epistemischer Praktiken im Kontext einer zunehmenden Forschungsorientierung in der Architektur in Richtung sozialwis- senschaftliche Zugänge erweitert. Der ethnographische Blick auf die beiden Beispiele zeigt zudem, dass die sozialwissen- schaftlichen Methoden in beiden Fällen in den Entwurfsprozess integriert werden, indem sie, wie wir es nennen, „architektoni- siert“ werden. Genauer gesagt, konnten wir beobachten, dass der Einsatz von Methoden der Sozialwissenschaften dazu führt, dass das so gewonnene Wissen in den Entwurf und in Entwurfsentscheidungen einfließt. Abschließend möchten wir eine Beobachtung diskutieren, die unserer Meinung nach einige Fragen für die zukünftige Entwick- lung des Entwurfsunterrichtes aufwirft. In beiden Fallstudien kommt es durch Forschungspraktiken anderer Disziplinen, in unserem Fall der Sozialwissenschaften, zu einer Zweiteilung zwi- schen Forschung und Entwurf. Genauer gesagt werden in den untersuchten Masterprogrammen nicht Praktiken des Entwerfens, sondern sozialwissenschaftliche Zugänge als Forschung ver- standen. Diese Zweiteilung suggeriert umgekehrt, dass durch Entwurf kein Forschungswissen generiert werden könne. 28 Vgl. Cuff 1991 (Anm. 1); Yaneva 2009 (Anm. 9); Potthast 1998 (Anm. 9); Houdart 2008 (Anm. 9). 87 FORSCHUNG IN DER ARCHITEKTURAUSBILDUNG → INHALT Betrachtet man diese Unterscheidung nun vor dem Hintergrund der zunehmenden Forschungsorientierung in der Architektur, stellt sich die Frage, welchen Stellenwert genuine architekto- nische Praktiken wie Modellbau oder Entwurfszeichnung in diesem Kontext haben. Werden sie als Teil von Forschung ver- standen – oder als etwas, das nichts mit Forschung zu tun hat? Wenn ersteres der Fall ist, wenn also architektonisches Entwerfen als Forschungspraxis verstanden wird, dann stellt sich die Frage, ab wann eine Entwurfsarbeit Forschung ist und ab wann pro- fessionelle Praxis, und nach welchen Kriterien entwurfsbasierte Forschungsarbeit bewertet werden kann. Wenn die Entwurfsarbeit nicht als Forschungstätigkeit verstan- den wird, können sowohl Forschungszugänge als auch Kriterien für Forschung aus etablierten wissenschaftlichen epistemi- schen Kulturen wie den Sozialwissenschaften übernommen wer- den. Dies wirft jedoch neue Fragen auf: In welcher Beziehung stehen Forschungspraxis und Entwurfspraxis zueinander? Welchen Stellenwert hat der Entwurf und die damit verbundene Wissenskultur in forschungsbasierten Ausbildungsprogrammen? Diese grundsätzlichen Fragen erfordern aus unserer Sicht einen Diskurs über die Forschungspraxis in der Architekturausbildung. Denn wie wir unter Bezug auf STS-Literatur über Architektur gezeigt haben, gibt es in der Architektur bereits eine epistemi- sche Kultur. Für die Architekturausbildung ist es von zentraler Bedeutung zu definieren, welche Rolle diese Kultur im Kontext von aktuellen wissenschaftspolitischen Entwicklungen wie Forschungsevaluierungen oder der Bologna-Reform spielen soll. 88 EKKEHARD DRACH EKKEHARD DRACH Das Modell Fachakademie Chancen und Tücken lebender (Bildungs-)Fossilien Das Lehrmodell Fachakademie nimmt in der Designausbildung eine gewisse Sonderstellung ein. Aufnahmevoraussetzung ist eine abgeschlossene Handwerksausbildung mit Praxiserfahrung. Der Einstieg erfolgt somit nicht in der Grundlagenvermittlung, sondern es kann auf ein bereits vorhandenes theoreti- sches wie praktisches Fachwissen und auf Fertigkeiten in der Umsetzung zurückgegriffen werden. Ausgehend von dieser Basis ist es Ziel der Ausbildung, Gestaltungskompetenzen aus- zubauen und Entwicklungsmöglichkeiten jenseits eingespielter Praxisroutinen auszutesten. Dies gelingt, jedoch erweist sich die Integration des Modells Fachakademie in die aktuelle universi- täre Bildungslandschaft als schwierig – trotz der Möglichkeiten, die es mit Hinblick auf eine von ‚learning by making’ und der Kombination digitaler und handwerklicher Methoden inspirierte Entwurfslehre bietet. Im Modell Fachakademie (FAK) findet der Unterricht zu gleichen Teilen in Zeichensaal und Werkstatt statt. Anderenorts werden Entwurf und Ausführung getrennt bearbeitet, und in der Regel liegt die Ausführung in anderen Händen und kann nicht mehr Teil der Ausbildung sein. Im Lehrmodell eines ‚learning by making’ versucht die Fachakademie hingegen, Entwurf und Ausführung zu verbinden. Dabei sollen durch die Integration der Produktion in den Gestaltungsprozess sowohl die Zwangsläufigkeit einer zeitlichen Abfolge, die beides als in sich abgeschlossene und aufeinander folgende Projektphasen begreift, als auch die perso- nelle Trennung in entwerfenden und ausführenden Teil überwun- den werden. 89 DAS MODELL FACHAKADEMIE → INHALT Diese besondere Form der Verbindung handwerklicher und ent- wurflicher Kompetenzen in der Ausbildung ist auf das Bundesland Bayern beschränkt. Der folgende Beitrag spürt den besonderen Lehrinhalten und Vermittlungsprozessen sowie deren Verortung in der Lehrlandschaft der Architektur- und Designausbildung nach. Insbesondere soll die Situation an der Fachakademie für Raum- und Objektdesign in Cham (Bayern) betrachtet werden. Anhand dieses Fallbeispiels meiner ehemaligen Arbeitsstätte lassen sich gleichermaßen die Möglichkeiten und das Prekäre dieses Lehrmodells zeigen. Das Modell Fachakademie – ein Paralleluniversum Die Ausbildung an der Fachakademie für Raum- und Objektdesign in Cham wendet sich speziell an fertig ausgebil- dete Tischler beziehungsweise Meister und Gesellen im gestal- tenden Handwerk. Aufnahmevoraussetzung ist eine abge- schlossene Meisterausbildung oder der Nachweis einer mehr- jährigen einschlägigen Berufserfahrung. Aufbauend auf bereits vorhandenem Fachwissen in Theorie und Praxis werden inner- halb von zwei Jahren vertiefte Kenntnisse in der Konzeption wie Realisation von Objekten und Räumen vermittelt. Abgeschlossen wird das Studium mit einer Prüfung zur ‚Staatlich geprüften Raum- und Objektdesignerin’ beziehungsweise zum ‚Staatlich geprüften Raum- und Objektdesigner’. 1 Neben diesem, in der Bezeichnung zugegebenermaßen etwas sperrigen Abschluss, bieten sich im Lehrsystem Fachakademie aufgrund ihrer beson- deren Studienvoraussetzungen andere Lehrmethoden an, als sie in einer universitären Designausbildung üblich sind. In Bayern gibt es neben Cham nur noch eine zweite Fachakademie in Garmisch-Partenkirchen. Interessant für Selbstverständnis, Idee und Curriculum der Fachakademien ist die Vorgeschichte. 1 Vgl. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (Hg.): Lehrpläne für die Fachakademie für Raum- und Objektdesign, Fassung vom April 2014. München 2014, S. 1–9. 90 EKKEHARD DRACH Daher soll, bevor ich auf die Situation in Cham zurückkomme, ein kurzer Blick auf die Garmisch-Partenkirchener Schule geworfen werden. Denn noch heute stellt sich die Situation in Garmisch-Partenkirchen etwas anders dar als in Cham. In Garmisch-Partenkirchen ist die Fachakademie eingebunden in einen größeren Schulverband – die ‚Schulen für Holz und Gestaltung des Bezirks Oberbayern’. Neben der Ausbildung zum Holzbildhauer werden mit der Berufsfachschule für Schreiner und der Meisterschule für Schreiner sowie den zwei Klassen der Fachakademie alle Ausbildungsstufen im Schreinerhandwerk innerhalb eines Schulverbands angeboten, womit die dortige fachakademische Ausbildung auf die Kontinuität aufeinan- der bezogener Ausbildungsschritte aufbauen sowie eine enge Bindung an die Tischlerausbildung vorweisen kann. 2 Ebenso befördern die kurzen Kommunikationswege innerhalb bezie- hungsweise zwischen den verschiedenen holzbearbeiten- den Schulen den Austausch technischer wie gestalterischer Kompetenzen. Auch unterscheiden sich die Gründungsvoraussetzungen der beiden Schulen. Während die Fachakademie in Cham 1988 eine Neugründung war, kann die FAK in Garmisch-Partenkirchen, die bereits 1986 ihren Betrieb aufnahm, auf einen vorangegan- genen Studienkurs aufbauen. 3 Die Motivation einer solchen Schulgründung findet sich in den prekären wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, die Mitte des 19.  Jahrhunderts den Amtsbezirk Werdenfels – den späteren Landkreis Garmisch- Partenkirchen – prägten. Trotzdem Land- und Forstwirtschaft keine ausreichende Lebensgrundlage mehr boten, war mit der Ansiedlung von Industrie in dem damals als abgelegen gelten- den Gebiet ebenso wenig wie mit Fremdenverkehr zu rechnen. 2 Siehe: Schulen für Holz und Gestaltung 3 Die Fachakademie für Holzgestaltung (Hg.): The creative south. Garmisch-Partenkir- ersetzt die Oberstufe für Raumgestaltung und chen 2014. Betriebsleitung. Siehe Eckhard Heyelmann, Volker D. Laturell, Hans von Malottki (Hg.): Skulpturen, Möbel, Räume. Handwerkliche Gestaltung an der Fachschule für Schreiner und Holzbildhauer des Bezirks Oberbayern, Garmisch-Partenkirchen. München 1994, S. 33. 91 DAS MODELL FACHAKADEMIE → INHALT Abhilfe sollte in der Erschließung neuer Erwerbszweige nach dem Vorbild der benachbarten Gemeinden Mittenwald und Oberammergau geschaffen werden, in denen sich bereits erfolg- reich Hausindustrien im Geigenbau beziehungsweise in der Kunstschnitzerei etabliert hatten. 4 Zu diesem Zweck „gewährte die Staatsregierung dem Holzschnitzer und Kunstdrechsler Ignatz Bader aus Garmisch [im September 1854] ein Darlehen von 1200 Gulden aus dem Industriellen Unterstützungsfonds mit der Auflage, eine Lehrwerkstätte zu begründen und die Holzschnitzerei nach dem Vorbild von Oberammergau auch in den übrigen Orten des damaligen Werdenfels [...] einzufüh- ren.“ 5 Die Lehrwerkstätte hatte nur kurz Bestand, jedoch verlieh „Anfang der sechziger Jahre [...] die Regierung mehreren jungen Holzschnitzern, darunter auch dem späteren Schnitzlehrer Josef Bader, Stipendien zum Besuch der Zeichen- und Modellierschule des Vereins für Ausbildung der Gewerke in München.“ 6 Mit dem Ziel, die Zeichenkompetenz der Handwerker zu fördern bezie- hungsweise diesen die Zeichnung überhaupt als Medium plan- voller Gestaltung zu erschließen, wurden parallel in Garmisch, Partenkirchen und Mittenwald Zeichenschulen eingerichtet. Der Zeichenunterricht wurde 1866 weiter professionalisiert mit der Handwerkerzeichenschule in Partenkirchen. Diese wurde vom 1865 von Wiesbaden übergesiedelten Kunstmaler Prof. Michael Sachs initiiert und von den dortigen Volksschullehrern geleitet. 1869 geht aus ihr die ‚Distrikts-Schnitz- und Zeichenschule’ her- vor. 7 In weiterer Folge beschränkte sich die Ausbildung nicht auf die Holzbildhauerei. Bis zum Ende des Jahrhunderts ist die Schreiner-Lehrwerkstätte im Curriculum etabliert. Auch steigt „die Zahl der Schüler, die sich die zeichnerische Vorbildung für die Lehre in verschiedenen anderen Berufen aneignen wollen, [...] 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Vgl. ebd., S. 26f. 92 EKKEHARD DRACH ständig. Die Schule trägt damit zu der Entwicklung des Gewerbes in der Region wesentlich bei. In den Lehrwerkstätten wurde ‚der modernen Stylrichtung nach Möglichkeit Berücksichtigung zuge- wendet’. Im Zeichnen und Modellieren wurde außer der program- mäßigen Nachbildung figürlicher und ornamentaler Vorbilder auch Studien nach der Natur gemacht.“ 8 Dieses Erbe einer sowohl handwerklichen wie gestaltend-künstlerischen Ausbildung wirkt dann bis in die Struktur und Lehrpläne der Fachakademie inner- halb der Schulen für Holz und Gestaltung fort. Auch die 1988 neu gegründete Fachakademie in Cham verfolgt bis heute einen ähnlichen Ansatz. Namentlich rekurriert sie auf die Konzeption der Werkkunstschulen, deren Tradition sich die Schule verpflichtet sieht, wie Rainald Baier, der erste Schulleiter, anlässlich der Aufnahme des Lehrbetriebs ausführt. 9 Demnach sollte „ein guter Gestalter [...] ein ebenso guter Handwerker und ein guter Handwerker sollte ein ebenso guter Gestalter sein. Eigentlich versuchen wir hier an der Fachakademie nur das durchzuführen, was früher eine Selbstverständlichkeit war, näm- lich Gestaltung und Handwerk als eine Einheit zu sehen.“ 10 Die berufliche Realität im Handwerk stellte sich in den 1980er und 1990er Jahren jedoch anders dar. Die Aus- und Weiterbildung beschränkte sich auf die Vermittlung von Technik, Organisation und den Erwerb handwerklicher Fertigkeiten. Die Beschäftigung mit Kunst und Gestaltung war marginal, eine Auseinandersetzung mit Gestaltungstheorien oder Entwurfstechniken und deren prak- tisches Austesten fand nicht statt. Die universitäre Ausbildung im Feld der Architektur, der Innenarchitektur und des Designs setzte auf der anderen Seite kaum noch den Nachweis fundierter prakti- schen Kenntnisse und Fertigkeiten in Form einer handwerklichen Ausbildung voraus. Eine Folge war gerade eine Aufspaltung von praktisch-technischen und planend-gestaltenden Kompetenzen 8 Ebd., S. 29. 10 Ebd., S. 2f. 9 Vgl. das Redemanuskript des Schulleiters Rainald Baier zur Begrüßung des ersten Studi- enjahrgangs am 6. September 1988, Fachaka- demie für Raum- und Objektdesign in Cham, S. 4. 93 DAS MODELL FACHAKADEMIE → INHALT und, daraus resultierend, Unverständnis und Vorurteile gegen- über der jeweils anderen Seite. Dies erscheint unbefriedi- gend hinsichtlich der Interaktion auf der Baustelle beziehungs- weise in der Fertigung. Die auf beiden Seiten unzureichende Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt häufig die Qualität der Ausführung. Aber auch innerhalb der Sphären Entwurf und Ausführung stellt die Unkenntnis des jeweils anderen ein Manko dar: weder kann ein gelungener Entwurfsprozess ohne Verständnis der Bedingungen seiner Realisierung noch die befriedigende Herstellung von Dingen ohne das Wissen um ihre konzeptionelle Fundierung auskommen. Hier setzt die Ausbildung im Modell Fachakademie an, indem sie die beiden Stränge des dualen Ausbildungssystems zusammen- führt. Die Studierenden haben bereits eine qualifizierte hand- werkliche Ausbildung bis hin zur Meisterprüfung durchlaufen und sind so in der Lage die erworbenen Handlungskompetenzen, ihre Erfahrung und ihr Wissen in den Lehrbetrieb einzubringen. Struktur und Lehrmethoden Bedingt durch die Aufnahmevoraussetzungen erfolgt der Einstieg nicht zwingend in der Grundlagenvermittlung, sondern es sollte auf ein bereits vorhandenes theoretisches wie prakti- sches Fachwissen, wie auch auf Fertigkeiten in der Umsetzung zurückgegriffen werden können. Das Lehrformat zeichnet sich dadurch aus, dass (möglichst) jedes Entwurfsprogramm mit der baulichen Realisierung abschließt – als 1:1-Rauminstallation res- pektive gebauter Prototyp. Ziel ist, Gestaltungskompetenzen auf der Basis bereits vorhandener Fähigkeiten und Erfahrungen auszubauen und darüber hinaus Freiräume zu schaffen um Entwicklungsmöglichkeiten jenseits eingespielter Praxisroutinen auszutesten. Wie sich Synergien von Werkstatterfahrung und freiem Entwerfen freisetzen lassen, soll am Beispiel eines konkreten Entwurfsprogramms gezeigt und so ein Einblick in die Arbeitsweise der FAK Cham gegeben werden. Das gesamte zu absolvierende Lehrprogramm stellt sich natürlich etwas umfangreicher dar 94 EKKEHARD DRACH Abb. 1: FAK Cham: Messestand imm cologne, 2016. Rendering: FAK Cham Abb. 2: 3 D-Modell, Grundriss, Ansichten. Planzeichnungen: FAK Cham und umfasst neben dem im Folgenden schlaglichtartig ange- führten Entwerfen von Objekten und Räumen zahlreiche wei- tere Unterrichtseinheiten: eine Vertiefung der Kompetenzen in Konstruktion und Fertigungstechniken ebenso wie in Darstellung und Visuelle Kommunikation, Entwurfsmethodik, Architekturtheorie und -geschichte sowie betriebswirtschaftli- ches Wissen in Projektmanagement und Marketing. Wiederkehrende Aufgabe in der FAK Cham ist der Entwurf eines Messestandes für die jährlich stattfindende Designmesse ‚imm 95 DAS MODELL FACHAKADEMIE → INHALT Cologne’ (Internationale Möbelmesse in Köln), auf der sich die Schule und ihre Schüler mit ihren Projekten einem internati- onalen Fachpublikum vorstellen. Konzeption, Entwurf, bau- liche Realisierung und die Betreuung des Standes während der Messe liegen in den Händen der Studierenden des zweiten Studienjahrs. Der Entwurf vollzieht sich in drei Schritten. Auf die gemeinsame Klärung der Aufgabenstellung folgt ein interner Wettbewerb, in dem jede und jeder Studierende einen Lösungsvorschlag erar- beitet. Die Klasse verständigt sich auf ein Projekt, das dann wie- derum in der Gruppe bis hin zur Ausführungsreife weiterentwi- ckelt wird. Interessant ist nun der Weg von der im Wettbewerb zur Diskussion gestellten Idee hin zum konkret gebauten Objekt. Am Beispiel des Messestandes 2016 soll nun das spezifische Herangehen vorgestellt werden, das die Verschränkung von digitalen Entwurfswerkzeugen und analogen, handwerklichen Lösungswegen nutzt 11 (Abb. 1). „Der Messestand der Fachakademie für Raum- und Objektdesign Cham drückt durch seine Materialität und Formgebung die Kreativität und Vielfalt der Studenten aus. Fünf geschwun- gene Bänder erzeugen durch ihr Licht- und Schattenspiel eine Verbindung vom Objekt zum Raum. Der Besucher erhält durch den innovativen und technisch anspruchsvollen Einsatz des Werkstoffs Holz einen Einblick in die Arbeitsweise der FAK-Studenten.“ 12 Der Erläuterungstext zur Bewerbung um einen Messestand auf der ‚imm’ 2016 bleibt unverbindlich, auch das eingereichte Schaubild bewegt sich noch in recht konventionellem Rahmen. Die Struktur aus dünnen Bändern ist offensichtlich in Holz gedacht, wie die applizierte Textur zu erkennen gibt. Es gibt eine klare Richtung. Die Bänder schwingen in einer kurzen Welle an, 11 Projektteam: Reinald Baier (Leitung), 12 FAK Cham: Erläuterungstext zur Projektein- Thomas Riederer (Entwurf), Raphael Brunner, reichung, 2016. Simon Eberl, Fabian Frangart, Daniel Hock, Johanna Jakobs, Johann Kilger, Robert Meier, Andreas Rubenbauer (Realisierung), Petra Beutl, Ekkehard Drach, Christian Wundsam (fachliche Betreuung). 96 EKKEHARD DRACH erreichen ein Maximum und laufen dann aus, ein Block mit dem Logo der Schule bildet den Rücken des Standes. Die Situierung in der Messehalle ist unspezifisch und das Objekt noch etwas verloren in der Weite der Halle, da zu diesem Zeitpunkt die Rahmenbedingungen, die Platzzuweisung – ob Solitär, Kopf-, Reihen- oder Eckstand – sowie die Nachbarschaften noch unbekannt sind. Die vorgestellte Staffagefigur lässt Größe und Maßstäblichkeit erkennen und könnte als Versuch gelesen wer- den, der Leere der Halle etwas Atmosphäre abzugewinnen 13 (Abb. 2). Hier könnte der Entwurfsprozess enden. Im universitären Curriculum ist die Entwurfsfindung meist mit der Visualisierung abgeschlossen. Das Lehrkonzept der FAK basiert jedoch darauf, Entwurf und Bauausführung als Einheit zu denken. Die etwas aus- führlichere Beschreibung des Messeprojektes soll nun verdeut- lichen, wie die eingeforderte Auseinandersetzung mit Material und Technik sowie die Umstände und Probleme der Realisierung zu einer Intensivierung des Entwurfsprozesses führen kön- nen. Das Schaubild kann hierbei nur ein Zwischenschritt sein. Essenzieller für den Versuch, sich (möglicherweise) substanzi- ellere Entwurfsebenen zu erschließen, sind die dem Rendering zugrundeliegenden 3D-Modelle. Die Bögen sind hier noch frei formbare Kurven im Raum, ohne materielle Festlegungen. Ihr Aufbau ist jeweils gleich, sie haben zwei Hochpunkte – einen niederen, einen deutlich höheren – und berühren dreimal den Boden. Zusammen bilden sie eine Reihe, die sich bei jeweils glei- cher Streifenbreite in das Rechteck der Standfläche einpasst. Innerhalb dieses Rahmens sind Variationen möglich und werden auch kompositorisch genutzt. Im Verschieben der Maxima und Wendepunkte sowie der Modulation der Steigungen zeigt sich ein fein abgestimmtes Spiel an- und abschwellender Bögen. Dabei ermächtigt das Arbeiten in und mit dem 3D-Modell zu einem intuitiv-kalkulierenden Entwerfen, wie es für dieses Werkzeug 13 Die Verwendung stereotyper Rollen- und Geschlechterklischees in der architektonischen Plangrafik müsste dringend diskutiert werden; das muss jedoch an anderer Stelle erfolgen. 97 DAS MODELL FACHAKADEMIE → INHALT charakteristisch ist. Intuitiv in dem Sinn, als dass das Programm direkt auf Änderungen reagiert. Jede Eingabe, jedes Verschieben der Parameter wird unmittelbar auf der Benutzeroberfläche als dreidimensionales Bild dargestellt. Gleichzeitig sind die Kurven mathematisch exakt beschrieben und mit zumindest noch dif- fusem Hintergrundwissen aus analytischer Geometrie und Kurvendiskussion strukturell verständlich und rationalisier- bar. Abfolge, Positionierung und Formung der Bögen zeigen sich somit nicht als beliebig, sondern korrespondieren mit der Aufgabenstellung. Das Öffnen und Schließen von Raum, das Ausfließen und Verdichten der Struktur führt zum Messestand hin. Es bietet den Rahmen für Produktpräsentationen und bean- sprucht in seiner formalen Präsenz, selbst als Ausstellungsobjekt wahrgenommen zu werden. Nur, den Entwurf mit diesen Planungsschritten schon als gelöst zu betrachten wäre etwas unbefriedigend, wie der Blick auf das obige Rendering zeigt. Das noch immaterielle Objekt wird hier lediglich mit einer Materialstruktur überzogen. Damit kann es keine reine Geometrie mehr sein. Indem er versucht, mit mini- mierten, gerade erkennbaren Materialstärken zu arbeiten, ist dieser erste Materialisierungsschritt trotzdem von der Absicht bestimmt, das geometrische Setting möglichst verlustfrei in die materielle Realisierung zu retten. Für die Materialwahl bestim- mend sind die Parameter des 3D-Modells. Es wird ein Material gesucht, das der Elastizität und Schmiegsamkeit der digi- tal erzeugten Kurven folgt, beziehungsweise ein Material, das durch Modifikation dahingehend bearbeitet werden kann, dass es diesen folgen kann. Die Ausführung im Rendering lässt an überdimensionierte Furnierstreifen oder entsprechend geformte Leimhölzer denken. Weitere Überlegungen waren tatsächlich, auf Holzwerkstoffplatten zurückzugreifen, die durch ein- oder zweiseitige Kerbungen den gewünschten Biegungen in Längs- und Querrichtung folgen konnten. 14 Das bedeutet, die analog 14 Angedacht war eine Ausführung beispiels- einseitig oder zweiseitig eingeschnittenen weise mit und unterstützt von ‚dukta, flexible Holzwerkstoffplatten eröffnen durch ihre wood’. „Die dukta-Halbfabrikate basieren auf Biegbarkeit und Transparenz einen grossen einem patentierten Verfahren zur Flexibilisie- Gestaltungsspielraum.“ URL: http://dukta.com/ rung von Holz und Holzwerkstoffen. Die produkte/halbfabrikate/ (5. August 2017). 98 EKKEHARD DRACH generierte Form wäre eins zu eins in einen Werkstoff übertragen, das Bild des gebauten Standes entspräche weitgehend dem des Entwurfs im 3D-Modell. Dies wäre möglich. Die personelle, technische wie finanzielle Ausstattung der Schule und die nicht vorhandenen Zeitressourcen für entsprechende Produkt- und Fertigungsentwicklungen lie- ßen diese Ausführung jedoch nicht zu. Die Lösung musste daher innerhalb der an der Schule vorhandenen Möglichkeiten gefunden werden. Hier kommt nun das spezifische Lehrkonzept der Schule zu tragen: die Vermittlung von Entwurfswissen und Praktiken auf der Basis handwerklicher Vorbildung und Praxiserfahrung. Entsprechend suchte das Planungsteam eine geeignete Konstruktion im Analogen. Dabei erwiesen sich sowohl die handwerklichen Techniken als auch die diesen verbundenen Materialien als widerständig gegenüber den Prinzipien des digi- talen Modells. Eine handwerkliche Bearbeitung folgt zunächst den materialinhärenten Eigenschaften. Sie sucht die materi- algerechte Konstruktion, und das Ausgangsmaterial Holz ist zunächst eben nicht per se flexibel, elastisch und frei formbar. Gerade diese Widersprüchlichkeit aber ermöglicht ein Anders- und vielleicht Weiterdenken des gegebenen Entwurfsmodells. Für die Lösung im konkret gewählten Beispiel ist zunächst noch ein Blick in die Entwurfsparameter notwendig. Die Kurven bewe- gen sich nicht nur entlang ihrer Längsachse, sie drehen sich auch um ihre eigene Achse (Abb. 3). Darin findet sich der Ansatz für eine handwerkliche Bearbeitung der gegebenen Geometrie, der sich vom Bild des Drahtmodells respektive des Renderings löst und tiefer in die Struktur des Entwurfskonzepts eindringt. Es gibt nun zwei Richtungen zu bearbeiten, zum einen eine Kurve in x-Richtung, zum anderen die Drehung um die Kurvenachse. Entgegen der bereits fertigen Form, wie sie im 3D-Modell vermittelt ist, sucht die Ausführung diese nicht in einem kohärenten geglätteten Graphen mit Materialstärke nachzubilden, sondern setzt die Bögen aus Einzelteilen zusammen – aus Kanthölzern mit dem Querschnitt 40 mm x 40 mm, bei jeweils gleicher Länge, die der Bogenbreite entspricht. Mit einer mittigen Bohrung versehen, können die 99 DAS MODELL FACHAKADEMIE → INHALT Abb. 3: Drehung der Kurven um ihre eigene Achse. Axonometrie: FAK Cham Abb. 4: Geometrie der gebogenen Stahlrohre, Auffädelung der Kanthölzer. Detailzeichnung (Ausschnitt) und Foto: FAK Cham Kanthölzer nun auf ein in Form des Graphen vorgebogenes Stahlrohr aufgefädelt werden. Das Material folgt so von selbst der Kurvengeometrie, ebenso ist die Möglichkeit der Drehung um die Kurvenachse bereits in der Konstruktion angelegt. Die einzelnen Hölzer werden in Position gebracht und miteinander verleimt. Eine lagenweise Verschraubung gewährleistet den nöti- gen Anpressdruck und die Lagesicherung. Damit sie transportiert werden können, sind die Bögen in drei Abschnitte demontierbar; die Stöße werden durch Steckverbindungen biegesteif verbun- den. Nach der Fertigmontage am Messestand präsentieren sich die Bögen freitragend. Ihre eigenfrequente Schwingung korres- pondiert mit der geometrischen Konzeption (Abb. 4). 100 EKKEHARD DRACH Der fertige Stand zeigt die Auseinandersetzung mit dem Material. Dabei soll gerade die Widerständigkeit der Übertragung des digi- talen Modells in die gebaute Realität nicht kaschiert werden, entsprechend wurde auf eine Glättung der Oberflächen verzich- tet (Abb. 5). Dieses Beispiel sollte zeigen, wie die Studierenden der FAK sich einer Entwurfsaufgabe stellen und zu welchen Ergebnissen die Parallelführung von Zeichensaal und Werkstatt führen kann. Indem hier das handwerkliche Tun als Impulsgeber eines vertieften Entwurfsverständnisses gesehen wird, finden sich Formate wie ein ‚learning through making’, die im univer- sitären Umfeld aktuell intensiv diskutiert 15 werden, an der FAK bereits verwirklicht. Das Ende der FAK Cham und die Potenziale des Modells Fachakademie Das Potential des Modells Fachakademie liegt zu einem Großteil darin, dass die Bewerberinnen und Bewerber bereits eine ein- schlägige Berufsausbildung, Erfahrung und Talent einbrin- gen und so tatsächlich substanzielles Wissen und vertiefte Fertigkeiten innerhalb eines sehr kurzen Curriculums vermittel- bar sind. Dies macht die Stärke des Schultyps aus. Gleichzeitig waren diese hoch angesetzten Einstiegsqualifikationen im Fall der Chamer Fachakademie ein ernsthaftes Problem für den Bestand der Schule. Ursprünglich gegründet, um auch talentier- ten Handwerkern eine hochschuladäquate Weiterqualifizierung zu ermöglichen, stand die Institution Fachakademie seit der Öffnung der Hochschulen für entsprechend qualifizierte Handwerkerinnen und Handwerker vor einem Dilemma. Einerseits war das Beharren auf die einschlägigen Einstiegsqualifikationen essentiell, um das Lehrkonzept in seiner bestehenden Form aufrecht zu erhalten. 15 Beispielsweise in der Konferenz und Aus- stellung „Hands On. Enhancing architectural education“ an der TU Wien 2016 oder der ‚arts & crafts summer school’ „hands on in scale 1:1“, veranstaltet von der Universität Liechtenstein und Werkraum Bregenzerwald 2015. 101 DAS MODELL FACHAKADEMIE → INHALT Abb. 5: FAK Cham, Messestand auf der imm cologne, 2016. Foto: FAK Cham Denn es machte ja gerade die Attraktivität dieses Schultyps aus, Erfahrung und neu erworbenes theoretisches Wissen im Abgleich auszutesten und gegenseitig zu bereichern. Gleichzeitig war die Schule in der Werbung um die für den Erhalt des Lehrbetriebs notwendigen Schülerzahlen einem erheb- lichen Konkurrenzdruck ausgesetzt – sowohl von Seiten des Handwerks selbst (erfahrene Handwerker und Handwerkerinnen und qualifiziert Ausgebildete sind auch dort gesucht) als auch von Seiten der Hochschulen, die ein Studium mit deutlich be- und anerkannterem Abschluss anbieten. Der von den Fachakademien vergebene Abschluss erweist sich innerhalb veränderter Lehrlandschaften als nicht konkurrenz- fähig. Während mit dem Bologna-Prozess eine europaweite Harmonisierung von Studiengängen und -abschlüssen angestrebt wird, bleiben der ‚Staatlich geprüfte Raum- und Objektdesigner’ und die ‚Staatlich geprüfte Raum- und Objektdesignerin’ außen vor. Obwohl ein ‚learning by making’, das Arbeiten an und mit manuell hergestellten Artefakten, im bestehenden Lehrkonzept bereits praktiziert wurde, konnte der Lehrbetrieb an der FAK Cham nicht über das akademische Jahr 2016/17 hinaus aufrechterhal- ten werden. Die Schule wurde mit Semesterende geschlossen. Jedoch könnte eine Chance für das Modell Fachakademie gerade in der durch den Bologna-Prozess angestoßenen Mobilität im Bildungssystem liegen, da sich die spezifischen Qualitäten der 102 EKKEHARD DRACH Ausbildung an einer Fachakademie sinnvoll in eine sich verän- dernde Bildungslandschaft einbinden ließen. Gewährleistet das dem Bologna-Prozess zugrundeliegende Punktesystem der ECTS-Credits zur Bewertung von Studienleistungen doch nicht nur deren gegenseitige Anerkennung durch verschiedene nationale und internationale Hochschulen, wodurch die Bewegungsfreiheit und der Austausch zwischen gleichartigen Schulen erleichtert ist. Neu geregelt wird auch die vertikale Verknüpfung zwischen verschiedenen Ausbildungssystemen und Ausbildungsstufen. Bereits mit der Berufsausbildung werden ECTS-Punkte erworben; ebenso können die an einer Fachakademie absolvierten Leistungen innerhalb des gemein- samen Punktesystems bewertet werden. Das würde bedeu- ten, dass die momentan praktizierte Parallelführung von hand- werklicher Ausbildung – die mit der Meisterprüfung als höchste Qualifikationsstufe endet –, den Fachakademien in der Mitte und dem akademischen Bildungsweg überwunden werden könnte. Gerade im Feld der Architektur- und Designausbildung und ins- besondere auch angesichts aktueller Diskussionen um ange- wandte Designforschung lieferte die Integration handlungsorien- tierter Lehrkonzepte spannende Impulse. Dass eine derartige Verknüpfung von Kompetenzen aktuell als attraktive Variante der Design- und Architekturausbildung betrach- tet wird, zeigen die Kooperationskonzepte, die verschiedene Technische Hochschulen ausgearbeitet hatten, um ihr Studium mit dem Arbeiten an der Fachakademie Cham zu verbinden. Gerade angesichts des vollzogenen Übergangs vom Analogen zum Digitalen in der Praxis architektonischen Entwerfens wird die manuelle Werkstattarbeit als wertvolle Ergänzung in der Entwurfslehre gesehen, und auch die Entwurfsforschung sollte hiervon profitieren. Die Möglichkeiten digitaler Modellierung und die aktuellen Erfolge in der Verquickung von ‚computer-ai- ded design’ (CAD) und ‚computer-aided manufacturing’ (CAM) mögen ein handwerkliches Arbeiten entbehrlich erscheinen las- sen. Trotzdem böte die vergleichende Reflexion digitaler und handwerklicher Methoden, Voraussetzungen und Ziele eine Möglichkeit, aktuelle Entwicklungen in einen größeren Kontext 103 DAS MODELL FACHAKADEMIE → INHALT einzuordnen. Gegenüber algorithmischen, regelbasierten oder selbstgenerativen Produktionsverfahren, die ja gerade die Autonomie von einem entwerfenden Subjekt suchen, können mit der Erfahrung von Handlungskompetenz im manuellen Tun viel- leicht verdeckte Konfliktfelder besser diskutiert werden, wie sie im Austarieren von Entwurf, Wirklichkeits- sowie Sinnkonstruktion zutage treten. 104 ANNE STENGEL ANNE STENGEL Architekturlehre und Praxisbezug unter Hannes Meyer am Bauhaus Dessau 1928 bis 1930 Der Schweizer Architekt Hannes Meyer reformierte in sei- ner Zeit als Direktor des Bauhaus Dessau (1928–1930) die Architekturausbildung an dieser Schule. Während dieser Zeit entstanden auch fünf Laubenganghäuser als Teil der geplanten Erweiterung der Stadtsiedlung Dessau-Törten. Sie stellen das zen- trale Bauvorhaben dar, das aus der Bauabteilung des Bauhauses unter Meyer hervorgegangen ist – neu war überdies, dass die Häuser in allen Leistungsphasen von Studierenden des Bauhaus Dessau entworfen, geplant und realisiert worden sind. Ziel dieses Beitrags ist, die Einheit von Forschung, Praxis und Lehre – als zentraler Idee der Bauhauslehre – entlang dieses Bauprojektes zu zeigen. Denn es verkörpert einen relevanten Aspekt des Pädagogikkonzepts Meyers – die Bindung der Lehre an einen realen Bauauftrag. Zur ‚Baulehre‘ am Bauhaus Dessau Bereits zur Zeit der Übersiedlung des Bauhauses von Weimar nach Dessau im Frühjahr 1926 plante Walter Gropius den Ausbau der ‚Baulehre‘ am Bauhaus Dessau in engem Bezug zur Baupraxis. 1 Für den Aufbau der Bauabteilung wandte er 1 Aus dem Lehrplan des Bauhauses in Des- Baulehre und Entwerfen am Bauhaus. 1919– sau (1925) zitiert nach Klaus-Jürgen Winkler: 1933. Weimar 2003, S. 21. 105 ARCHITEKTURLEHRE UND PRAXISBEZUG UNTER → INHALT HANNES MEYER AM BAUHAUS DESSAU sich zunächst an den niederländischen Architekten Mart Stam (1899–1986), der den Posten jedoch nicht annahm 2 und erst einige Jahre später unter Hannes Meyer als Gastdozent am Bauhaus tatsächlich in Erscheinung treten sollte. Zu genau die- sem Schweizer Architekten Hannes Meyer (1889–1954) suchte Gropius im Dezember 1926 erstmals Kontakt. 3 Bereits zum 1. April des Jahres 1927 nahm Meyer die Berufung ans Bauhaus Dessau an und agierte dort bis zum 31. März 1928 vorerst als Meister für Architektur – er leitete damit auch die Architekturabteilung –, ehe er am 1. April 1928 Walter Gropius als Direktor des Bauhaus Dessau ablöste. Die Leitung der Bauabteilung behielt er weiter- hin inne. Den Diplom-Urkunden einzelner Studierender kann ent- nommen werden, dass Meyer im Zeitraum vom Wintersemester 1927/28 bis zum Wintersemester 1928/29 durch Hans Wittwer Unterstützung in der Leitung der ‚Baulehre‘ erhalten hatte. Zum 1. August 1930 wurde Hannes Meyer aus politisch motivierten Gründen fristlos entlassen. 4 Der Aufbau der Bauabteilung am Bauhaus Dessau ging zunächst auf das intensive Bemühen Walter Gropius’ zurück; im Lehrplan von 1925 wird die ‚Baulehre‘ noch wie folgt beschrieben: „vor- bereitung zum freien architektenberuf für befähigte, ausbildung im entwurfsbüro, möglichst im zusammenhang mit praktischen bauaufgaben“ 5. Diese Textstelle zeigt, dass bereits angedacht war, die Studierenden mit der Realität des Architekturbüros und der Baupraxis in Kontakt zu bringen; eine verbindliche Festlegung von praktischen Arbeiten im Curriculum bestand zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht. Jedoch wurden die Studierenden, um praktische Erfahrungen zu sammeln, bald im Privatbüro Walter Gropius’ an der Durchführung aktueller Bauprojekte beteiligt. Der Bauhausschüler Hans Volger war laut 2 Brief Gropius an Meyer, vom 16.12.1926. 4 Hannes Meyer: Mein Hinauswurf aus dem Getty Research Institut. Konvolut Meyer. Bauhaus. In: Das Tagebuch, August 1930, S. 1307–1312. 3 Ebd. 5 Lehrplan Bauhaus Dessau, Druck 11.25 (laut Findbuch auf 1925 datiert), Bauhaus- Archiv Berlin, Inventarnummer 3257/1. 106 ANNE STENGEL dessen Diplom-Urkunde 6 beispielsweise in seinem 4. Semester, während des Sommers 1925, mit der Vergabe der Arbeiten und mit der örtlichen Bauleitung für die Meisterhäuser 2 bis 7 in Dessau beschäftigt. Im Sommer 1926, seinem 6. Semester, beendete er diese „örtliche Bauleitung“ und ebenso die Ausbauleitung am dritten Abschnitt des Neubaus des Bauhausgebäudes in Dessau. Doch auch schon die Studierenden der Weimarer Bauhaus- Werkstätten waren unter Walter Gropius an realen Bauaufgaben, wie beispielsweise der Ausstattung des Versuchshauses am Horn, beteiligt. 7 Die Umstrukturierung der ‚Baulehre‘ wurde noch viel deutlicher in Richtung Praxisbeteiligung und in die Nähe des wirklichen Bauens geführt. Eine tatsächliche Novellierung der Inhalte des Lehrplans ließ sich jedoch erst unter Hannes Meyer und in Dessau umsetzen. Bei Gropius erfuhr die Struktur der Hauptlehre noch die Untergliederung in: „die werklehre in einer der lehrwerkstätten unter abschluß eines gesetzlichen lehrbriefes und die ergänzende formlehre. […] ergebnis: gesel- lenbrief der handwerkskammer, berechtigung zum übergang in die baulehre“ 8, womit der Lehrplan für das ‚Bauatelier‘ auf drei Semester ausgelegt war. Hannes Meyer erweiterte diesen Part nun um weitere drei Semester ‚Baulehre‘ und reduzierte die unter Gropius noch sechs Semester beanspruchende ‚Werklehre‘ auf zwei. 9 Genauer beschrieben ist diese inhaltliche Strukturierung des Architekturunterrichts während Meyers Direktorat in Klaus- Jürgen Winklers Publikation zum Architekturunterricht an allen drei Stationen des Bauhauses aus dem Jahr 2003. 10 6 Diplom Nr. 14 vom 6.4.1931, Hans Volger, Bauhaus-Archiv Berlin, ohne Inventarnummer. 7 Hartmut Probst, Christian Schädlich: Walter Gropius. Band 2: Der Architekt und Pädagoge. Berlin 1987, S. 178. 8 Lehrplan Bauhaus Dessau 1925 (Anm. 5). 9 Informationen aus dem Schema zum Thema Lehrplan der Bauabteilung unter Gropius, Meyer und van der Rohe, Bauhaus- Archiv Berlin, Inventarnummer I_20_1. 10 Winkler 2003 (Anm. 1), S. 24. 107 ARCHITEKTURLEHRE UND PRAXISBEZUG UNTER → INHALT HANNES MEYER AM BAUHAUS DESSAU Die Bauabteilung ab 1928 Im Prospekt Junge Menschen kommt ans Bauhaus 11, wel- cher 1929 publiziert wurde, wird der nunmehr veränderte Ausbildungsplan dargestellt. Die angehenden Architektinnen und Architekten mussten, wie auch die Studierenden anderer Ausbildungszweige, ein Semester lang den Vorkurs besuchen. Die beiden folgenden Semester wurden dann in der sogenannten Bauwerkstätte absolviert. Hier hatten die Studierenden die Wahl zwischen Metallwerkstatt, Tischlerei und Wandmalerei. Ziel die- ser Ausbildungsetappe war die „förderung der handwerklichen ausbildung und der gestalterischen kräfte […] besuch der theore- tischen, künstlerischen und wissenschaftlichen kurse“. 12 Darauf folgend konnten die Auszubildenden zwischen Bauabteilung, Tischlerei, Metallwerkstatt, Wandmalerei, Weberei, Reklame und Druckerei, Bauhausbühne und freier malerischer und plas- tischer Gestaltung wählen. Für die angehenden Architektinnen und Architekten folgte im 4. bis 6. Semester die „Baulehre“: „sie vermittelt dem ausgebildeten gesellen ein vertieftes wissen um die erkenntnis der triebkräfte aller gestaltung. ihr zweck ist nicht ausschließlich, architekten auszubilden: auch den gesellen ver- mitteln sie durch das studium des wesens aller lebensgestaltung eine erweiterung seines beruflichen wissens und die einsichtige eingliederung seines tuns in die heutige gesellschaft. – dem bau- beflissenen lehrt sie eine bauwissenschaftliche denkweise nach dem grundsatz: bauen heißt ‚gestaltung aller lebensvorgänge’“. 13 Die letzten drei Semester der ‚Baulehre‘, die dann im sogenann- ten Bauatelier absolviert werden sollten, sind wie folgt beschrie- ben: „die mitarbeit im bauatelier ist in der regel dem werdenden architekten vorbehalten. es werden alle in der ‚gebührenordnung der architekten vom juli 1926‘ aufgeführten arbeiten für rechnung dritter im sinne eines architekturbüros durchgeführt. Das bauate- lier soll im studium über die produktion die bestmögliche einfüh- rung in die baupraxis vermitteln.“ 14 11 Junge Menschen kommt ans Bauhaus, 13 Ebd. Bauhaus-Archiv Berlin, Inventarnummer 7529. 14 Ebd. 12 Ebd, S. 16. 108 ANNE STENGEL Im Vergleich zu den anderen Werkstätten dauerte die Ausbildung in der Bauabteilung mit neun Semestern am Längsten. Für den handwerklichen Teil in den drei Bauwerkstätten wurden beispiels- weise in der Tischlerei im Lehrplan sechs bis sieben Semester veranschlagt. 15 Eine weitere Veränderung in der Struktur der einzelnen Werkstätten ist im Sommer 1929 vollzogen worden – die Zusammenlegung von Metallwerkstatt, Tischlerei und Wandmalerei zur sogenannten Ausbauwerkstatt beziehungs- weise Ausbau-Abteilung. Die Auswertung der Bauhaus-Diplome verschiedener Studierender, die zwischen 1928 und 1930 am Bauhaus Dessau eingeschrieben waren, zeigt, dass beispiels- weise Alfred Arndt seit dem Wintersemester 1929 16 die Seminare „Werkstatt-Theorie“ und „Ausbaupraxis“ in der Ausbau-Abteilung unterrichtete. Die Gehaltsbezüge Arndts belegen ebenso, dass er ab 1. Juli 1929 als „Vertretung des auf ein Jahr nach Russland beurlaubten Herrn H. Scheper in der Abteilung der Wandmalerei und […] in der Organisation der vereinigten Bauwerkstätten (Tischlerei, Metallwerkstatt, Wandmalerei)“ 17 tätig war. Auch die 1930 veröffentliche Darstellung des Studienplans und zugleich das Organisationsschema des Bauhaus Dessau veranschau- licht genauer die zur Ausbauwerkstatt vereinigten Abteilungen sowie die Untergliederung der Bauabteilung in „Baulehre“ und „Baubüro.“ 18 Hannes Meyer integrierte darüber hinaus mit Beginn seiner Tätigkeit am Bauhaus Dessau den Städtebau und das Siedlungs- wesen in die ‚Baulehre‘. Bereits im Sommersemester 1927 hielt er, laut Diplom-Urkunde Arieh Sharons 19, Vorträge zum Thema „Siedlung und Kleinhaus“ sowie im Wintersemester 1927/28 zum Thema „Städtebau“. Ab dem Sommersemester 1928 wurden 15 Ebd., S. 17. 18 Organisationsschema, Archiv der Moderne Weimar, Inventarnummer PSD_5_001_446. 16 Diplom Nr. 51 vom 10. Juni 1931, Reinhold Rossig, Bauhaus-Archiv Berlin, ohne Inventar- 19 Diplom Nr. 6 vom 27.11.1929, Arieh Sharon, nummer. Bauhaus-Archiv Berlin, Inventarnummer 2011- 25/1-4. 17 Gehaltsbezüge Alfred Arndt, 1929–1932, Abschrift der Akte 059/29 I, vom 31.7.1929, Magistrat der Stadt Dessau, Rechnungsamt. Stadtarchiv Dessau, Inventarnummer B/45, aus der Sammlung Bauhaus. 109 ARCHITEKTURLEHRE UND PRAXISBEZUG UNTER → INHALT HANNES MEYER AM BAUHAUS DESSAU regelmäßig Gastkurse zu städtebaulichen Themen gehalten, die sich ebenso mit Hilfe von mehreren Bauhaus-Diplomen nach- weisen lassen: Gastkurs Mart Stams zum Thema „Städtebau“ im Sommersemester 1928 20 und Wintersemester 1928/29 21; Gastkurs Richard Neutras zum „Städtebau“ im Sommersemester 1930. 22 Mit der Einstellung von Ludwig Hilberseimer im Sommersemester 1928 wurde die Auseinandersetzung mit städtebaulichen Fragen fest im Lehrplan integriert und damit zu einem kontinuierlichen Bestandteil der „Baulehre“. Es steht zu vermuten, dass diese vermehrte Orientierung der Dessauer Lehre hin zu Fragen des Städtebaus einerseits als disziplinäre Erweiterung, andererseits auch als dem persönlichen Interesse Hannes Meyers geschul- det verstanden werden kann. Ähnlich verhielt es sich mit der verstärkten Integration der Architekturfotografie, die, so ein weiteres Novum unter Meyer, nun zur Errichtung einer eigenen Fotoabteilung unter der Leitung von Walter Peterhans führte. Über einen seiner Gehaltsbezüge ist nachweisbar, dass er zum 1. November 1929 im Bauhaus Dessau als deren Leiter angestellt worden war. 23 Erweitertes Lehrangebot: Praktika, Gastvorträge, Fachzeitschriften Die Architekturschüler absolvierten Praktika auf Baustellen und wurden zu diesem Zweck für sogenannte „Außensemester“ vom Unterricht freigestellt. So verbrachte beispielsweise der Student Philipp Tolziner laut seinem Diplom 24 im Sommersemester 1929 eine gewisse Zeit in Frankfurt a. M. und arbeitete dort mit Mart Stam am Bau des jüdischen Altenheims 25. Im gleichen Semester 20 Diplom Nr. 77 vom 5.7.1932, Wera 23 Gehaltsbezüge Peterhans. Stadtarchiv Meyer-Waldeck, Bauhaus-Archiv Berlin, Inven- Dessau, Inventarnummer SB/49. tarnummer 11463-8. 24 Diplom Nr. 17, 1930 (Tolziner) (Anm. 21). 21 Diplom Nr. 17 vom 26.9.1930, Philipp Tol- ziner, Bauhaus-Archiv Berlin, Inventarnummer 25 Manuskript Tolziner, Bauhaus-Archiv Ber- III-7-3-20. lin, Inventarnummer III-7-3, S. 2. 22 Diplom Nr. 47 vom 8.6.1931, Rudolf Sander, Bauhaus-Archiv Berlin, ohne Inventarnummer. 110 ANNE STENGEL war er auch „am entwurf und an den statischen berechnungen fuer das ausfuehrungsprojekt der laubenganghaeuser [Dessau- Törten]“ 26 beteiligt. Die Bauhausschülerinnen und -schüler hatten zudem die Gelegenheit, durch Gastvorträge internationaler Referenten, die zur Zeit Hannes Meyers regelmäßig stattfanden, Einblicke in die aktuellen Diskurse verschiedenster Fachrichtungen zu erhalten. Zu baurelevanten Themen sprachen beispielsweise am 7.  Dezember 1928 Paul Forgo-Fröhlich aus Budapest über „Neues Bauen in Ungarn“ 27 und am 18. April 1929 der Stadtbaurat Max Berg aus Berlin zu „Städtebau und heutige Geisteskultur“ 28. Auch andere Themengebiete wurden abgedeckt, so fand etwa am 27. Mai 1929 ein Vortrag Otto Neuraths vom Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Wien zum Thema „Bildstatistik und Gegenwart“ statt. 29 In den Diplom-Urkunden der Bauhausschülerinnen und -schüler werden alle besuchten Veranstaltungen aufgeführt, wobei sich zeigt, dass die Vorträge der Gastdozenten offensichtlich gut ange- nommen und frequentiert waren. Wie bereits angemerkt, gab Mart Stam zur Zeit Hannes Meyers mehrere Gastkurse am Bauhaus. Über die genannten Beiträge zum Städtebau hinaus waren bei- spielsweise im Sommersemester 1928 und Wintersemester 1928/29 „Allgemeine Baulehre“ und im Sommersemester 1929 „Architektur“ die Themen. Als ein weiteres Informationsmittel, mit dessen Hilfe die Architektur-Studierenden am Bauhaus Dessau in engeren Kontakt mit baupraktischen Fragen gebracht werden konn- ten, kann das Zugänglichmachen von Fachzeitschriften gelten. Dieser Teil des erweiterten Lehrangebots ist beispielsweise über eine Zeitschriftenliste, die sich im Bauhaus-Archiv Berlin befin- det, einzusehen. 30 So werden dort folgende Titel aufgeführt, 26 Gehaltsbezüge Peterhans. Stadtarchiv 29 Bauhaus. Zeitschrift für Gestaltung 2 (1929), Dessau, Inventarnummer SB/49. S. 28. 27 Bauhaus. Zeitschrift für Gestaltung 1 (1929), 30 Zeitschriftenliste, Bauhaus-Archiv Berlin, S. 25. Inventarnummer 3383/8. 28 Ebd., S. 26. 111 ARCHITEKTURLEHRE UND PRAXISBEZUG UNTER → INHALT HANNES MEYER AM BAUHAUS DESSAU die offenbar im Dessauer Bauhaus vorhanden waren: Vu de la semaine [sic], Die Bauwelt, Schlesisches Heim, Baugilde und die Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure. Öffentlichkeitsarbeit Hannes Meyer selbst hielt zur Verbreitung seines Bauhausgedankens und seines Lehrkonzepts Vorträge in ver- schiedenen Städten. Er sprach zum Beispiel am 14. Januar 1929 in Breslau vor der „Gesellschaft der Kunstfreunde“ über „bauen und erziehung zur gestaltung“ und am 3. Mai 1929 in Basel ebenso über „bauen und erziehung“. 31 Im selben Jahr folgten wei- tere Vorträge zu diesem Thema, so an der Hochschule Nürnberg und in der Kunsthalle Mannheim. Ein weiteres Mittel zur Verbreitung der Besonderheiten der Dessauer Baulehre waren Ausstellungen, wie beispielsweise eine zwischen 21. April und 20. Mai 1929 im Gewerbemuseum Basel stattgefundene. Dort wurden Arbeiten aus „dem werkli- chen formunterricht, der baulehre und bauabteilung, sowie den werkstätten und freien malklassen des bauhauses“ 32 gezeigt. Die Ausstellung in Basel war die erste Etappe der bauhaus-wander- schau, die nachfolgend in Breslau, Dessau, Essen, Mannheim und abschließend von Juli bis August 1930 in Zürich zu sehen war. Jede einzelne Ausstellung folgte einem eigenen inhaltlichen Schwerpunkt. Analysen und Vorstudien in der „Baulehre“ „bauen ist ein biologischer vorgang. bauen ist kein ästhetischer prozeß. elementar gestaltet wird das neue wohnhaus nicht nur eine wohnmaschinerie, sondern ein biologischer apparat für see- lische und körperliche bedürfnisse […]. bauen heißt die überlegte organisation von lebensvorgängen. bauen als technischer vor- gang ist daher nur ein teilprozeß. bauen ist nur eine organisation: 31 Bauhaus 1929 (Anm. 27), S. 25. 32 Ebd. 112 ANNE STENGEL soziale, technische, ökonomische, psychische organisation“. 33 Die in diesem Zitat Hannes Meyers beschriebene, interdiszipli- näre Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaften ‚vor‘ dem Entwurfsprozess spiegelte sich letztlich in dessen Lehrkonzept wider und stellte ein Alleinstellungsmerkmal seiner propagier- ten und praktizierten „Baulehre“ dar. Verschiedene Prozesse, wie beispielsweise die Abläufe in unterschiedlichen Phasen des menschlichen Alltags, wurden im Vorfeld wissenschaftlich ana- lysiert, bevor sie im Entwurfsprozess in architektonische Formen übersetzt werden konnten. Bekannte Beispiele des unmittelba- ren Einfließens der in den Studien gesammelten Erkenntnisse in den Entwurfsprozess sind die Analyse des Sonnenstands 34, eine Untersuchung des Studenten Heiner Knaub zum Thema „Der Garten als Erweiterung des Lebensraums“ 35 oder die Analyse der „Tagesabläufe eines Steuermanns“ 36. Dass solche Studien zur Bedürfnisermittlung und folglich die Integration der Erkenntnisse in die Entwurfsaufgaben als gesellschaftlich relevante Aufgabe angesehen waren, schreibt beispielsweise auch die Anhalter Rundschau im November 1928: „Die Arbeit des Bauhauses soll Dienst am Volke sein. Das Bauhaus müsse daher die Bedürfnisse der Gemeinschaft und des Volkes selbst studieren. Nicht Luxus schaffen, sondern der großen Not aller Kreise zu helfen, wo es mit den schwachen zur Verfügung stehenden Kräften nur immer gehe, sei die Aufgabe des Institutes.“ 37 Praktische Arbeit: Gebaute Beispiele: Bernau, Mayen, Dessau „Zunächst machte Hannes Meyer die Bauausbildung funktionsfä- hig, sorgte – wie erwähnt – für Berufung anerkannter Architekten und Ingenieure, verzichtete innerhalb des Bauhauses auf ein eigenes Architekturbüro und ließ alle anfallenden Aufträge durch 33 Bauhaus. Zeitschrift für Gestaltung 4 (1928), 35 Unterrichtsstudien zum Thema Garten, S. 12f. Bauhaus-Archiv Berlin, Inventarnummer I-19-3. 34 Sonnenstandsberechnungen, Bauhaus-Ar- 36 Lebensausschnitt eines Steuermanns auf chiv Berlin, Inventarnummer I-19-9. dem Kahn, Bauhaus-Archiv Berlin, Inventar- nummer I-19-10. 113 ARCHITEKTURLEHRE UND PRAXISBEZUG UNTER → INHALT HANNES MEYER AM BAUHAUS DESSAU Studierende der Baulehre, besonders aber der Bauabteilung bearbeiten. Die Bauabteilung fügte sich als Werkstatt dem all- gemeinen Ordnungsprinzip des Bauhauses besser ein. Die Studenten waren wie in den Handwerkstätten, entsprechend ihren Leistungen auch finanziell an dem Ergebnis ihrer Arbeit beteiligt.“ 38 In der Zeit Hannes Meyers als Direktor entstand eine Reihe von Bauten, an denen die Bauhauseleven verschie- dener Werkstätten beteiligt waren. Wie intensiv Studierende tatsächlich in Bauprojekte – bis hin zur kompletten Übernahme aller Leistungsphasen – involviert waren, lässt sich in den folgend dargestellten Zeitabschnitten und an einigen Beispielen ablesen. Der erste Fall ist die Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) in Bernau, welche zwischen Mai 1928 und August 1930 nach Entwürfen der Architekten Hans Wittwer und Hannes Meyer entstanden war. Die Gebäude wurden vom eigens dafür gegründeten Büro Hannes Meyers geplant und umgesetzt 39, denn die Kapazitäten der Bauabteilung am Bauhaus waren zu jener Zeit noch zu gering, um einen Auftrag dieses Volumens realisieren zu können. Dennoch, die Studierenden des Bauhaus Dessau und seiner verschiedenen Werkstätten wur- den über den Weg der Praktika an der Ausführung beteiligt. In der Bauhaus-Zeitschrift von 1929 ist das ADGB-Projekt in der Liste der am Bauhaus aktuellen Aufträge als Nr. 609, „neubau bundesschule ADGB bernau bei berlin, ausführung (hannes meyer)“ 40, aufgeführt. Wieder mit Hilfe der Diplom-Urkunden der Bauhäuslerinnen und Bauhäusler lässt sich die Beteiligung beispielsweise folgender Studierender belegen: Wera Meyer- Waldeck aus der Ausbauabteilung (Tischlerei) war zuständig für Innenausbau/Möblierung; Konrad Püschel absolvierte ein Baupraktikum, um im Sommer 1929 „während des ganzen semes- ters beurlaubt […] praktisch auf dem bau der bundesschule des 37 Anhalter Rundschau, 23. November 1928. 39 Klaus-Jürgen Winkler: Der Architekt Han- nes Meyer. Anschauungen und Werk. Berlin 38 Konrad Püschel: Wege eines Bauhäus- 1989, S. 94. lers. Erinnerungen und Ansichten. Dessau 1997, S. 41. 40 Bauhaus. Zeitschrift für Gestaltung 2/3 (1929), S. 32. 114 ANNE STENGEL ADGB. bernau bei berlin zu arbeiten“ 41; Philipp Tolziner leis- tete „mitarbeit an den statischen berechnungen fuer die bun- desschule des A.D.G.B. in bernau bei berlin“ 42; und im Diplom Nr. 6 von Arieh Sharon vom 27. November 1929 43 sind unter den Punkten 6 bis 8 folgende Tätigkeiten beschrieben: „mitarbeit am wettbewerbs-projekt: bundesschule des a.d.g.b.( ADGB) ber- nau bei berlin“, „praktische mitarbeit an folgenden plänen für den neubau der bundesschule des ADGB: baupolizeipläne 1:100; ausführungspläne 1:50; sowie den detailplänen“ und „zeitweise vertretung der örtlichen bauleitung der bundesschule ADGB bernau.“ 44 Die Form der Beteiligung von Studierenden an rea- len Bauaufgaben entsprach – so lässt sich daraus folgern – noch jener Vorstellung von Nähe zur Baupraxis, wie sie Gropius in sei- ner Zeit als Direktor des Bauhauses praktiziert hat – nämlich als Mitarbeit im privaten Baubüro. Das zweite Baubeispiel – Haus Nolden in Mayen in der Eifel 45 – zeigt nun die nächste Stufe der Beteiligung von Studierenden am realen Umsetzungsprozess. Der Entwurf stammte dabei aus der Hand eines Bauhausschülers; die Realisierung erfolgte durch den zu diesem Zeitpunkt dann schon ehemaligen Bauhausstudenten unter der Leitung eines Dozenten. Das Ehepaar Nolden hatte sich bereits 1926/27 an Gropius in Dessau gewandt, um sich ein Haus im ‚Bauhausstil‘ bauen zu lassen. Haus Nolden entstand nach Entwürfen des Studenten Hans Volger von Ende Mai bis Ende November 1928. 46 In der Bauhaus-Zeitschrift Nr. 4 von 1929 wird beschrieben, dass „Entwürfe, Konstruktion, Bauleitung und Wirtschaftliches“ 47 durch Volger und unter der Leitung von Hans Wittwer bearbeitet wurden. An dieser Stelle sei erwähnt, dass Volger laut Diplom-Urkunde sein Studium mit Abschluss des Wintersemesters 1927/28 erfolgreich beendet hat, aufgrund 41 Püschel 1997 (Anm. 38), S. 53. Haus Dr. Nolden. Ein BAUHAUS-Bau in der Eifel, 1928. Hildesheim 1982, S. XVIII. Das Ge- 42 Diplom Nr. 17, 1930 (Tolziner) (Anm. 21). bäude ist heute nicht mehr erhalten, es wurde bei einem Luftangriff am 29. Oktober 1944 43 Diplom Nr. 6, 1929 (Sharon) (Anm.19). komplett zerstört. 44 Diplom Nr. 17, 1930 (Tolziner) (Anm. 21). 46 Diplom Nr. 14 vom 1931 (Volger) (Anm. 6). 45 Wiltrud und Joachim Petsch (Hg.): 47 Bauhaus. Zeitschrift für Gestaltung 4 (1929), S. 27. 115 ARCHITEKTURLEHRE UND PRAXISBEZUG UNTER → INHALT HANNES MEYER AM BAUHAUS DESSAU längerer Abwesenheit ihm diese jedoch erst später ausgehän- digt wurde. 48 In der Publikation von Wiltrud und Joachim Petsch zum Haus Nolden ist nachzulesen, dass Hans Wittwer bei der Bauabnahme anwesend, während der Bauzeit jedoch einzig Hans Volger vor Ort gewesen sei. Wie groß der Einfluss Wittwers zur Zeit der Ausführung des Bauprojekts tatsächlich war, konnte bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht verifiziert werden. Doch ein Großteil der Entwürfe für die Ausstattung des Gebäudes, wie beispielsweise für die Küchenschränke, erfolgte durch Volger selbst, und die Beteiligung der Bauhaus-Werkstätten konnte für den Entwurf von biegsamen Lampen nachgewiesen werden, die dann industriell hergestellt worden sind. 49 Das abschließende Beispiel der Laubenganghäuser (Abb.1) als einer vom Bauhaus Dessau geplanten, allerdings nur in Teilen rea- lisierten Erweiterung der Siedlung Dessau-Törten, steht nun für die letzte Phase der Verschränkung von Baulehre und Baupraxis. Von den ursprünglich zehn geplanten Laubenganghäusern wur- den 1929/30 nur fünf realisiert, diese allerdings sind bis heute und durchgehend als Mietshäuser genutzt. Auftraggeber war die Dessauer Spar- und Baugenossenschaft, in deren Eigentum die Laubenganghäuser ebenfalls bis heute stehen. In einem resümierenden Vortrag im Jahr 1939 sprach Hannes Meyer an der Universität San Carlos in Mexiko-Stadt darüber: Lehrer und Eleven „entwarfen für die Stadt Dessau den Ausbau der Siedlung Törten und führten 1930 mit 12 Studierenden den Entwurf, die Bauleitung und die Abrechnung von 90 Volkswohnungen durch, wobei der einzelne Studierende 100-120 RM monatlich zugewie- sen bekam. Wir waren alle stolz auf diese Leistung produktiver Zusammenarbeit der Studierenden und Meister.“ 50 Die fünf Laubenganghäuser wurden unter dem Direktorat Meyers in allen Leistungsphasen im Sinne seines novellierten Lehrprinzips unter der Ägide der Bauabteilung des Bauhauses realisiert (Abb.  2). Die relativ kurze Bauzeit kann zwischen Januar und August 1930 nachgewiesen werden. Die Bauten 48 Diplom Nr. 14, 1931 (Volger) (Anm. 6). 50 Lena Meyer-Bergner (Hg.): Hannes Meyer. Bauen und Gesellschaft. Schriften, Briefe, 49 Petsch 1982 (Anm. 45), S. XXVI. Projekte. Dresden, 1980, S. 211. 116 ANNE STENGEL Abb. 1: Laubenganghaus Dessau-Törten, Nordfassade, um 1930. Fotograf unbekannt, Vintage Print, 13,0 x 18,0 cm, Inv.-Nr. I 1618/4 F, Archiv der Stiftung Bauhaus Dessau Abb. 2: Laubenganghäuser Dessau-Törten, Südansicht in der Peterholzstraße, um 1930. Fotograf unbekannt, 1930, Vintage Print, 13,0 x 17,9 cm, Inv.-Nr. I 1619/4 F, Archiv der Stiftung Bauhaus Dessau 117 ARCHITEKTURLEHRE UND PRAXISBEZUG UNTER → INHALT HANNES MEYER AM BAUHAUS DESSAU spiegeln einerseits das damals propagierte Prinzip der ‚verwis- senschaftlichten‘ Architekturlehre wider, und geben andererseits das musterhafte Beispiel eines realen Auftrags, gebunden an die „Baulehre“ ab. Sie sind das zentrale Bauvorhaben, welches aus der Bauabteilung unter Hannes Meyer hervorging. Anhand verschiedener Archivalien aus dieser Zeit, wie den Diplom- Urkunden der Bauhaus-Studierenden zwischen 1928 und 1930, und mit der Auswertung der vorhandenen Pläne kann eine Reihe von am Bau Beteiligten verifiziert werden. So führte bei- spielsweise Philipp Tolziner im Wintersemester 1929/30 sowie im Sommersemester 1930 die „oertliche bauleitung bei 3 bloe- cken der laubenganghaeuser der dessauer spar- und bauge- nossenschaft in dessau-toerten“ 51 durch. Unter Punkt zehn der Beschreibung seiner Leistungen in der Diplom-Urkunde wird seine „mitarbeit am bebauungsplan, entwurfszeichnung, aus- fuehrungszeichnung fuer das ausfuehrungsprojekt der lauben- ganghaeuser in dessau-toerten“ 52 bestätigt. An derselben Stelle wird die „mitarbeit an der projektierung von laubenganghaeu- sern unter leitung von herrn arch. anton brenner“ 53 erwähnt. Hierbei könnte es sich entweder um die in Dessau-Törten oder um die 1929/30 in Berlin-Steglitz von Anton Brenner und ande- ren geplanten Laubenganghäuser handeln. Auch die Beteiligung des damaligen Studenten Konrad Püschel kann bestätigt wer- den. Seine Diplom-Urkunde führt aus: „mitarbeit an den lau- benganghauesern dessau-törten“ 54. Im Abnahmeprotokoll ein- zelner Blöcke der Laubenganghäuser vom 4. August 1930 wird dessen Tätigkeit als Bauleiter genannt. 55 Auch Hans Volger wird im Protokoll als Bauleiter geführt. Zudem ist in dessen Vertrag mit dem Bauhaus vom 3. Dezember 1929 seine Anstellung zum 1. Dezember 1929 „zur Durchführung für die unter Leitung von Hannes Meyer auszuführenden 5 Laubenganghausblöcke der Bau- und 51 Diplom Nr. 17, 1930 (Tolziner) (Anm. 21). 55 Abnahmeprotokoll, Bauhaus-Archiv Berlin, Inventarnummer 9821/ 7. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Püschel 1997 (Anm. 38), S. 54. 118 ANNE STENGEL Spargenossenschaft Auftrag Nr. 604 mit einer Entschädigung von RM 300,- nachträglich zahlbar“ 56 schriftlich fixiert. Die Diplom- Urkunde Helmut Schulzes vom 10. November 1931 bestätigt: „entwürfe für die bebauungspläne der stadt-siedlung dessau-tör- ten“ und „entwürfe für die laubenganghäuser der stadt-sied- lung dessau-törten unter der leitung der herren architekten l. hilberseimer und hannes meyer“ 57 als Studienleistungen vom Sommersemester 1929 bis Sommersemester 1930. Ludwig Hilberseimer war zum damaligen Zeitpunkt Dozent für Städtebau am Bauhaus Dessau. Die Auswertung der Rechnungen der am Bau der Laubenganghäuser beteiligten Gewerke bestätigt zudem die Beteiligung einzelner Bauhaus-Werkstätten, wie beispielsweise die vertraglich gebundene Beteiligung der Ausbauabteilung/ Wandmalerei. Hannes Meyer konstatiert dazu, „die 90 Volks- wohnungen der Stadtsiedlung Dessau-Törten sind der erste kol- lektiv gestaltete Bauauftrag unserer Bauabteilung“. 58 Bauen unter Meyer als interdisziplinärer Prozess Der einstige Bauhaus-Student Konrad Püschel zieht in sei- nem Tagebuch aus dem Jahr 1929 folgende Bilanz: „Vieles ist geschehen und hat sich geändert. Das Bauhaus hat sich in vielem gewandelt und dies zu seinem Vorteil. Bauabteilung, Baulehre, Bauwerkstatt, Weberei, Reklame und Druckerei und Fotoabteilung. Es kristallisiert sich langsam das heraus, was Gropius wünschte und erhoffte. Ein Bau-haus [sic], was lebt und nach allen Richtungen tätig ist. An Aufträgen fehlt es nicht. Die Bauabteilung, der ich jetzt angehöre, baut Siedlungen in Törten. Die ehemalige Bauabteilung hat die Bundesschule Bernau 56 Arbeitsvertrag Volger, Bauhaus-Archiv 58 Hannes Meyer: Mein Hinauswurf aus dem Berlin, ohne Inventarnummer. Bauhaus. Offener Brief an Herrn Oberbür- germeister Hesse. In: Meyer-Bergner 1980 57 Diplom Nr. 62 vom 10.11.1931, Helmut (Anm. 50), S. 71. Schulze, Bauhaus-Archiv Berlin, ohne Inventar- nummer. 119 ARCHITEKTURLEHRE UND PRAXISBEZUG UNTER → INHALT HANNES MEYER AM BAUHAUS DESSAU Abb. 3: Laubenganghaus Dessau-Törten, Nordfassade, Eingang Musterwohnung, Peterholzstraße 40, Zustand Juni 2015. Aufnahme: Anne Stengel, 2015 120 ANNE STENGEL errichtet. Diesen Sommer habe ich auf diesem Bau eine herrli- che Zeit erlebt, die mich vom Grund auf erfrischt und erneut hat. Jedem Bauhäusler wünsche ich solche Tage. Die Bauwerkstätten treten in Konkurrenz mit anderen Firmen und können den Kampf unter Führung Arndts ohne weiteres aufnehmen und bestehen.“ 59 Die Einrichtung einer Architekturabteilung und die Umstrukturie- rung der „Baulehre“ am Bauhaus Dessau unter Hannes Meyer setzte nicht nur im Vergleich zum Lehrkonzept des Vorgängers Walter Gropius einen neuen Fokus in der Ausbildung angehender Architekten, sondern Bauen wurde nunmehr als ein interdiszipli- närer Prozess verstanden. Es war außerdem als notwendig ange- sehen, ‚wissenschaftliche‘ Voranalysen in den Entwurfsprozess zu integrieren, auf diesem Wege sollten sich die Studierenden gezielt mit den Bedürfnissen der angehenden Nutzerinnen und Nutzer von Architektur auseinandersetzen. Der verstärkte Praxisbezug und die Bindung der Lehre an einen realen Bauauftrag fanden im Entstehungsprozess der Laubenganghäuser in Dessau- Törten ihren Höhepunkt – und somit sind die Bauten heute die einzigen noch bestehenden, welche aus dieser Umbruchzeit am Bauhaus Dessau unter Hannes Meyer hervorgingen. Deren mittlerweile über 80 Jahre dauernde, ununterbrochene Nutzung als Mietshäuser zeigt den hohen Gebrauchswert der Gebäude. Am 9. Juli 2017 sind die Laubenganghäuser auch aufgrund dieses Alleinstellungsmerkmals in die Liste des UNESCO- Weltkulturerbes aufgenommen worden (Abb. 3). „Alle Gestaltung sei daher im Diesseits zu verankern. Bauen sei ein biologischer Vorgang und kein ästhetischer Prozeß. Bauen sei keine Affektleistung des Einzelnen, sondern eine kollektive Handlung. Bauen sei eine soziale, psychische, technische und ökonomische Organisation der Lebensvorgänge. Bauen sei eine weltanschauliche Demonstration, und die starke Gesinnung sei untrennbar vom starken Werk“ 60, schreibt Hannes Meyer 1930. 59 Tagebuch Konrad Püschel, Bauhaus-Archiv Berlin, ohne Inventarnummer. 60 Meyer-Bergner 1980 (Anm. 50), S. 68f. 121 ARCHITEKTURLEHRE UND PRAXISBEZUG UNTER → INHALT HANNES MEYER AM BAUHAUS DESSAU 122 JULIA WITT JULIA WITT Architekturlehre an den Kunstakademien in der Weimarer Republik Während des Ersten Weltkrieges wurden umfangreiche Reformen an den Kunstakademien im Deutschen Reich angeregt, welche der Architektur als Mutter aller Künste eine zentrale Stellung in den Lehrprogrammen verschaffen sollten. In der Weimarer Republik wurde jedoch nur an der Hälfte der zehn Kunstakademien Architektur gelehrt, nur zwei verfügten über Abteilungen mit mehr als einem Professor für dieses Lehrgebiet. Der Beitrag unter- sucht Struktur, Lehrpläne und Inhalte des Architekturunterrichtes und zeigt anhand von Archivquellen die Diskrepanz zwischen Reformvorstellungen und real durchgeführtem Unterricht auf. Die Reformen der deutschen Kunstakademien in der Weimarer Republik In den 1910er Jahren existierten im Deutschen Reich zehn staatliche Kunstakademien, deren Wurzeln meistenteils bis ins 18.  Jahrhundert zurückreichten. Fünf von ihnen lagen auf preußischem Staatsgebiet. Die älteste Einrichtung war die 1696 gegründete Akademie der Künste in Berlin, die ihren Lehrbetrieb an die 1875 zu diesem Zweck gegründete ‚Königlich- Akademische Hochschule für Bildende Künste‘ verlagert hatte. Weitere preußische Kunstakademien existierten in Düsseldorf (1773) und Kassel (1777) sowie in Königsberg (Kaliningrad, 1790) und Breslau (Wrocław, 1791). Andere deutsche Bundesstaaten leisteten sich nur eine Kunstakademie am Regierungssitz: das Königreich Württemberg in Stuttgart (1761), das Königreich 123 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK Sachsen in Dresden (1764), das Königreich Bayern in München (1808), das Großherzogtum Baden in Karlsruhe (1854) und das Großherzogtum Sachsen in Weimar (1860). 1 Etwa ab 1910 kam es zu Reformbestrebungen an den deutschen Kunstakademien. 2 Während des Ersten Weltkrieges setzte eine in breiter Öffentlichkeit geführte Debatte um die Neuordnung der Künstlerausbildung im Deutschen Reich ein. Der sich anbah- nende gesellschaftliche Umbruch lag quasi schon in der Luft und Entwürfe für die Kunstschule der Zukunft wurden von ver- schiedenen Seiten gezeichnet. So unterschiedlich die Ideen im Detail waren, im Kern enthielten sie zwei wesentliche Merkmale: Zum einen wurde eine Fusion von Kunstakademien und Kunstgewerbeschulen zu Institutionen, welche eine universelle Ausbildung anbieten sollten, präferiert. Zum anderen forderte man eine Stärkung der Architektur. Da die Baukunst als Mutter aller Künste zu den wichtigsten Aufgaben der Kunstakademien gehöre, solle diese zukünftig wieder eine zentrale Stellung in den Lehrprogrammen einnehmen. 3 Diese zentrale Forderung wurde insbesondere von lehren- den Architekten vertreten, exemplarisch seien hier Bruno Paul (Direktor der Berliner Kunstgewerbeschule), Richard Riemerschmid (Direktor der Münchner Kunstgewerbeschule) und Walter Gropius (Direktor des Bauhauses Weimar ab 1919) genannt. Neben der Stärkung der Institution Kunsthochschule hatten sie natürlich auch die Stärkung ihres eigenen Berufsstandes vor Augen. Konkreter Hintergrund war die disparate Situation des Architektenstandes zu Beginn des 20.  Jahrhunderts. Der Beruf 1 Zur Genese der Kunstakademien siehe: Ek- 3 Aus der Flut der Reformschriften seien hier kehard Mai: Die deutschen Kunstakademien im exemplarisch genannt: Bruno Paul: Künst- 19. Jahrhundert. Künstlerausbildung zwischen lerlehrzeit. In: Wieland. Zeitschrift für Kunst Tradition und Avantgarde. Köln, Weimar, Wien und Dichtung 1 (April 1917), S. 15–17; Wilhelm 2010; Nikolaus Pevsner: Die Geschichte der Waetzoldt: Gedanken zur Kunstschulreform. Kunstakademien. München 1986. Leipzig 1921; Walter Gropius: Bauhaus-Ma- nifest. Weimar 1919; Richard Riemerschmid: 2 Der folgende Abschnitt beruht auf den Künstlerische Erziehungsfragen II. München aktuellen Forschungen der Autorin. Laufende 1919. Dissertation „Reformen an den Kunstakademi- en im Deutschen Reich 1910–1942“, Technische Universität Berlin, Institut für Kunstwissen- schaft und Historische Urbanistik, Fachgebiet Kunstgeschichte. 124 JULIA WITT war nicht geschützt und konnte vom gelernten Maurermeister bis zum Regierungsbaumeister mit TH-Abschluss von jedermann mit architektonischem Verständnis ausgeübt werden. Eine Gruppe freischaffender Architekten, welche sich als Baukünstler ver- standen, hatte deshalb 1903 den „Bund Deutscher Architekten“ gegründet, um dem eigenen Berufsstand zu einer Wertigkeit zu verhelfen. 4 Mit Ende des Ersten Weltkrieges schien die Möglichkeit der Umsetzung der von Idealismus geprägten Reformprogramme gegeben. Das von einem Aufbruchs- und Veränderungswillen getragene, kulturelle Klima der jungen Weimarer Republik führte dazu, dass 1919 in Düsseldorf und Weimar, 1920 in Karlsruhe und 1924 in Berlin, die Fusion von nebeneinander bestehenden Kunstakademien und Kunstgewerbeschulen vollzogen wurde. Dort entstand tatsächlich eine neue Kunsthochschulform, wel- che die Inhalte und Lehrpraktiken der Kunstakademie mit jenen der Kunstgewerbeschule verbinden sollte. Ob und in welchem Maße der Schwerpunkt auf die freie oder die angewandte Kunst gesetzt wurde, unterlag dem Konzept und der Einflussnahme von Persönlichkeiten aus Lehre, Verwaltung und Politik. Dementsprechend individuell war der Weg, den die einzelnen Schulen beschritten. Die Kunstakademie Düsseldorf inkorporierte die örtliche Kunstgewerbeschule nach einer feindlichen Übernahme. In Weimar gründete Walter Gropius das „Staatliche Bauhaus in Weimar (Vereinigte ehemalige Großherzogliche Hochschule für bildende Kunst und ehemalige Großherzogliche Kunst- gewerbeschule)“. Dieses führte zwar im Namen noch die bei- den Vorgängerinstitutionen und hatte Teile des Lehrkörpers 4 Zum Selbstverständnis des Architekten siehe: Anke Blümm: Der Architekt als „Wahrer und Mehrer der deutschen Baukultur“? Der Bund deutscher Architekten (BDA), die Reichskulturkammer und das Scheitern des Architektengesetzes vom 28. September 1934. In: Hans-Georg Lippert, Anke Köth, Andreas Schwarting: Un-Planbar. Bd. 1: Weltbaumeister und Ingenieur. Der Architekt als Rivale des Schöpfers. Dresden 2012, S. 144–169. Ich danke Anke Blümm für die freundliche Diskussion zum Thema. 125 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK übernommen, vertrat aber ein vollkommen neues, auf Gropius’ „Bauhaus-Manifest“ beruhendes Konzept. Der innere Zwiespalt des aus alten und neuen Lehrern zusammengestellten Lehrkörpers führte bereits 1921 zum Auseinanderbrechen des Bauhauses und zur Ausgliederung der ursprünglich kunstakade- mischen Klassen in die „Staatliche Hochschule für bildende Kunst Weimar“. In Karlsruhe entstand durch Fusion 1920 die „Badische Landeskunstschule“, der ein auf Ausgleich und Kooperation bedachtes Konzept zugrunde lag. In Berlin erfolgte die Gründung der „Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst“ erst 1924 unter dem Architekten Bruno Paul, der zuvor die nun integrierte „Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums“ (respektive die staatliche Kunstgewerbeschule) geleitet hatte. Aufgrund seiner langjährigen, engen Beziehungen zum preußi- schen Kultusministerium galt Paul seinerzeit als einflussreiche Größe der Kunstschulreform. Da sich die neu geschaffenen, fusionierten Kunstschulen als Kunsthochschulen und als Nachfolgeeinrichtungen der Kunstakademien verstanden, betrachte ich diese in meiner Untersuchung als vergleichbar mit den regulär weiterbestehen- den Kunstakademien und ordne sie deshalb dem Schultyp der Kunstakademie zu. Zusätzlich zu dem großen Reformfeld der Schulfusionen voll- zogen sich in den inneren Strukturen der Kunstakademien Änderungen. Vielerorts erfolgte eine Demokratisierung in Form einer, in den Schulstatuten verankerten Gremienarbeit. Durch die Einführung einer Rektoratsverfassung und die regelmäßige Einberufung von Lehrerkonferenzen, wuchs die Einflussmöglichkeit der Lehrerkollegien (besonders wirksam in Kassel, Dresden, Karlsruhe und Stuttgart). Ebenfalls kam es zur Stärkung der Mitbestimmungsrechte der Studierenden durch Wahl und Anhörung von Studierendenvertretungen. Die im Zuge der Reformdebatte ausgesprochene Forderung, der Architektur als Mutter aller Künste eine zentrale Stellung an den Kunstakademien zu verschaffen, legt die Vermutung nahe, dass sich mit Beginn der Weimarer Republik deutliche Änderungen in den Schulstrukturen und Lehrplänen abzeichnen würden. 126 JULIA WITT Im Folgenden wird dargestellt, ob in den 1920er Jahren eine Stärkung der Architektur an den Kunstakademien zu verzeich- nen war. Im Zentrum stehen die verschiedenen Ausprägungen des Architekturunterrichtes, wobei innerhalb der Kapitel jeder einzelnen Kunstakademie ein Abschnitt gewidmet wird. Darin finden sich Informationen zu den Lehrerpersönlichkeiten und ihren Lehrprogrammen sowie zu Struktur und Inhalten des Studiums. Zudem wird ein Blick auf die Studierendenzahlen als Ausweis von Erfolg und Misserfolg des Unterrichtes geworfen. Als Basis der Untersuchung diente sowohl das recht lückenhaft erhaltene Archivmaterial aus den Institutionen selbst als auch aus behördlich-ministerieller Überlieferung sowie die wenige vorhandene Forschungsliteratur zum Thema. Architekturunterricht an den Kunstakademien Der Ausbildungsschwerpunkt der Kunstakademien zur Zeit des Deutschen Kaiserreiches lag eindeutig auf den klassischen Gebieten Malerei, Zeichnen und Druckgrafik. Hier gab es eine Vielzahl an Klassen mit unterschiedlichen Schwerpunkten wie Historien- und Landschaftsmalerei, Tiermalerei, Porträt und Aktzeichnen. Außerdem wurde an allen Kunstakademien Bildhauerei gelehrt. Für dieses Fach zeichneten nur ein bis zwei Lehrkräfte verantwortlich. An einigen Einrichtungen existierte zudem eine eigenständige Abteilung für die Ausbildung von Zeichenlehrern für den Schuldienst. Die Architektur war entweder überhaupt nicht vertreten oder hatte eine randständige Position. Von Ort zu Ort stellte sich die Situation an den Kunstakademien sehr unterschiedlich dar. Dies ist zum einen auf die politisch-ad- ministrative Struktur des Deutschen Reiches als föderalisti- schem Staat zurückzuführen, zum anderen auf die örtlichen Gegebenheiten mit jeweiligen, gewachsenen Systemen von nebeneinander bestehenden Bildungsinstitutionen, welche in Wechselwirkung zueinanderstanden. Eine Analyse ergibt, dass an den Kunstakademien der Weimarer Republik drei ver- schiedene Ausprägungen existierten: Kunstakademien mit Architekturabteilungen (Düsseldorf und Berlin), Kunstakademien 127 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK mit Architekturklassen (Kassel, Breslau und Dresden) und Kunstakademien ohne regulären Architekturunterricht (Weimar, Karlsruhe, München, Stuttgart und Königsberg). Kunstakademien mit Architekturabteilungen: Düsseldorf und Berlin Die Düsseldorfer Kunstakademie besaß um 1900 keine Architekturklasse im eigentlichen Sinne mehr. 5 Sie hatte zwar seit 1880 den Architekten Adolf Schill (1844–1911) im Kollegium, wel- cher die sogenannte Architekturklasse leitete. Doch führt diese von der Kunstakademie verwendete Kurzbezeichnung in die Irre. Schill vermittelte in der „Klasse für Ornamentik und Dekoration“ den jungen bildenden Künstlern unter anderem Grundkenntnisse in Stilkunde und Architektur, welche für sie zum Beispiel bei der Schaffung monumentaler Wandmalereien von Nutzen waren. 6 Nach dem Tod Schills im Jahr 1911 wurde der Unterricht vorüber- gehend von dem an der Akademie tätigen Kunsthistoriker fort- geführt, was wiederum zeigt, dass keine technischen oder ent- wurfsspezifischen Kenntnisse vermittelt wurden. Die Düsseldorfer Kunstgewerbeschule verfügte hingegen über eine Architekturabteilung, welche ihr Direktor Wilhelm Kreis (1873–1953) ab 1908 aufgebaut hatte. Seitdem trug die Schule den Namen „Kunstgewerbeschule Düsseldorf mit besonderer Architektur-Abteilung“. Das Lehrprogramm der Architekturabteilung richtete sich an Absolventen von Baugewerkschulen sowie Bautechniker und Zeichner. In einem einjährigen Kursus sollten sie zu künstlerisch schaffenden Architekten fortgebildet werden. Kreis richtete zwei parallele Klassen für bürgerliche Baukunst und für Monumentalbaukunst ein, letztere leitete er selbst. 1911 kam die Klasse für 5 Zur Geschichte der Architekturabteilung 6 Zu Schill siehe: Kunstmuseum Düsseldorf, der Düsseldorfer Kunstakademie seit dem Galerie Paffrath (Hg.): Lexikon der Düsseldorfer 18. Jahrhundert siehe: Richard Klapheck: Malerschule 1819–1918, Bd. 3. München 1998. Baukunst und Kunstakademie. Ein Umriß zur Geschichte der Architekturabteilung der Kunst-Akademie zu Düsseldorf. In: Monatshef- te für Baukunst 4 (1919/20), S. 195–258. 128 JULIA WITT Baudetaillierung und Innenarchitektur hinzu. Kreis erweiterte zudem die Ergänzungsfächer um Skizzieren nach alten Bauten, Innenräume und Gartenanlagen, Material- und Kalkulationslehre, Elemente der Mauer- und Zimmerkonstruktion. 7 Die gut gehende Architektur-Abteilung der Kunstgewerbe- schule – inzwischen waren dort mehr als 30 Schüler eingeschrie- ben – war der Kunstakademie Düsseldorf ein Dorn im Auge. Ab 1912 forcierte die Kunstakademie eine Verlegung der Klasse für monumentale Architektur an die Kunstakademie. Begründet wurde dieses Verlangen damit, dass der Monumentalbau als hohe Kunst ein originäres Lehrgebiet der Kunsthochschule und die Überführung der Klasse für sie zu einer Existenzfrage geworden sei. Zudem habe die Akademie von jeher einen Architekturlehrstuhl besessen, welcher lediglich durch den Tod Schills zur Auflösung gekommen sei. 8 1915 erfolgte die kriegsbedingte Schließung der Archi- tekturabteilung der Kunstgewerbeschule. Die jahrelange Abwesenheit von Wilhelm Kreis, der sich seit April 1915 im Kriegsdienst befand, führte zu einer Schwächung der Institution. In seiner Abwesenheit wurde 1918 die Auflösung der Kunstgewerbeschule und die Überführung der Architekturabteilung an die Kunstakademie amtlich besiegelt. Damit wechselten Wilhelm Kreis, Emil Fahrenkamp (1885–1966) und Fritz Becker (1882–1973) an die Akademie. 9 Aus dem Unterrichtsplan für das Sommersemester 1919 wer- den Ziele und Aufbau der neuen Architekturabteilung an der Kunstakademie Düsseldorf deutlich: 7 Vgl. Gisela Möller: Wilhelm Kreis und die 9 Vgl. Oberbürgermeister Düsseldorf an Düsseldorfer Kunstgewerbeschule. In: Win- Regierungspräsidenten in Düsseldorf, 6.4.1915 fried Nerdinger, Ekkehard Mai (Hg.): Wilhelm (LAV NRW R Regierung Düsseldorf Nr. 11688, Kreis. Architekt zwischen Kaiserreich und Bl. 244); vgl. von Sydow, preußischer Handels- Demokratie 1873–1955. Berlin 1994, S. 58–69; minister an Regierungspräsidenten, Erlass hier insbes. S. 63f. IV 3762 II, 13.7.1918 (LAV NRW R Regierung Düsseldorf Nr. 11687). Wilhelm Kreis lehrte bis 8 Vgl. Protokoll zur Angliederung der bei 1926 an der Kunstakademie Düsseldorf, Emil der Kunstgewerbeschule bestehenden Klasse Fahrenkamp bis 1945 und Fritz Becker bis 1947. für monumentale Architektur an die Königli- che Kunstakademie, 15.2.1913 (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland, LAV NRW R Regierung Düsseldorf Nr. 11687). 129 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK „Die Architekturabteilung zu Düsseldorf stellt die künstlerische Ausbildung in den Vordergrund. Der Unterricht beruht auf dem selbständigen Entwerfen zeitgemäßer Bauten vom schlich- ten Arbeiterhause bis zu reicher angelegten Gebäuden und der Lösung größerer städtebaulicher Aufgaben. Gleicher Wert wird dabei auf die harmonische Ausgestaltung der Verhältnisse, die zweckentsprechende genaue Detaillierung des Außenbaues und die Raumgestaltung im Innern, wie auf die Anpassung des Gebäudes an die Umgebung gelegt werden. Die dekorativen Künste, Kunstgewerbe und der Gartenbau sollen in ihren künstlerischen, technischen und materiellen Voraussetzungen und Wirkungen für die Bauten in beson- deren Studiengängen behandelt werden. Neben Vorträgen beruht der Unterricht auf praktischen Übungen in der farbli- chen Durchbildung des Baues außen und innen, in angewandter Kunst, Mosaik, Glasmalerei, Textilkunst, dekorativer Plastik und im Schriftzeichnen“. 10 Die Abteilung gliederte sich in die drei Meisterateliers von Wilhelm Kreis (Monumentalbau und seine Einfügung in das Städtebild. Architektonische Gartengestaltung), Fritz Becker (Bürgerliche Bauweise. Städtebauliche Aufgaben und Sied- lungen. Aufnehmen alter Bauten) und Emil Fahrenkamp (Künstlerische Durchbildung im Einzelnen. Der Wohnhausbau. Raumkunst und Garten). Hinzugenommen wurden ergänzende Übungen wie Gartenanlagen, Raumgestaltung, Schrift und Textilkunst sowie Modellieren und Vorlesungen wie zum Beispiel Bau- und Kunstgeschichte, Städtebau, Kirchenbau. 11 Ein erhaltener Stundenplan für das Winterhalbjahr 1925/26 zeigt, wie das Konzept in der Praxis Umsetzung fand (Abb.  1). Vormittags fand täglich ein dreistündiger Atelierunterricht statt und an den Nachmittagen gab es ein Angebot an Vorlesungen 10 Vgl. Kunstakademie Düsseldorf, Unter- richtsplan der Architekturabteilung 1919 (LAV NRW R BR 1021 Nr. 42, Bl. 91). 11 Vgl. ebd. 130 JULIA WITT Abb. 1: Stundenplan der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf, Winterhalbjahr 1925/26 mit einem umfangreichen Angebot in der Architekturlehre. Akte „Erneuerung der Studienordnung in der Akademie“, 1880, 1909, 1926–1934, Archiv der Hochschule für Bildende Künste Dresden, Bestand Kunstakademie, Sign. 01/203, Bl. 11 und Übungen zu verschiedenen Themen, wie Gartengestaltung (Walter Baron von Engelhardt), Baugeschichte (Richard Klapheck) und Siedlungswesen (Philipp Rappaport). 12 In Berlin bildete die „Akademische Hochschule für die bil- denden Künste“ (Kunstakademie) keine Architekten aus. 13 12 Vgl. Stundenplan der Kunstakademie 13 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, Düsseldorf für das Winterhalbjahr 1925/26 dass in den Meisterateliers der Akademie der (Kustodie/Archiv HfBK Dresden, HfBK Dresden, Künste Berlin im kleinen Rahmen eine architek- K/A, 01/203). Zu Ende der 1920er Jahre kamen tonische Fortbildung angeboten wurde. noch z. B. Heinrich de Fries (1887–1938, lehrte 1927–1932 Baukunst und Städtebau) und Clemens Holzmeister (1886–1983; lehrte 1928–1933) zum Lehrkörper hinzu. 131 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK Dahingegen hatte der Architekt Bruno Paul (1874–1968) als Direktor der „Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums“ (Kunstgewerbeschule) ab 1907 eine große Architekturabteilung aufgebaut. Als Bruno Paul dann 1924 Direktor der neugegründe- ten „Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst“ wurde, brachte er seine voll funktionierende Architekturabteilung mit in die neue Kunsthochschule ein. Dies war ein riesiger Apparat von Fachklassen, Meisterklassen und Ergänzungskursen mit Franz Seeck (1874–1944) als Abteilungsvorstand sowie Bruno Paul und Alfred Grenander (1863–1931) als Leiter von Meisterklassen. Ergänzend unterrichteten Eugen Schmohl (1880–1926) Architekturdarstellung, Wilhelm Büning (1881–1958) Bauaufnahme und Detail und der Maler Richard Boehland (1868– 1935) Architektonisches Skizzieren. Zu den Inhalten schrieb Abteilungsvorstand Franz Seeck 1928: „Die Ausbildung hat die Form von Atelierunterricht […] und beschäftigt sich vorwiegend mit baukünstlerischen und Raum- Aufgaben. […] Naturgemäss können aber im Rahmen einer Kunsthochschule die technischen Sonderfächer nur einen gerin- gen Raum einnehmen […]. Ein grösserer Wert wird dagegen auf die Ausbildung des Freihandzeichnens gelegt […]“. 14 Doch wie sich bald herausstellte, entsprach das alte Paul’sche Lehrsystem nicht mehr den Forderungen der Zeit. Hatte die Architekturabteilung bei ihrem Start an der neugegründeten Institution im Winterhalbjahr 1924/25 insgesamt 40 Studierende betreut, so sank die Zahl im Folgejahr bereits auf 33. 15 1927 wurde die Architekturabteilung als klein und weiter abnehmend beschrieben und eine Erweiterung des Fächerkanons ausge- schlossen. 16 Hans Poelzig (1869–1936), der im Januar 1933 als kommissarischer Direktor eingesetzt wurde, äußerte sich sehr 14 Seeck, Vereinigte Staatsschulen für freie 15 Vgl. Lehrer- und Schülerstatistiken (UdK und angewandte Kunst Berlin an preuß. Kultus- Berlin, UA, Best. 8, Nr. 78). ministerium, 27.6.1928 (Universität der Künste Berlin, Universitätsarchiv, UdK Berlin, UA, 16 Vgl. Sörrensen, Vereinigte Staatsschulen Best. 8, Nr. 61). Berlin an TH-Dozenten, Februar 1927 (UdK Berlin, UA, Best. 8, Nr. 68). 132 JULIA WITT kritisch: „Die sogenannte Architekturabteilung ist hier schon dadurch einigermassen fragwürdig, da auf ungefähr 7 Lehrer rund 30 Schüler kommen.“ 17 Mängel am Lehrkonzept waren bereits 1930 erkannt worden. Aus jenem Jahr sind Überlegungen für eine Reformierung über- liefert. Ziel war eine bessere Strukturierung des Unterrichtes der Unterstufe (4 Semester) mit Ausarbeitung von gesonderten Lehrinhalten für Hochbauarchitekten und für Innenarchitekten. 18 Hans Poelzig wollte die Architekturabteilung 1933 auf eine neue Grundlage stellen und erbat von den Lehrern konzeptio- nelle Vorschläge. Die zwei Innenarchitekturlehrer Hans Bohnen (1889–?) und Carl Herbener (1890–1958) plädierten für einen Ausbau ihres Unterrichtsgebietes. Im Gegensatz zum Studium an einer Technischen Hochschule sei der Architekturunterricht an der Kunsthochschule wenig gefragt. Hinzu käme, dass von den 30 derzeitig Studierenden knapp zwei Drittel aufgrund ihrer Vorbildung an Innenarchitektur und nicht am Hochbau interessiert seien. Eine Fokussierung auf die Innenarchitektur wäre folgerichtig, weil weder die Technischen Hochschulen, noch die Baugewerkeschulen oder die höheren Technischen Lehranstalten dieses Fach anböten, obwohl der Arbeitsmarkt dringend intensiv geschulter Innenarchitekten bedürfte. 19 Ihre stichhaltige Argumentation weist auf ein Kernproblem des Architekturunterrichtes an Kunstakademien hin, nämlich die Frage nach den Alleinstellungsmerkmalen und den Qualitäten des künstlerisch geprägten Studiums in Abgrenzung zu jenem der Technischen Hochschulen. Aufgrund der nationalsozi- alistischen Umstrukturierungen des gesamten Kultur- und Bildungswesens blieben Hans Poelzigs Bemühungen um einen 17 Hans Poelzig an Richard Döcker, 11.1.1933 19 Hans Bohnen und Carl Herbener an Hans (Deutsches Kunstarchiv im Germanischen Poelzig, 4.2.1933 (UdK Berlin, UA, Best. 8, Nr. Nationalmuseum Nürnberg, DKA im GNM, NL 318, Bl. 23–26). Poelzig, Hans, I, C – II, C). 18 Konzept von Franz Seeck mit handschriftli- chen Ergänzungen (UdK Berlin, UA, Best. 8, Nr. 318, Bl. 10–15). 133 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK neuen Architekturunterricht an den „Vereinigten Staatsschulen“ im Anfangsstadium stecken. Poelzig wurde politisch motiviert bereits im April 1933 seines Amtes enthoben. 20 Akademien mit Architekturklassen: Kassel, Breslau und Dresden An den Kunstakademien in Kassel, Breslau und Dresden gab es jeweils nur einen Architekturprofessor. Aus diesem Grund exis- tierte an diesen Orten keine Abteilung für Architektur, sondern nur eine Architekturklasse. Handelte es sich beim Lehrer um eine charismatische Persönlichkeit, erfreute sich die Klasse eines guten Besuchs. Ein Architekturunterricht wurde an der Kasseler Kunstaka- demie erst 1911 mit Berufung des Berliner Architekten Wilhelm Freiherr von Tettau (1872–1929) eingeführt. Er war der Reform- architektur- und Kunstgewerbebewegung zuzurechnen. Aus dieser Auffassung heraus schuf er zahlreiche (groß-) bürgerli- che Wohnhäuser nebst Innenausstattung, zudem befasste er sich mit Denkmälern und Stadtplanung. Seine fruchtbarste Zeit als entwerfender Architekt waren die Jahre vor seiner Berufung gewesen. 21 Tettau erhielt die Aufgabe, sowohl die freien Künstler als auch die Zeichenlehreramtsanwärter in Ergänzung zu ihrem haupt- sächlichen Fach zu unterrichten in „Architektonische Ideen und Formen“, auch bezeichnet als „Architektur-Entwürfe in Verbindung mit Plastik und Malerei“, Architekturgeschichte, Architekturzeichnen, Ornamentzeichnen und Perspektive. Außerdem erhielt er gleich allen anderen Kollegen ein Lehratelier. 22 20 Zu den Ereignissen an den Vereinigten 22 Vgl. Lehr- und Stundenplanentwurf der Staatsschulen um 1933 und die Auswirkungen Kunstakademie Kassel für das Schuljahr auf den Architekturunterricht siehe: Christine 1911/12 (Hessisches Staatsarchiv Marburg, Fischer-Defoy: Kunst, Macht, Politik. Die Nazi- HStAM Best. 160 Nr. 113, Bl. 202); vgl. Lehr- und fizierung der Kunst- und Musikhochschulen in Stundenplan der Kunstakademie Kassel, o. D. Berlin. Berlin 1988, S. 103–109. (vor 1914) (HfBK Dresden, K/A, 01/227). 21 Zu Wilhelm von Tettau siehe: Ulrich Maximilian Schumann: Wilhelm von Tettau 1872–1929. Architektur in der Krise des Libera- lismus. Zürich 2002. 134 JULIA WITT Aufgrund der Folgen einer schweren Kriegsverletzung konnte von Tettau nach 1918 seinen Lehrverpflichtungen nicht mehr in vollem Umfang nachkommen und wurde 1922 in den Ruhestand versetzt. Das preußische Kultusministerium stellte fest, dass der schwache Besuch des Unterrichts nicht am Lehrgegenstand oder an der Interesselosigkeit der Schüler liegen könne, sondern in der Persönlichkeit des Lehrers zu suchen sei. Es sei darauf zu achten, zukünftig einen Baukünstler zu gewinnen, „der es versteht, die Schüler der Akademie mit dem Wesen der architek- tonischen Gestalt besonders auch im Hinblick auf die heutigen wirtschaftlichen Verhältnisse, vertraut zu machen. Erfahrungen im neuzeitlichen Bauwesen, möglichst auch im Bau kleiner Siedlungshäuser“ seien ebenfalls erforderlich. Zudem sei es wichtig, dass „der Lehrer der Architektur die Zusammenhänge zwischen der Baukunst und den Schwesterkünsten darzustellen vermag“. Die Beherrschung historischer Ornamentformen sei hingegen zu vernachlässigen. 23 Der scheidende Direktor der Kasseler Kunstakademie, Carl Bantzer (1857–1941), hatte andere Vorstellungen, er hoffte zwar ebenfalls auf einen Lehrer, welcher „die architektonische Idee und Form in ihrer Beziehung zur Malerei und Plastik“ in Form von Vorträgen und praktischen Übungen darstellen könne, legte aber seinen Schwerpunkt auf die Unterweisung von Malern und Bildhauern. Diese sollten die Befähigung erhalten, überall dort, wo ihre Werke in Verbindung mit Architektur aufträten, auch die architektonischen Anteile selbst zu gestalten, wie zum Beispiel an Denkmälern und Brunnen. Aus diesem Grunde sei auch Wert auf die Lehre von ornamentalem Schmuck zu legen. 24 Es lag also nicht im Anliegen Bantzers, vollwertige Architekten an seiner Kunstakademie auszubilden, sondern den bildenden Künstlern eine umfassende Ausbildung angedeihen zu lassen. Die der neuen Zeit aufgeschlossene Lehrerschaft stellte sich gegen ihren Direktor und befürwortete die Besetzung der Stelle mit dem Architekten Hans Soeder. Jener entsprach 23 Nentwig, preuß. Ministerium für Wissen- 24 Vgl. Bantzer, Direktor Kunstakademie schaft, Kunst und Volksbildung an den Ober- Kassel, an das preußische Kultusministerium, präsidenten in Kassel, 2.5.1922 (HStAM 150 Nr. 16.3.1922 (HStAM 150 Nr. 1781, Bl. 238). 1781, Bl. 247). 135 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK in seiner Architekturauffassung ebenfalls voll und ganz den Vorstellungen des preußischen Kultusministeriums. 25 Soeders großes Arbeitsfeld lag auf dem Gebiet des Holzbaus und der Kosteneinsparung im Siedlungsbau. Er war der gemäßig- ten Richtung des Neuen Bauens zuzurechnen und hatte sich unter anderem am Wettbewerb für ein Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin 1921 beteiligt. 26 Hans Soeder, 1923 zum Architekturlehrer berufen und zugleich zum geschäftsführenden Direktor auf zwei Jahre ernannt, stellte den Architekturunterricht auf eine neue Grundlage, indem er die von ihm als „Architekturschule“ bezeichnete Abteilung auf- baute. Die Architekturausbildung erhielt einen zweistufigen Aufbau. Zugangsvoraussetzung war der Schulabschluss einer Baugewerkschule. Für diese Baugewerkschulabsolventen rich- tete Soeder 1926 einen dreisemestrigen Lehrgang ein, der in Kooperation mit dem Regierungspräsidium Kassel, dem BDA und der Baugewerkschule Kassel durchgeführt wurde. Ziel die- ses Lehrganges war laut Soeder, „die Studierenden zu wertvollen Mitarbeitern heranzubilden und das Bauwesen der Provinz durch den Zustrom umfassend durchgebildeter, künstlerisch befähig- ter Architekten zu fördern“. Erst der erfolgreiche Abschluss die- ses Lehrgangs berechtigte zur Aufnahme ins Ausbildungsatelier Soeders an der Kunstakademie, in welchem sich die Begabtesten unter Soeders Führung zu selbstständigen Baukünstlern weiter- entwickeln konnten. 27 25 Vgl. Bernewitz, Kunstakademie Kassel, an 27 Soeder an die Leitung der Kunstakademie Oberpräsidenten Kassel, 16.6.1922; Boelitz, Kassel, 22.3.1928 (HStAM 150 Nr. 1680, Bl. preuß. Kultusministerium an den Oberpräsiden- 156f.). ten in Kassel, 14.12.1922. (HStAM 150 Nr. 1781, Bl. 253, 286). 26 Siehe: Hans Soeder: Das Dorf Tritschuny im litauisch-weißrussischen Grenzgebiet. Ein Beitrag zur Geschichte des Holzbaues. Disser- tation, TH Darmstadt 1918; ders: Das Holzwerk- des Kleinhauses auf wirtschaftlicher Grundla- ge. Berlin 1923; Florian Zimmermann (Hg.): Der Schrei nach dem Turmhaus. Der Ideenwettbe- werb Hochhaus am Bahnhof Friedrichstrasse, Berlin 1921/22. Berlin 1988, S. 142f., S. 324. 136 JULIA WITT Neben Soeder waren Lehrer der Kunstakademie und der Kasseler Baugewerkschule als auch Architekten aus der Bauverwaltung und der freien Wirtschaft am Lehrgang für Baugewerkschulabsolventen beteiligt. Unterrichtet wurde Entwurf (Soeder), Industriebau, freitragende Holzkonstruktionen, Modellieren und Modellbau, Baurecht und anderes. Soeder orga- nisierte Studienreisen, so zum Beispiel 1928 nach Frankfurt a. M. und Stuttgart zu neuen Eisen- und Eisenbetonbauten. 28 Bei den Studierenden handelte es sich fast ausschließlich um Söhne von Architekten und Bauunternehmern, die parallel bereits arbeiteten. Trotz der geringen Zahl der Lehrgangsteilnehmer (nachweislich mindestens sieben Studierende), scheint Soeders praxisorientierter Unterricht sehr erfolgreich gewesen zu sein, wenn 1928 geurteilt wurde, dass sich die Architekturschule „durch eine gewissenhafte und hingebende Lehrtätigkeit gut entwickelt“ habe und der Zuzug von Architekturschülern „die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges“ zeige. 29 Soeder konnte daraufhin sein Lehrkonzept bis zur Schließung der Kunstakademie Kassel im Jahr 1932 weiterverfolgen. An der staatlichen Kunst- und Kunstgewerbeschule in Breslau, welche 1911 zur „Akademie für Kunst und Kunstgewerbe“ umfor- miert worden war, unterrichtete der seit 1902 amtierende Direktor Hans Poelzig (1869–1936) die Klasse für architektonische Raumgestaltung. Diese war aus der Fachklasse für architektoni- sches Zeichnen und Kunsttischlern hervorgegangen. 30 Poelzigs Amtsnachfolger, der Architekt August Endell (1871– 1925), entwarf im Jahr 1918 ein reformiertes Studienkonzept. Durch Einführung einer eigenständigen Bauklasse inner- halb des Fachgebietes Angewandte Kunst gedachte er, der Architektur eine präsentere Stellung zu verschaffen. 28 Vgl. Soeder an die Leitung der Kunstakade- 30 Vgl. Petra Hölscher: Die Akademie für mie Kassel, 22.3.1928; Witte, Kunstakademie Kunst und Kunstgewerbe zu Breslau. Wege Kassel an Oberpräsidenten in Kassel, 4.11.1927 einer Kunstschule 1791–1932. Kiel 2003, (HStAM 150 Nr. 1680, Bl. 156f., 150). S. 94, 102. 29 Kurt Witte, Direktor der Kunstakademie Kassel, ans preußische Kultusministerium, 1.6.1928 (HStAM Best. 150 Nr. 1680, Bl. 166f.). 137 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK Endell leitete die Bauklasse zunächst selbst und gab als Lehrinhalte „Grundrißkunst, Umbauten, Landhaus, Stadthaus, Kleinsiedlung“ an. 31 Im Schuljahr 1920/21 besetzte er die Professur der Bauklasse mit Adolf Rading (1888–1957), welcher bereits seit 1919 als Lehrer für Architektur angestellt war. Rading wiederum schien sich von Endell absetzen zu wollen und plante, aus der Bauklasse eine regional verankerte Schlesische bzw. Ostdeutsche Bauakademie zu entwickeln, da der erst 1910 eingerichteten Technischen Hochschule Breslau eine Architekturabteilung fehlte. Es blieb bei dem hehren Ziel, denn entgegen seiner Bestrebungen realisierte Rading ein praxisnahes Studienkonzept: einen Lehrgang für Absolventen der Baugewerkschulen. Die einjährige Ausbildung bestand aus vormittäglicher Entwurfsarbeit zu verschiedenen Bauaufgaben der bürgerlichen Baukunst (Eigenheim, Miets- und Geschäftshausbau, Umbauten, Gehöft und Siedlung) und aus nachmittäglichen Vorträgen und Übungen (zum Beispiel zur Kunstgeschichte, zu Bauformen, Grundrisskunst, Farbenlehre und Grundlagen des Städtebaus). 32 Nach dem Tod Endells im Jahr 1925 brachte Rading Hans Scharoun (1893–1972) als einen geeigneten Lehrer für Kunst- gewerbe und Innenarchitektur in Vorschlag. Ein Jahr später erfolgte die Einrichtung einer architektonisch-kunstgewerbliche Gemeinschaftsklasse Rading/Scharoun. Rading und Scharoun führten im Lehrgebäude in unmittelbarer Nähe der Klassenräume ihr gemeinschaftliches Architekturbüro. Es war für sie übliche Praxis, fortgeschrittene Studierende zu ihren Aufträgen hinzuzuziehen. Im Unterrichtsalltag konnten die Studierenden frei zwischen beiden Professoren wechseln. Dieses System bestand bis zur Auflösung der Breslauer Akademie für Kunst und Kunstgewerbe im Jahr 1932. 33 31 Endells Lehrplan abgebildet in: Hölscher 33 Vgl. Hölscher 2003 (Anm. 30), S. 243f., vgl. 2003 (Anm. 30), S. 205. Pagels 1992 (Anm. 32), S. 30. 32 Vgl. Hölscher 2003 (Anm. 30), S. 209, 239. Siehe auch: Otto Pagels: Adolf Rading 1888–1957. Bauten und Projekte in Deutsch- land, Palästina und England. Diss. TH Aachen 1992, S. 28–30. 138 JULIA WITT An der Dresdener Kunstakademie lehrte der vormalige TH-Professor German Bestelmeyer (1874–1942) von 1911 bis 1915 Architektur. Nach seinem Fortgang gab es Überlegungen zur Einrichtung einer Verbindungsprofessur für Technische Hochschule und Akademie. Auch wurde der Gedanke geäußert, dass der Stadtbaurat zusätzlich das Bauatelier der Akademie über- nähme, was Hans Poelzig 1918 auch kurzfristig als Gastprofessor tat. Beide Varianten fanden jedoch keinen Zuspruch der städti- schen und staatlichen Behörden. 1920 konnte die Kunstakademie den Weiterbestand ihres „Ateliers für Baukunst“ durch Schaffung einer eigenständigen Architekturprofessur erwirken, welche mit dem Architekten Heinrich Tessenow (1876–1950) besetzt wurde. 34 Unter dessen Nachfolger Wilhelm Kreis (1873–1955), der 1926 von der Kunstakademie Düsseldorf nach Dresden wechselte, entwickelte sich die Architekturklasse besonders erfolgreich. Die Studierendenzahl stieg merklich an: Zu Zeiten Tessenows waren im Winterhalbjahr 1922/23 elf und bei Kreis acht Jahre später 26 Architekturstudierende registriert. Kreis konnte eine maximale Klassengröße von 33 Studierenden betreuen. Mit der Wirtschaftskrise, als Mittel für die Beheizung der Räume fehlten, musste die Zahl auf 19 begrenzt werden. 35 1933 kam erneut die Idee der Fusion der Architekturlehrstühle der Akademie und der Technischen Hochschule auf. Kreis lehnte dies ab und blieb der Kunstakademie und seinem Posten bis 1942 treu. 36 34 Siehe die betr. Archivalie „Atelier für 35 Statistische Angaben aus: SHStAD, Baukunst an der Kunstakademie“ (Sächsisches 11125, Ministerium des Kultus und öffentlichen Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden, Unterrichts, Nr. 14645, Bl. 81; Hochschule für SHStAD, 10736, Ministerium des Innern, 17301, Bildende Künste Dresden, HfBK Dresden, K/A, insbes. Bl. 214). Der Architekturunterricht an 01/079, Bl. 65. Sowie: Kreis an die Leitung der der Kunstakademie Dresden 1918–1933 wurde Kunstakademie Dresden, 13.10.1932 (HfBK ausführlich behandelt in: Hochschule der Dresden, K/A, 01/179, Bl. 7). Bildenden Künste Dresden (Hg.): Dresden. Von der Königlichen Kunstakademie zur Hochschu- 36 Siehe hierzu: Entwurf eines Schreibens des le für Bildende Künste 1764–1989. Dresden Sächsischen Innenministeriums an die Staats- 1990, S. 284–293. kanzlei, 12.1.1933 (SHStAD, 11125, Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts, 14648, Bl. 150–151). 139 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK Kunstakademien ohne regulären Architekturunterricht: Weimar, Karlsruhe, München, Stuttgart und Königsberg In Weimar wurde der Architekt Walter Gropius (1883–1969) 1919 Direktor des Bauhauses. Gropius’ Bauhaus-Manifest von 1919 beginnt mit dem viel zitierten Satz: „Das Endziel aller künst- lerischen Tätigkeit ist der Bau!“ Obwohl der Name der Schule und der Kerngedanke des Manifestes, dass alle Künste unter der Architektur vereinigt werden sollen, suggerieren, dass der Architekturunterricht eine zentrale Stellung im Curriculum ein- nehme, fand jener keine reale Umsetzung. Trotz verschiede- ner Vorstöße von Walter Gropius konnte am Weimarer Bauhaus kein systematischer Architekturunterricht im Lehrplan etabliert werden. Dennoch wurde architektonisches Wissen vermittelt. In den Winterhalbjahren 1919/20 und 1920/21 hielt der Direktor der Weimarer Baugewerkenschule, Paul Klopfer (1876–1967), eine nachmittägliche Vorlesungsreihe über die „Grundsätze der Baukunst“. Zusätzlich konnte 1919/20 einmalig ein mehr- wöchiger Bautechnik-Sonderkurs angeboten werden. (Abb.  2) Dieser wurde von Lehrern der Weimarer Baugewerkenschule in den Räumen des Bauhauses durchgeführt, hierfür war eine Einschreibung als Hospitant an der Baugewerkenschule notwen- dig. Da dieser Schnellkurs von ministerieller Seite keine finan- zielle Unterstützung fand, konnte er nicht fest etabliert werden. Dennoch wurde im Winterhalbjahr 1924/25 ein ähnlicher Kurs in erweiterter Form durchgeführt, der Wissen in Mathematik, Physik, Baukonstruktion und -statik vermitteln sollte. 37 Parallel dazu versuchte Walter Gropius das Fehlen einer Architekturabteilung auszugleichen. Ab 1920 unterrichtete der Architekt Adolf Meyer, Mitarbeiter in Gropius’ privatem Architekturbüro, das Fach Werkzeichnen. Hierfür erhielt er ab 37 Vgl. Klaus-Jürgen Winkler: Die Architektur am Bauhaus in Weimar. Berlin, München 1993, S. 23–28, siehe Abb. 2. 140 JULIA WITT Abb. 2: Aushang für den Sonderkurs der Baugewerkenschule Weimar am Bauhaus 1919. Winkler, Klaus-Jürgen: Die Architektur am Bauhaus in Weimar. Berlin 1993, S. 24 1922 eine Anstellung als außerordentlicher Meister für Architektur. Gropius selbst hielt ergänzende architekturtheoretische Vorträge zum Thema „Raumkunde – praktisches Werkzeichnen“. 38 Zusätzlich versuchte man Architektur anhand eines Praxis- projektes zu vermitteln. Für die Bauhausausstellung 1923 errich- tete man ein komplett eingerichtetes Musterhaus, an welchem alle Bauhauswerkstätten gemeinschaftlich gewirkt hatten: das „Haus am Horn“. 39 38 Vgl. ebd., S. 28–30. 39 Vgl. ebd., S. 95–110. 141 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK Ab dem Frühjahr 1924 wurde am Bauhaus nominell eine eigenstän- dige Architekturabteilung eingerichtet, in welcher frei und selbst- ständig gearbeitet werden sollte. Als Zugangsvoraussetzungen sollten das Vorliegen eines Handwerksgesellenbriefes, eine bautechnische Vorbildung sowie eine künstlerische Befähigung dienen. In realiter wurde jedoch weiterhin hauptsächlich Baukonstruktion und Statik gelehrt und nur zwei Stunden wöchentlich Entwerfen. 40 Trotz des nun als Architekturabteilung bezeichneten Unterrichtes fand keine vollwertige Architekturlehre am Bauhaus in Weimar statt. Walter Gropius hatte es über all die Jahre seit 1919 nicht vermocht, sein ursprüngliches Ziel, der Architektur eine zentrale Stellung im Lehrplan zu verschaffen, zu verwirklichen. Erst 1927 in Dessau, nun unter städtischer Trägerschaft, richtete Walter Gropius am Bauhaus eine regulär arbeitende Architekturklasse mit Hannes Meyer (1889–1954) als Lehrer ein. In Weimar wurde eine Architektenausbildung ab 1926 an der neu gegründe- ten Staatlichen Bauhochschule angeboten. Da es sich beim Dessauer Bauhaus als auch bei der Weimarer Bauhochschule nicht um staatliche Kunstakademien handelte, werden diese bei- den Einrichtungen hier nicht weiter besprochen. In Karlsruhe kam es im Jahr 1920 zur Neuordnung des Kunstschulwesens durch Fusionierung von Kunstakademie und Kunstgewerbeschule zur „Badischen Landeskunstschule“. Mit der Aufgabe wurde der Architekturprofessor an der Tech- nischen Hochschule, Hermann Billing (1867–1946), betraut. 41 Ökonomische oder persönliche Gründe mögen den Ausschlag für Billings Konzept der Annäherung von Architekturstudie- renden der Technischen Hochschule und Kunststudierenden der Landeskunstschule gegeben haben. Zur Vermeidung von Doppelungen wurden die künstlerischen Nebenfächer (Litho- grafie, Freihandzeichnen und anderes) der durchschnittlich 40 40 Vgl. ebd., S. 31f.; vgl. Protokoll der Sitzung 41 Zu Hermann Billing siehe: Gerhard Ka- des Bauhausrates vom 4.4.1924. In: Volker bierske: Hermann Billing. Architekt zwischen Wahl, Ute Ackermann (Hg.): Die Meisterratspro- Historismus, Jugendstil und Neuem Bauen. tokolle des Staatlichen Bauhauses Weimar 1919 Notizen aus dem Südwestdeutschen Archiv für bis 1925. Weimar 2001, S. 333f. Architektur und Ingenieurbau an der Universität Karlsruhe. SAAI Nr. 3 (²Januar 1998). 142 JULIA WITT TH-Studenten vollständig an die Landeskunstschule verlegt. Diese Umstrukturierung erfuhr keine dauerhafte Unterstützung der Technischen Hochschule, welche den Unterricht ab 1926 wieder im eigenen Haus abhalten ließ. 42 Für die Studierenden der Landeskunstschule sah Billing das Fach Innenarchitektur vor. Er selbst wollte auf Honorarbasis die Meisterklasse für Innenarchitektur und Bauplastik lei- ten. Nachdem sich zwischen 1920 und 1923 kein einziger Kunststudierender hierfür angemeldet hatte, wurde Billings Klasse aus dem Lehrplan gestrichen und Billing selbst von allen Aufgaben an der Landeskunstschule entbunden. 43 Dauerhaft erfolgreich war die im Lehrplan fest verankerte Fachklasse für Innenarchitektur und Möbelindustrie. In dieser bis 1928 vom gelernten Tischler, Professor Fritz Spannagel (1891– 1957) geleiteten Klasse wurde jedoch vorrangig Möbelbau und keine Innenraumgestaltung unterrichtet. 44 An der Landeskunstschule Karlsruhe konnte also kein eigen- ständiger Architekturunterricht etabliert werden, auch die Kooperation mit der Technischen Hochschule war nur von kurzer Dauer und entsprach weder den Bedürfnissen der Studierenden der Kunsthochschule noch der Technischen Hochschule. In München unterrichtete Friedrich von Thiersch (1852–1921) von 1882 bis 1921 nebenamtlich und unentgeltlich „Architektonische Stillehre und Ornamentik“. Er war im Hauptamt Professor der Technischen Hochschule München. Thierschs Unterricht an der Kunstakademie war ab etwa 1911 so beliebt, dass er 42 Siehe die Archivalie „Die Teilnahme der 44 Fritz Spannagel (1891–1957; hatte durch- Studierenden der Technischen Hochschule schnittlich zwischen 15 und 20 Studierende). an dem Unterricht der Landeskunstschule“ Nachfolger Spannagels waren Otto Fiederling (Generallandesarchiv Karlsruhe, GLAK 235 (1929) und Prof. van Taak (1930–1933). Zu Fritz Nr. 40149); vgl. Badisches Kultusministerium an Spannagel siehe: Brigitte Baumstark: Biogra- den Senat der TH Karlsruhe, 4.9.1920 (GLAK phie Fritz Spannagel. Blick in die Geschichte 235 Nr. 40176); vgl. Aktenvermerk von Karl Nr. 69 vom 9.12.2005. Internetseite der Stadt Asal, Badisches Kultusministerium, 4.5.1926 Karlsruhe. URL: https://www.karlsruhe.de/ (Generallandesarchiv Karlsruhe, GLAK 235 b1/stadtgeschichte/blick_geschichte/blick69/ Nr. 40186). spannagel.de (27.10.2017). Zu den Studieren- denzahlen siehe die Frequenzlisten (GLAK 235 43 Siehe hierzu den Vorgang in der den Nr. 40154). Architekturunterricht betr. Archivalie (GLAK 235 Nr. 40186). 143 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK zwei Assistenten benötigte. 45 Sein Nachfolger wurde German Bestelmeyer (1874–1942), er lehrte von 1922 bis 1942. Zugleich leitete er ab 1924 als Präsident die Geschicke der Akademie. Obwohl von Bestelmeyer angestrebt, gelang es ihm nicht, eine vollwertige Architekturklasse an der Kunstakademie zu etablieren. 46 An der Kunstakademie Stuttgart wurde Architektur nicht gelehrt. Um 1920 wurde die Zusammenführung der Architekturabteilung der Technischen Hochschule mit der Kunstakademie unter Paul Bonatz (1877–1956) und Paul Schmitthenner (1884–1972) erörtert. Im weiteren Verlauf stand nur noch ein Meisteratelier für Architektur an der Kunstakademie zur Diskussion. Beide Vorhaben scheiterten 1922 am Widerstand der württembergi- schen Finanzverwaltung. 47 So gab es lediglich den sogenannten Hilfsunterricht in Bauformenlehre. In einer Quelle von 1931 heißt es, dass Regierungsbaumeister Hermann Fetzer hierfür einen nebenamt- lichen Lehrauftrag innehatte. 48 In Königsberg lehrte von 1908 bis 1934 der Architekt Friedrich Lahrs (1880–1964). Seine Professur wurde verschiedentlich dekla- riert: als Professur für Raumkunst bzw. Professur für Architektur, Flächenkunst und Raumlehre oder auch als Professur für Baukunst. Was sich dahinter verbarg, ist nicht im Detail zu klä- ren. Den Quellen nach zu urteilen handelte es sich um allgemein- bildende Vorträge und Exkursionen für alle Studierenden der Kunstakademie. 49 Nach heutigem Verständnis wird es sich dabei 45 Akademie München an Bayerisches Kultus- 48 Vgl. Schematischer Aufriss, Winterhalbjah- ministerium, 28.2.1912 (Bayerisches Haupt- res 1929/30, Kunstakademie Stuttgart, Anlage staatsarchiv, BayHStA, MK 40908). zum Entwurf der vorläufigen Verfassung der Akademie Stuttgart vom 16. März 1931 (HStAS 46 Siehe hierzu die Korrespondenz aus den E 130 b Bü 1534; Dokument 19). Jahren 1939 bis 1941 in der Archivalie BayHStA, MK 40908. 49 Übersicht des erteilten Unterrichts 1910 und 1913 (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kul- 47 Vgl. Aktenvortrag Frey, Kultministerium turbesitz Berlin, GStA PK XX HA Rep.2 I Tit. 21 Württemberg, 23.10.1928 (Hauptstaatsarchiv Nr. 96 Bd. 4; Bl. 174, 224); Schulprospekt von Stuttgart, HStAS E 130b Bü 1489, Dokument 16, ca. 1925 (UdK, UA, Best. 8, Nr. 88, Bl. 401f.); Beil. 12). Prussia-Gesellschaft e.V. (Hg.): Kunstakademie Königsberg 1845–1945. Duisburg 1983, S. 29. 144 JULIA WITT um architekturgeschichtliche Veranstaltungen gehandelt haben. Friedrich Lahrs selbst war viele Jahre stark eingespannt, da er zwischen 1909 und 1919 für den Entwurf und die Bauausführung des neuen Kunstakademiecampus in Königsberg-Ratshof ver- antwortlich zeichnete. 50 Fazit Beim Architektur-Lehrangebot an den zehn deutschen Kunstakademien der Weimarer Republik sind große Unterschiede zu verzeichnen. Vom reinen Stilkundeunterricht über Innen- architekturklassen bis hin zu großen Abteilungen, welche Hochbauarchitekten ausbildeten, war an den Kunstakademien alles vertreten. Die historisch gewachsene Struktur der einzelnen Kunst- akademien bedingte, ob und in welchem Umfang die Architektur im Lehrplan verankert war. Hierbei spielte die Wechselwirkung mit den Technischen Hochschulen eine bedeutende Rolle. In Städten mit starken und angesehenen Technischen Hochschulen hatten die Kunstakademien meist das Nachsehen. Da von staatlicher Seite keine exakten Vorgaben für die Unterrichtsinhalte an Kunstakademien existierten, war das jeweilige Lehrprogramm von der Persönlichkeit der Lehrenden abhängig, von ihrem Können und ihren Vorlieben geprägt. Eine Vergleichbarkeit der Architekturausbildung an den Kunstakademien ist dementsprechend nicht möglich. Wie ist diese disparate Situation mit den Zielen der Kunstschul- reformer in Einklang zur bringen? Ein zentraler Gedanke von Walter Gropius und anderen Reformern war, dass alle Künstler im Sinne einer Bauhütte zusammenarbeiten sollten. Bauwerke seien als Gesamtkunstwerke aus der Hand aller Disziplinen aufzufassen. Die daraus resultierenden Forderungen wurden in realiter nicht eingelöst: Die Architektur als Mutter aller Künste nahm keine 50 Zu Friedrich Lahrs siehe: Kurt Forstreuter, Fritz Gause (Hg.): Altpreußische Biographie. Bd. 3, Marburg 1975, S. 989f. 145 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK zentrale Stellung im Lehrprogramm der Kunstakademien ein. Ebenso scheint es nur selten Kooperationen der verschiedenen Professionen gegeben zu haben. Das Lehrgebiet Architektur war in den meisten Fällen randständig und hatte lediglich allgemein- bildenden Charakter. War eine eigene Architekturklasse vor- handen, so bildete diese in der Regel eine eigene abgeschlos- sene Schule. In Breslau ging dies sogar so weit, dass es den Architekturstudierenden untersagt war, an Lehrveranstaltungen der anderen Abteilungen teilzunehmen. 51 Ein weiterer Gedanke der Reformdiskussion war, dass eine Stärkung der Baukultur notwendig sei und dass dies nur mög- lich würde, wenn Architekten Baukünstler seien und keine Baubeamten. Diese Forderung zielte natürlich darauf ab, die Kunstakademien gegenüber den Technischen Hochschulen zu stärken. In der Realität lief dies in die Leere. Das Berliner Beispiel zeigt deutlich, dass, wenn eine Technische Hochschule am Ort existierte, die Architektur-Studierenden der Kunstakademie fernblieben. Hierfür gab es triftige Gründe: Die technischen Fächer wurden und konnten an der Akademie nicht in aus- reichendem Maße gelehrt werden. Die Akademieausbildung barg für die zukünftige Berufsausübung Nachteile, da die Akademieabsolventen in der Regel im öffentlichen Dienst nicht zugelassen wurden und demnach nur als Privatarchitekten arbeiten konnten. Sie deckten damit zwar einen wichtigen Sek- tor ab, waren aber in ihrem Arbeitsfeld beschränkt. Außerdem führten Kunstakademien traditionell keine Abschlussprüfungen durch und stellten damit auch keine Abschlusszeugnisse aus. Die Architekturabsolventen durften somit auch keinen Titel führen. 52 In Dresden kämpften Architekturstudierende der Akademie 1925 dafür, durch eine ebenbürtige Bezeichnung mit den TH-Absolventen gleichgestellt zu werden. Die Debatte erzeugte einen Aufschrei in den Bauinnungen, woraufhin die Sache von 51 Hölscher 2003 (Anm. 30), S. 237. Diplomprüfung eingeführt. Siehe: Wilhelm Jänecke: Das Buch der Berufe. Ein Führer und 52 Dies unterschied sie von den Technischen Berater bei der Berufswahl. Band 9: Der Archi- Hochschulen. An allen preußischen Techni- tekt. Hannover 1902, S. 203. Ich danke Stefanie schen Hochschulen wurde bereits 1903 eine Fink für den freundlichen Hinweis. 146 JULIA WITT ministerieller Seite abgewendet wurde. 53 Diese Diskussion wurde über viele Jahre reichsweit geführt. 54 Sie ist ein wichti- ger Streitpunkt innerhalb der Kunstakademiereformen und ein Ausweis des Strebens der Kunstakademien nach Anerkennung als Hochschulen, um mit den Technischen Hochschulen und Universitäten gleichgestellt zu werden. Worin lagen die Vorteile eines Architekturstudiums an der Kunstakademie? Zuallererst waren es die Zugangs- voraussetzungen. Die Kunstakademien forderten eine hand- werkliche Schulung, anders als die Technischen Hochschulen, welche ein Abitur voraussetzten. Es oblag den aus der Praxis kommenden Studierenden, sich für einen kurzen Fortbildungsweg zu entscheiden, wie ihn die preußischen Kunstakademien mit den Lehrgängen für Baugewerkschulabsolventen anboten, oder für eine intensive Schulung in den Meisterklassen. Zwar hatten die, das Baukünstlerische betonenden Lehrprogramme einen geringeren Fächerkanon als an den Technischen Hochschulen, doch war aufgrund der geringen Studierendenzahl eine intensive Betreuung durch den Architekturlehrer möglich und es konnte sich ein enges Meister-Schüler-Verhältnis entspinnen. So waren an der Kunstakademie Dresden im Sommerhalbjahr 1930 insgesamt 29 Studierende der Architektur registriert, während im Vergleich im Jahr 1929 an der Technischen Hochschule 228 Studierende eingeschrieben waren. 55 Der Erfolg der Architektenausbildung an den Kunsthochschulen der Weimarer Republik ist also keines- falls quantitativ anhand von Studierendenzahlen messbar, son- dern ließe sich nur qualitativ durch Erforschung der beruflichen Biografien der Absolventen ermessen. Dies muss jedoch einer zukünftigen Untersuchung vorbehalten bleiben. 53 Siehe hierzu die Archivalie „Baufach an der 55 Statistik der Kunstakademie Dresden für Akademie der bildenden Künste und der Tech- das Jahr 1930/31 (HfBK Dresden, K/A, 01/079, nischen Hochschule zu Dresden“ (SHStAD, Bl. 65); Hochschule für Bildende Künste Dres- 11125, Ministerium des Kultus und öffentlichen den 1990, S. 291. Unterrichts, 18020). 54 Zum Einfluss der deutschen Bauunterneh- mer auf öffentliche Verwaltung und Gesetz- gebung siehe: Blümm 2013 (Anm. 4), hier insbes. S. 146, 150. 147 ARCHITEKTURLEHRE AN DEN KUNSTAKADEMIEN IN DER → INHALT WEIMARER REPUBLIK 148 SIMON PAULUS SIMON PAULUS „Der Student der Archi- tektur soll bauen und nicht schwindeln lernen“ Zur Reform der Architektenausbildung an der Technischen Hochschule Braunschweig in den 1920er Jahren An der TH Braunschweig sind die ab 1923 an den Technischen Universitäten durchgeführten Reformen in der Architekten- ausbildung besonders mit der Person Carl Mühlenpfordts ver- bunden, der als Hochschullehrer, Dekan und Rektor wesentlich auf die Umstrukturierung und Neuausrichtung der Lehrfächer einwirkte. Eine Analyse der Semesterprogramme macht diese Reformen schrittweise nachvollziehbar. Sie zielten auf eine in- haltliche Straffung und Stärkung einer praxisnahen Ingenieurs- ausbildung, die sich nicht zuletzt auch in der Vergabe von Ehrentiteln widerspiegelte. Hier verfolgte man die gezielte Strategie, namhafte Vertreter der Bauwirtschaft und Industrie effektiv in die Lehrprogrammatik einzubinden. „Eine große Anzahl von Vorschlägen zur Reform der Hochbauschulen aller Art, welche in den letzten Jahren aufge- taucht sind und diskutiert wurden, geben beredtes Zeugnis, daß eine Neuorganisation dringend nottut. Über das Bedürfnis einer Reform – besonders der Hochschulen – sind sich alle einig; aber über die Art und Weise der Neuordnung gehen die Meinungen erschreckend auseinander.“ 1 Mit diesen Worten beginnt der 1 Hermann Sörgel: Reformentwurf zur ein- heitlichen Organisation der Hochbauschulen. München 1921, S. 1. 149 „DER STUDENT DER ARCHITEKTUR SOLL BAUEN UND → INHALT NICHT SCHWINDELN LERNEN“ Münchner Regierungsbaumeister Herman Sörgel seinen 1921 erschienenen Reformentwurf zur einheitlichen Organisation der Hochbauschulen. Sörgels Reformentwurf wurde wie so viele seiner utopischen Projekte nicht weiter beachtet. Generell ist jene Diskussion um die Studienreform an den Hochschulen, die Sörgel ansprach, bisher nur mit dem Fokus auf die Gründung und das Ausbildungsprogramm des Bauhauses untersucht worden. Die parallel dazu stattfindenden Reformbemühungen an den Technischen Hochschulen fanden dagegen kaum das Interesse der Forschung. So fehlt bislang eine übergeordnete Studie, in der die Vielfalt an Positionen, Entwürfen und Äußerungen in ihren jeweiligen Beziehungen zueinander zusammengestellt und ana- lysiert wird. Im Folgenden soll stellvertretend für diese Reformbemühungen an den polytechnischen Hochschulen ein Blick auf eine der wohl traditionsreichsten, wenn auch kleinsten der neun poly- technischen Hochschulen der Weimarer Republik gewor- fen werden: Die Carolo Wilhelmina in Braunschweig. Auch an der Braunschweiger Hochschule erhielt die konserva- tive Haltung einer akademischen Stilentwurfslehre schon 1898 mit der Berufung Hermann Pfeifers als Professor für die Lehrgebiete ‚antike Raumkunst und Renaissance‘ ein erstes kritisches Gegengewicht. 2 Hermann Pfeifer machte besonders durch seine 1906 in der Reihe des Handbuchs der Architektur erschienene Formenlehre des Ornaments auf sich aufmerksam (Abb.  1). 3 In einem 1899 erschienenen Aufsatz im Zentralblatt der Bauverwaltung hatte er zuvor seine baukünstlerische Position formuliert. 4 Der Artikel, ein Abdruck einer Rede vor den Braunschweiger Architekturstudenten, trägt den hochge- griffenen Titel Die deutsche Baukunst der Zukunft. Sie erhebt 2 Vgl. Simon Paulus: „Künstlerische Aufga- 3 Hermann Pfeifer: Die Formenlehre des ben der Stadt Braunschweig“ – Vision und Re- Ornaments (Handbuch der Architektur; Teil 1: alität zwischen 1903 und 1923, in: Gerd Biegel, Allgemeine Hochbaukunde; Bd. 3 [=Abt. 4]). Henning Steinführer (Hg.): 1913 – Braunschweig Stuttgart 1906. zwischen Monarchie und Moderne. Braun- schweig 2015, S. 170–182. 4 Hermann Pfeifer: Die deutsche Baukunst der Zukunft. In: Centralblatt der Bauverwaltung XIX (1899), Nr. 9, S. 50–53 und Nr. 10, S. 57f. 150 SIMON PAULUS Abb. 1: Hermann Pfeifer, Einführung in die Proportionslehre in Die Formenlehre des Ornaments (Stuttgart 1906). Universitätsbibliothek TU Braunschweig, 2229-4959 151 „DER STUDENT DER ARCHITEKTUR SOLL BAUEN UND → INHALT NICHT SCHWINDELN LERNEN“ damit keinen geringeren Anspruch, als die Braunschweiger Position Pfeifers auf Augenhöhe mit den zeitgleich oder nur wenig später formulierten Reform-Positionen eines Henry van de Velde, Hermann Muthesius, Otto Wagner, Theodor Fischer oder Adolf Loos zu setzen. In seiner Rede bemängelt Pfeifer das Zurückgehen der kunstgewerblichen Selbständigkeit, die fabrik- mäßige Massenherstellung, das besinnungslose ‚Aufwärmen‘ der alten Stile. Als eigentliche Leistung des 19.  Jahrhunderts erkennt er lediglich die neuartigen „constructiven-ästhetischen Lösungen“ mit dem neuen Baumaterial Eisen an. Zentral ist für ihn bei der zukünftigen Baukunst die Frage nach der architek- tonischen Formengebung, die bisher nur nebensächlich behan- delt worden sei. „Nach langer Fahrt durch alle geschichtlichen Stile steht heute der Architekt wieder vor dem Kreuzwege und späht zweifelnd aus nach der rechten Straße. Der Conservative blickt zurück zur Antike oder zur Gothik oder zur Renaissance und sieht von dort allein das Heil winken; vielleicht hält mancher auch den byzantinischen Stil heute für zeitgemäß. Eine andere Fraction erhofft die wahre Gesundung unserer Baukunst in der Weiterbildung des Backsteinstiles, wieder eine andere erhofft sie vom Haustein- oder vom Verputzstil, während die fortschritt- lich Gesinnten dem Eisenbau die Zukunft zusprechen. Dieser predigt den Rahmen- und Gerüststil, jener den Massenstil. Von den Modernen liebäugeln die Zahmeren mit der neuengli- schen Richtung oder schielen nach Paris, die Radicalen wollen alle Brücken hinter sich abbrechen und fordern um jeden Preis einen neuen, noch nie dagewesenen Stil. Wer hat in diesem babylonischen Gewirre Recht?“ 5 Pfeifer plädiert, nachdem er Schinkels Schauspielhaus und Wallots Reichstagsgebäude ganz im Sinne deutscher Bautugenden gewürdigt hat, für eine natio- nale, staatlich geförderte „echte Monumentalkunst“. Aufgabe dieser Monumentalkunst sei es, „durch gemeinsame Pflege der drei Schwesterkünste Baukunst, Bildhauerei und Malerei zu dem Sinne der Bevölkerung in weiten Kreisen zu sprechen, durch die Hingebung mit dem Schönen den Werth des Daseins zu erhöhen 5 Pfeifer 1899 (wie Anm. 4), S. 52. 152 SIMON PAULUS und damit die Vaterlandsliebe zu stärken, sowie das Bewußtsein der Größe und Bedeutung des Gemeinwesens und der Ordnung zu steigern.“ 6 Einen Vorschlag, wie dies in einer Studienreform in der Architektenausbildung zu verwirklichen wäre, macht er jedoch nicht. Und obwohl Pfeifer als einer der wenigen seine Reformwilligkeit unter anderem durch den Beitritt zum Werkbund bekundete, waren die konservativen Kräfte wohl zu dominant. Ein anderer sollte statt ihm zur eigentlichen Galionsfigur der Braunschweiger Reform werden: Carl Mühlenpfordt (Abb.  2). Dieser befand sich 1898 sehr wahrscheinlich unter den dama- ligen studentischen Zuhörern der Rede Pfeifers und kam, nach Umwegen über Tätigkeiten als Regierungsbaumeister in den Bauämtern in Frankfurt a. M. und Lübeck, als Professor auf die 1914 neu zu besetzende Stelle einer Professur für ‚Allgemeine Baukunst‘ an seine Alma Mater zurück. Er brachte eine „große Summe künstlerischer Erfahrungen mit, die er in seiner feinsin- nigen Tätigkeit in Lübeck sammeln durfte. Seine reifen künstle- rischen Anschauungen im architektonischen Aufbau verbinden sich auf das Beste mit seinen Arbeiten im Städtebau, für die sein Entwurf für die Gestaltung des Platzes vor dem Holstentor in Lübeck ein beredtes Beispiel ist“ 7, hieß es in der Ausgabe der Deutschen Bauzeitung dieses Jahres. Mit seiner Berufung wurden neue Signale gesetzt. Entscheidend für den weiteren Verlauf der Reformen dürfte Mühlenpfordts Teilnahme als Dekan an einer Konferenz in Bamberg gewe- sen sein. 8 Er hat daraufhin seine Position 1923 – wie Hermann Pfeifer 24 Jahre zuvor – in einer Rede vor der Braunschweiger Studentenschaft und dem Lehrkörper formuliert: Mühlenpfordts Vorstellungen gehen dabei in vielem weiter, als es Pfeifer seinerzeit postuliert hatte, auch wenn beide beispielsweise die Architektur Schinkels als Leitbild ansehen. Nach Mühlenpfordt hätte man sich „entweder für die Pflege romantischer Baukunst auf kunst- wissenschaftlicher Grundlage oder für das Streben nach einer 6 Ebd. S. 58. 8 Über diese Konferenz ließ sich bei der Vorbereitung dieses Beitrags nichts weiter in 7 Deutsche Bauzeitung (1914), Nr. 88, S. 754. Erfahrung bringen. 153 „DER STUDENT DER ARCHITEKTUR SOLL BAUEN UND → INHALT NICHT SCHWINDELN LERNEN“ Abb. 2: Carl Mühlenpfordt auf der Baustelle, um 1930. Privatbesitz Braunschweig 154 SIMON PAULUS eigenen Zeitkunst zu entscheiden“. 9 Er resümiert, dass „wenn auch hier und da in der Handhabung der bestehenden Vorschriften Erleichterungen zugunsten von Lehrgebieten neu aufgenommen werden mussten, […] doch grundsätzlich in der Erziehung zum historisch-romantischen Schaffen keine Aenderung eingetre- ten“ sei. 10 Daraus folgert er eine seiner Hauptforderungen: „[…] die technischen Hochschulen sollten“ im Gegensatz zu den Kunstschulen und Akademien, „das Studium der Architektur in technischer Hinsicht vertiefen, das Gebiet der Baukonstruktion mit all seinen Zweigen, die Baustoffkunde, technische Mechanik und Statik stärker pflegen als bisher […].“ 11 „Ein wichtiges Kapital“ hierfür erkennt er auch „im Studium der verschiede- nen Gebäudearten in Stadtbau, Landbau und Industriebau. Es erstrebt ein gründliches Eindringen in die Zweckbestimmung der Gebäude. Die romantische Auffassung aber verführt dazu, daß der äußere Mantel mehr beachtet wird als der Organismus der Gebäude. […] Die Gebäude mit den eingebauten Maschinen müssen selbst wie große Maschinen aufgefasst werden, wenn sie richtig funktionieren sollen.“ 12 Deutlich hat dies Mühlenpfordt mit seinem 1926 bis 1928 errichteten Institutsgebäude für die Elektrotechnischen Institute zu demonstrieren versucht, das in diesem Sinne auch als Anschauungsbeispiel für die Studierenden dienen sollte. 13 Tatsächlich ist hier die Gebäudehülle als Maschinengehäuse durchaus nachvollziehbar. (Abb.  3) „Wenn wir“, so hatte Mühlenpfordt in seiner Rede postuliert, „nur noch aus der Aufgabe heraus und nach allgemeinen künstleri- schen Grundsätzen entwerfen, ohne dabei über das Rüstzeug 9 Karl Mühlenpfordt: Die Architektur und die 13 Vgl. Holger Pump-Uhlmann: Repräsenta- technische Hochschule, Rede Karl Mühlen- tion und Funktion: Der Polytechnikumsneu- pfordts zur Hochschulfeier der Technischen bau von 1873/77. In: Technische Universität Hochschule Braunschweig am 18. Januar 1923. Braunschweig. Vom Collegium Carolinum zur Braunschweig 1923, S. 5. Technischen Universität 1745–1995, Hildes- heim u.a. 1995, S. 201-227. 10 Mühlenpfordt 1923 (wie Anm. 9), S. 6. 11 Ebd. S. 6. 12 Ebd. 155 „DER STUDENT DER ARCHITEKTUR SOLL BAUEN UND → INHALT NICHT SCHWINDELN LERNEN“ Abb. 3: Das Gebäude der Elektrotechnischen Institute an der TH Braunschweig, Blick auf die Westseite des Instituts für Hochspannungstechnik, Zeichnung von Carl Mühlenpfordt, um 1927. NLA Wolfenbüttel, 12 A Neu Fb. 16, Nr. 427 alter Formen und Ornamente zu verfügen, werden wir zu einer Einfachheit kommen, zu der manchem vielleicht noch der Mut fehlt. Da hilft die Baukunst: alle großen Stilwandlungen zeichnen sich in ihrem Beginn durch Einfachheit aus.“ 14 Die Umsetzung dieser Programmatik sieht Mühlenpfordt „mehr durch schärfere Anspannung innerhalb des Studienplanes als durch Aenderung des Studienplanes erreicht“. 15 In der daraufhin eingeleiteten Reform des Studiengangs, die über einen Zeitraum von mehreren Jahren stattfand, 16 finden sich viele der 1923 formulierten Vorstellungen umgesetzt. Sehr 14 Mühlenpfordt 1923 (wie Anm. 9), S. 8. S. 231–254; sowie Ulrich Knufinke, Simon Paulus: Braunschweig vor der “Braunschweiger 15 Ebd. S. 6. Schule”. Bemerkungen zur Selbstfindung einer Architekturschule. In: Klaus Jan Philipp, Kerstin 16 Hierzu weiterführend Holger Pump-Uhl- Renz (Hg.): Architekturschulen – Programm, mann: Architektur- und Bauingenieurwesen: Pragmatik, Propaganda. Stuttgart 2012, Differenzierung und Entwicklungslinien der S. 145–157; und Simon Paulus: Architektur, Ausbildung – Braunschweig 1745–1918. In: Städtebau und Denkmalkultur – Braunschwei- Technische Universität Braunschweig. Vom gische Identitätssuche zwischen Tradition und Collegium Carolinum zur Technischen Universi- Reform. In: Meike Buck, Maik Ohnezeit, Heike tät 1745–1995. Hildesheim u. a. 1995, Pöppelmann (Hg.): 1913 – Herrlich moderne Zeiten? Braunschweig 2013, S. 78–85. 156 SIMON PAULUS Abb. 4: Lehrveranstaltungsverzeichnis für das Fach Architektur an der TH Braunschweig, WS 1922/23 und SS 1923. UniA TU Braunschweig, O II Vorlesungsverzeichnisse 157 „DER STUDENT DER ARCHITEKTUR SOLL BAUEN UND → INHALT NICHT SCHWINDELN LERNEN“ 158 SIMON PAULUS Abb. 5: Carl Mühlenpfordt im Kreise von Studenten an der TH Braunschweig, um 1930. Privatbesitz, Braunschweig 159 „DER STUDENT DER ARCHITEKTUR SOLL BAUEN UND → INHALT NICHT SCHWINDELN LERNEN“ anschaulich zeigt diese Veränderungen ein Vergleich der Lehrveranstaltungsverzeichnisse zwischen 1918 und 1934 – gerade auch im Hinblick auf die Lehrgebiete Mühlenpfordts (Abb.  4): 17 Er unterrichtete zunächst für das 2. Studienjahr das Fach ‚Formenlehre und Geschichte der mittelalterli- chen Baukunst‘, hielt für das 3. Studienjahr Vorlesungen über ‚Backsteinbau‘, ‚Fachwerkbau‘ und die ‚Ästhetische Ausbildung der Ingenieur- und Industriebauten‘. Zentral für die- ses Studienjahr war eine sechsstündige Übung in ‚Entwerfen‘ bei Mühlenpfordt. Im 4.  Studienjahr bot er die Veranstaltungen zum ‚Stegreifentwerfen‘ und ‚Landwirtschaftliche Baukunst‘ an. Ab dem Wintersemester 1924/25 entfielen bei Mühlenpfordt die Vorlesungen zur Formenlehre der Baukunst und zum Fachwerk- bau. Stattdessen bot er neben Entwerfen und Stegreifentwerfen nun Vorlesungen zum ‚Wohnhaus‘, zur ‚Gebäudekunde‘, zum ‚Industriebau‘, ‚Backsteinbau‘, über ‚Ländliche Siedelungen‘ und ‚Landwirtschaftliche Baukunst‘ an. In seinen letzten akti- ven Lehrjahren vor 1934 überwiegen die Stundenanteile sei- ner Fächer Entwerfen und Gebäudekunde (Abb.  5). Die Vorlesungsveranstaltungen zur ‚Landwirtschaftlichen Baukunst‘ und zum Industriebau übernehmen andere Dozenten. Parallel zu dieser bei Mühlenpfordt zu beobachtenden Herausbildung einer Gewichtung auf Entwerfen und Gebäudekunde wur- den die technischen Fächer und der Städtebau als Disziplinen gestärkt. 18 In den ersten beiden Studienjahren wird das Fach ‚Freihandzeichnen und Skizzieren‘ zu Ungunsten der bauge- schichtlich orientierten Fächer ausgebaut. 19 Gleichzeitig fallen hier einige Umbenennungen auf: Schon im Studienprogramm für 1922/23 wird der Begriff der ‚Formenlehre‘ aus den Titeln 17 Herangezogen wurden hier die digital 19 Die Fächer ‚Vorgriechische und griechi- zugänglichen Vorlesungsverzeichnisse im Uni- sche Baukunst‘ und ‚Römische Baukunst‘, versitätsarchiv TU Braunschweig, Bestand O II, die im Studienplan von 1922/23 für das erste Vorlesungsverzeichnisse (abrufbar unter URL: Studienjahr noch insgesamt einen Anteil von https://ub.tu-braunschweig.de/universitaets- 14 SWS besitzen, werden 1928/29 auf das Fach archiv/unterseiten/bestaende/vorlesungsver- ‚Baukunst des Altertums‘ mit 4 SWS reduziert. zeichnisse.php (04.07.2017)). Gleichzeitig erhält das Fach ‚Freihandzeichnen und Skizzieren‘ 8 SWS zugesprochen. Für das 18 Vgl. Pump-Uhlmann 1995 (wie Anm. 16), 2. Studienjahr wird 1928/29 zudem das Fach S. 246. ‚Zeichnen von Architekturteilen‘ eingeführt. 160 SIMON PAULUS dieser Fächer gestrichen. 20 Das entspricht Mühlenpfordts 1923 aufgestellter Forderung, „die Vorlesungen und Uebungen über Formenlehre oder Stillehre“ „ganz zu streichen“ – wobei er den- noch die Leistung seines Kollegen Hermann Pfeifers zu würdigen versuchte – und im Hinblick auf die Baukunst der Vergangenheit „allgemeine künstlerische Probleme [zu] studieren: die Aufteilung und Gliederung von Maßen und Flächen, die Achsteilung, Gruppierung, Rhythmus, Horizontalismus und Vertikalismus“. 21 Das im 4. Studienjahr angebotene Fach ‚Entwerfen und Modellieren von Ornamenten, Figuren, und Architektur-Teilen‘ läuft ab 1927/28 in diesem Sinne unter dem neuen Titel ‚Entwerfen und Modellieren von Gebäuden und Gebäudeteilen‘. Im gleichen Jahr wird auch das Wahlfach ‚Typische Bauschäden‘ eingeführt – und es ist leicht vorstellbar, dass man sich hier auch an den früh auftretenden Bauschäden der Bauten der Avantgarde rund um das Bauhaus, dem man abneigend gegenüberstand, inner- lich erfreute. Die Reformen zeigten sich jedoch nicht nur in den inhaltlichen Änderungen der Lehrveranstaltungsstruktur. Auch in ganz ande- ren Bereichen hochschulpolitischer und programmatischer Organisation fanden sie ihren Niederschlag. So beispielsweise in der Vergabe von Ehrendoktortiteln und Ehrensenatorwürden. 22 Die Wirkungszeit Mühlenpfordts als Dekan der Architekturabtei- lung ab dem Studienjahr 1919/20 23 und seine daran anschlie- ßende vierjährige Amtszeit als Rektor der TH Braunschweig ab dem Studienjahr 1925/26 bis zum Frühjahr 1929 ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich. 24 Denn hier offenbart sich 20 Aus ‚Formenlehre und Geschichte der 23 Als Dekan des Fachbereichs war er auch Baukunst des Altertums‘ wird beispielsweise Senatsmitglied. das Fach ‚Vorgriechische und griechische Baukunst‘, sowie ‚Römische Baukunst‘. 24 Mühlenpfordt hatte anschließend noch die Position des Konrektors inne und vertrat das 21 Mühlenpfordt 1923 (wie Anm. 9), S. 7f. Rektorat nochmals für wenige Wochen im Jahr 1933. 22 Zu den Ehrentitelvergaben siehe vertiefend Simon Paulus: Klinker, Klüngel, Kalkzement. Carl Mühlenpfordt und die Liga der ehrenwer- ten Herren. In: Olaf Gisbertz (Hg.): Mühlen- pfordt – Neue Zeitkunst. Berlin 2018, S. 86–97. 161 „DER STUDENT DER ARCHITEKTUR SOLL BAUEN UND → INHALT NICHT SCHWINDELN LERNEN“ eine geschickte Strategie, die den Reformen im Studium und dem Ausbau der TH gleichermaßen zugutekam. Im Vordergrund stand dabei die Ausbildung des Architekturstudenten zum konst- ruktiv und funktional entwerfenden Ingenieur. 25 Vier Phasen lassen sich hier unterscheiden: Die erste Phase fällt in eine Zeit, in der Carl Mühlenpfordt zwar schon berufen war, aber aufgrund des Ersten Weltkrieges noch nicht als Professor tätig sein konnte, sondern als Hauptmann der Reserve Frontdienst versah. Mitten im Krieg, am 31. Juli 1917, wird der damalige Baudirektor des Hamburgischen Staates, Fritz Schumacher, auf Vorschlag der Abteilung für Architektur mit dem Dr.-Ing. E.h. aus- gezeichnet, „in Anerkennung seiner hervorragenden Verdienste um die deutsche Baukunst und die wissenschaftliche Vertiefung der Erkenntnis ihrer Aufgaben.“ 26 Die Auszeichnung scheint im Rahmen jener frühen Reformtendenz an der Braunschweiger Hochschule deutbar zu sein, die mit der Berufung Mühlenpfordts 1914 ihren Anfang nahm und einen weiteren Orientierungspunkt an den aktuellen Architekturströmungen im norddeutschen Raum suchte. Am Beginn der zweiten Phase, nun unter aktiver Mitwirkung Mühlenpfordts, steht die Verleihung von drei Ehrendoktortiteln, die allesamt auf Vorschlag der Abteilung für Architektur am 19.11.1920 anlässlich des 175-jährigen Bestehens der Hochschule vergeben wurden. Da ist zunächst der Berliner Professor an der TH Charlottenburg, Otto Stiehl (1860–1940). 27 Stiehl, der zudem Berliner Magistratsoberbaurat a. D. und Mitglied der Akademie des Bauwesens war, galt als ‚Backsteinpapst‘ und hatte sich 25 Zur Entwicklung der TH Braunschweig un- Vom Collegium Carolinum zur Technischen ter dem Rektorat Mühlenpfordts siehe Bettina Universität 1745–1995. Hildesheim u. a. 1995, Gundler: Zwischen Stagnation und Aufbruch. S. 369–387, hier besonders ab S. 374. Der Erste Weltkrieg und die Entwicklung der TH Braunschweig in der Weimarer Republik. 26 Universitätsarchiv TU Braunschweig, In: Technische Universität Braunschweig. B 2:200, o. S.  Vom Collegium Carolinum zur Technischen Universität 1745–1995. Hildesheim u. a. 1995, 27 Verliehen wurde ihm der Titel „in Anerken- S. 345–367, hier S. 357–364. Zur Baupolitik un- nung seiner grundlegenden Forschungen über ter Mühlenpfordt siehe Holger Pump-Uhlmann: den Ursprung des norddeutschen Backstein- „Raumnot“ und Ausbauprogramm: Die bauliche baus, über die Geschichte des deutschen Entwicklung zwischen Jahrhundertwende und Rathauses und des deutschen Bürgerhauses“ dem Ende der Weimarer Republik. In: Techni- (Universitätsarchiv TU Braunschweig, B 2:207, sche Universität Braunschweig. o. S). 162 SIMON PAULUS unter anderem durch zahlreiche Restaurierungsprojekte in Nordostdeutschland einen Namen gemacht. 28 Inwieweit er instrumentalisiert werden sollte, um den Backsteinbau in Braunschweig zu propagieren, ist vorerst nicht ersichtlich. Viel deutlicher aber zeichnet sich ein weiterer Beweggrund für die Ehrung Stiehls ab: Sein gemäßigter Modernismus, oder viel- mehr sein konservativer Reformismus, der sich in seinen kunst- theoretischen Schriften, allen voran in der 1920 erschienenen Publikation Die Baukunst, ein Werkstein zum Wiederaufbau des Deutschen Geistes niederschlug, 29 stand stellvertretend für eine Position, die auch Mühlenpfordt vertrat. Beide verband zudem die ablehnende Haltung gegenüber der Programmatik des Bauhauses, die Stiehl in dem 1924 veröffentlichten Artikel Neues Weimar, neue Wege? 30 kritisch und mit zeittypischer Polemik hinterfragte (Abb. 6). Bei den anderen beiden Kandidaten erhoffte man sich wohl eine aktivere Einbindung in die Braunschweiger Entwicklung der Architekturlehre: Beide waren zudem Braunschweiger Alumni. Der Leipziger Stadtbaurat Karl James Bühring (1871–1936 31) sowie der Regierungsbaumeister a.D. und Professor an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg Paul Mebes (1871–1938). 32 Das neu geknüpfte Band zwischen Carl James Bühring und der Braunschweiger TH blieb allerdings kaum merk- bar. Bührings Arbeit in Leipzig dürfte ihm wenig Spielraum gelas- sen haben. Ganz anders stellt sich dies im Fall von Paul Mebes 28 Vgl. Konrad Nonn: Nachruf zu Stiehl. In: 30 Otto Stiehl: Neues Weimar, neue Wege? In: Zentralblatt der Bauverwaltung 23 (1940), Zentralblatt der Bauverwaltung 44 (1924), S. 410f. Otto Stiehls Leben und Wirken ist Nr. 22, S. 177–180. bisher kaum untersucht. Gedankt sei an dieser Stelle Selina Ahmann, die in ihrer Studienar- 31 Immatrikuliert im Wintersemester 1894/95 beit am Institut für Architekturgeschichte der (Universitätsarchiv TU Braunschweig, O I 1:1 Nr. Universität Stuttgart erstmals eine Übersicht zu 5779) „in Anerkennung seiner hervorragenden seinem publizistischen Wirken vorgelegt hat. Leistungen auf dem Gebiete der Stadtbau- Selina Ahmann: Otto Stiehl – Wissenschaftler, kunst“ (Universitätsarchiv TU Braunschweig, Architekt und Fotograf, Universität Stuttgart, B 2:22). 2015. 32 „In Anerkennung seiner hervorragenden 29 Otto Stiehl: Die Baukunst, ein Werkstein Leistungen auf dem Gebiete des großstädti- zum Wiederaufbau des Deutschen Geis- schen Wohnungswesens und des Städtebaus“ tes. Stuttgart 1920. (Universitätsarchiv TU Braunschweig, B 2:124). 163 „DER STUDENT DER ARCHITEKTUR SOLL BAUEN UND → INHALT NICHT SCHWINDELN LERNEN“ Abb. 6: Otto Stiehl, Neues Weimar, neue Wege?, Titelseite im Zentralblatt der Bauverwaltung, 44. Jg., Nr. 22 vom 28. Mai 1924. Zentral- und Landesbibliothek Berlin, kobv:109-opus-56552 164 SIMON PAULUS dar. Hier offenbart sich ein persönlicheres Verhältnis zwischen ihm und Mühlenpfordt. In zwei Schreiben gibt Mühlenpfordt bereitwillig Einblick in seine Vorstellungen zur Braunschweiger Architekturausbildung: „Mein lieber Herr Mebes“, schreibt Mühlenpfordt in einem Brief im Oktober 1925: „[…] ich weiß jetzt, daß wir uns in gemeinsamer Förderung unserer Hochschule, ins- besondere unserer Architekturabteilung zusammenfinden wer- den. Ich zweifele nicht, daß Sie, sobald Sie Einblick genommen haben in die Verhältnisse, wie wir sie heute hier haben, mir die Anerkennung aussprechen müssen: so ist es richtig, so wird was aus dem künftigen Architekten. Unter den Hochschulprofessoren herrscht über das „wie“ eine heillose Konfusion, nicht zuletzt des- halb, weil es da eine ganze Reihe angeblich Sachverständiger gibt, die nie in die Verlegenheit gekommen sind, den Architektenberuf ernsthaft auszuüben. Dann kommt die Gruppe der geschäftsge- wandten Friseure, die zwar keinen Grundriß lesen können aber Fassaden überarbeiten nach gegebenen Grundrissen. Gerade diese sind die sensationellen Vertreter des Berufes geworden in Zeitschriften wie: die Dame, die elegante Welt. Dann kom- men die Formalisten und Romantiker, wie sie systematisch durch die Staatsbauverwaltungen gezüchtet werden. Besonders spaßig war der hysterische Schrei des Herrn Muthesius in sei- nem Vortrage über die Ausbildung der Architekten: ‚zurück zur Kultur‘. Ich habe darauf hier eine recht fröhliche Vorlesung in der Hochschule gehalten über die Frage: ‚zu welcher Kultur möchten wir wohl zurück‘? Aus all dem Schwindel führt nur ein Weg: erzieht den Architekten zum Techniker, dann kommt die künstlerische Lösung in zeitgemäßer Form schon ganz von selbst. Aber die- ser Weg ist dornenvoll und arbeitsreich, billige Sensationserfolge blühen an ihm nicht und die Litteraten vermögen über diese spröde Materie nichts zu schwätzen. Nun kommen Sie recht bald mal her und sehen Sie sich an, wie wir das machen.“ 33 33 Brief Carl Mühlenpfordts an Paul Mebes vom 15. Oktober 1925, masch., Universitätsar- chiv TU Braunschweig, B 2:124, o. S. 165 „DER STUDENT DER ARCHITEKTUR SOLL BAUEN UND → INHALT NICHT SCHWINDELN LERNEN“ Ob und wann Mebes der Einladung Mühlenpfordts nach Braunschweig Folge leistete, bleibt unbekannt. Sicher ist, dass er nicht zur Einweihung der Elektrotechnischen Institute 1929, dem ehrgeizigen Prestigeobjekt Mühlenpfordts, kommen konnte. Diesem Umstand verdanken wir ein zweites erhaltenes Schreiben Mühlenpfordts an Mebes: „Ich habe aus mancherlei Gründen bedauert, daß Sie an der Einweihungsfeier nicht teil- nehmen konnten. Zunächst der Bau selbst und die Tatsache, daß wir das so zu sagen aus eigener Kraft ermöglicht haben. Dann aber der rege lebendige Geist, der heute in der Hochschule steckt und nicht zuletzt in der Architekturabteilung. Wenn Sie das chemischen [sic!] Laboratorium der Architekturabteilung sehen und vor allem, daß die Kerle jetzt ehrlich erzogen werden für die Beurteilung von Baustoffen und Baufehlern, dann hät- ten Sie daran Freude gehabt. Das Ziel meiner Bestrebungen: „Der Student der Architektur soll bauen und nicht schwindeln lernen“ – hat mit diesem Labor, dessen Leiter der Nachfolger Pfeifers ist, einen vorläufigen Anschluß gefunden. Nachdem ich das Rektorat abgegeben habe, (4 Jahre) kann ich mich nun der Ausnutzung der für die Abteilung geschaffenen Neuerungen ungehindert widmen und hoffe auch da auf Erfolg und Befriedigung – wenn die alten Knaben wie Mebes mit helfen.“ 34 War es mit den Ehrendoktorvergaben in der Amtszeit Mühlen- pfordts als Dekan zunächst bei einer ideellen Unterstützung des Faches durch die Beehrten geblieben, hatte sich unter Mühlenpfordts Ägide als Rektor in der nun dritten Phase die Zielsetzung geändert. Nun ging es um einen pragmatischen und vor allem pekuniären Beitrag, der mit der Vergabe des Titels erwartet wurde. Gerade auch im internen Vergleich mit den ande- ren Fachbereichen an der TH zeichnete sich diese Strategie durch eine erstaunliche Zielstrebigkeit gerade im Hinblick auf die Vorteile für die Ausbildungsprogrammatik aus. 34 Brief Carl Mühlenpfordts an Paul Mebes vom 18. Februar 1929, masch., Universitätsar- chiv TU Braunschweig, B 2:124, o. S. 166 SIMON PAULUS Abb. 7: Magdeburg-Exkursion der Abteilung Architektur der TH Braunschweig zu den Förder- stedter Kalkwerken 1925 (Carl Mühlenpfordt, 1. Reihe, 6. von links). UniA TU Braunschweig, B 2 177 Dies zeigt sich zum ersten Mal deutlich im Fall des Kölner Archi- tekten Jakob Koerfer (1875–1930). Er erhält am 26. Januar 1926 die Würde des Doktor-Ingenieur ehrenhalber „in Anerkennung der vorbildlichen baulichen und wirtschaftlichen Lösung der Aufgabe des Baues eines deutschen Hochhauses, errichtet am Hansaring in Köln a. Rh.“ 35 Das 1925 fertiggestellte Hochhaus ist der zur damaligen Zeit wohl höchste „Wolkenkratzer“ Deutschlands und fand ein entsprechend breites Echo in den Bauzeitschriften. 36 Koerfer erwies sich als bereitwilliger Spender. 35 Universitätsarchiv TU Braunschweig, Catrin Menne-Thomé: Koerfer, Jacob. In: Neue B 2:104. Deutsche Biographie 12 (1979), S. 376 f. [On- linefassung]; URL: http://www.deutsche-biogra- 36 Das Kölner Hochhaus. In: Bauwarte – phie.de/ pnd118824287.html; Klemens Klem- Zeitschrift für Baukunst und Bauwirtschaft mer: Jakob Koerfer (1875–1930). Ein Architekt (1925), 29. Januar, S. 6–9; Der Hansahof in zwischen Tradition und Moderne. Köln 1987. Köln. In: Zentralblatt der Bauverwaltung 46 (1926), Nr. 30, S. 357–359. Siehe auch 167 „DER STUDENT DER ARCHITEKTUR SOLL BAUEN UND → INHALT NICHT SCHWINDELN LERNEN“ Gleichzeitig nutzte Mühlenpfordt seine persönliche Beziehung zu Koerfer aus, ihn auch für die Lehre nutzbar zu machen. So wurde Koerfer unter anderem darum gebeten, „daß Sie mir Baupläne und Photographien Ihres Kratzers schicken wollten? Mir liegt sehr daran, meinen Leuten nicht nur die Bilder, sondern auch die Baupläne zeigen zu können, denn das sind keine Landräte oder höhere Töchter, sondern angehende Architekten, die wissen wol- len, aus welchen Plänen so ein Bild entsteht.“ 37 Und nicht nur im Falle Koerfers scheint Mühlenpfordts Rechnung aufzugehen. Von großem Geschick und Gespür für die rich- tige Ansprache zeugen auch die weiteren Titelvergaben, die im Jahr 1926 besonders an Vertreter der Bauindustrie ergehen: Der Fabrikdirektor der Förderstedter Kalk- und Zementwerke Schenk & Vogel, Johann Schimpf (†1937), Mitglied der Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen, 38 das Aufsichtsratsmitglied des deut- schen Baukonsortiums, Friedrich Fix (1878–1934), 39 und der Magdeburger Industrielle Johann Schimpf. Zu Letzterem hatte man bereits im November 1925 mit der gesamten Architekturabteilung einen Ausflug unternommen (Abb.  7). Schimpf sollte sich um das Programm kümmern und bei der Gelegenheit seinen Beitrag zur Ausbildung leisten. Mühlenpfordt informierte hierüber Schimpf: „Frühere Studierende, die jetzt in Magdeburg tätig sind, werden uns etwas von ihren Neubauten zeigen. Zu einem fröhlichen Beisammensein würde die Zeit immer noch reichen und wohl auch für eine Unterhaltung über die mich sehr interessierende Frage: wie erreichen wir, daß der studierende Architekt mehr lernt über die Baustoffe, insbeson- dere über Kalk.“ 40 37 Schreiben vom 19.3.1926, Universitätsar- 39 „In Anerkennung seiner hervorragenden chiv TU Braunschweig, B 2:104, o. S. Verdienste um die praktische Verwendung des Eisenbetons im Baugewerbe“ Dr.-Ing. E.h.: 38 „In Anerkennung seiner hervorragenden 27.10.1926, auf Vorschlag der Abteilung für Ar- Verdienste um die Organisation der mitteldeut- chitektur, Universitätsarchiv TU Braunschweig, schen Kalkindustrie und die Veredelung der B 2:49. Kalkprodukte“ am 18.1.1926, auf Vorschlag der Abteilung für Architektur. Universitätsarchiv TU 40 Universitätsarchiv TU Braunschweig, Braunschweig, B 2:177. B 2:177. 168 SIMON PAULUS Die Strategie Mühlenpfordts, die Bauprojekte der Universität durch die Bauindustrie fördern zu lassen und gleichzeitig die Qualität der Architekturausbildung durch Praxiseinblicke in die Baustoffgewinnung und -verarbeitung zu bereichern, erreicht in der vierten Phase von Ehrentitelverleihungen 1928/1929 ihren Höhepunkt. Nun sind es neben Ehrendoktortiteln besonders die noch höheren Weihen der Ehrensenatorwürde, die nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Bau und der Finanzierung der Elektrotechnischen Institute an zwei Industrielle vergeben wer- den: An den Fabrikdirektor der Saxonia-Zementwerke in Glöthe bei Magdeburg Friedrich Laas (*1858) und an den Generaldirektor der Schütte Tonwaren Industrie AG, Otto Heuer (1877–1960) in Bad Oeynhausen. 41 Beiläufig lässt sich auch hier der Akte entnehmen, dass Mühlenpfordt im Mai 1926 mit Studenten eine Exkursion nach Lübeck „zum Studium des norddeutschen Backsteinbaues“ unternommen hatte und auch im Begriff stand, in einer nächsten Exkursion die Werke der Schütte AG in Minden zu besuchen. 42 Die Klinker-Allianz zwischen Mühlenpfordt und Heuers Schütte AG umfasste ganz gemäß der Programmatik Mühlenpfordts auch Gefälligkeiten in der Lehre. Eine Studien-Exkursion im Juli 1929 in den Weserraum wird von Heuer organisiert, man besucht mit Studenten die Mindener Ziegelei und auf persönli- chen Wunsch Mühlenpfordts auch die Holtruper Ziegelwerke, „deren Fabrikat“, so Mühlenpfordt an Heuer, „ich neulich beim Schulbau Gandersheim vorgeführt habe“. „N[ota].B[ene]. wird Gandersheim ein Reklamestück für Holtrup. Ihr werdet staunen, wenn ihr von dem Bau eine Aufnahme bekommt.“ 43 Man staunt selbst angesichts dieser erfolgreichen Akquisearbeit Mühlenpfordts, mit der er als „Rektor Magnififikus“, wie er in einem Gedicht zur Einweihung des Institutsgebäudes scherzhaft 41 Ernennung zum Ehrensenator am 16.5.1928 43 Universitätsarchiv TU Braunschweig, auf Beschluss des Konzils, Universitätsarchiv B 3:30. TU Braunschweig, B 3:30. 42 Schreiben des Regierungsoberinspektors […], Braunschweig, vom 17. Mai 1926, Universi- tätsarchiv TU Braunschweig, B 3:30. 169 „DER STUDENT DER ARCHITEKTUR SOLL BAUEN UND → INHALT NICHT SCHWINDELN LERNEN“ betitelt wird, 44 die Reform der Architektenausbildung an der Braunschweiger TH so erfolgreich voranbrachte und die mit weiteren Ehrendoktorvergaben ihre Fortsetzung fand. 45 Diese Reform wurde natürlich auch von den übrigen Professoren mit- getragen, wenn sie auch nicht so auffällig dabei in Erscheinung traten. Es zeigt sich aber, dass die Reformprozesse dieser Jahre an den Technischen Hochschulen eine lohnenswerte und detail- lierte Betrachtung wert sind. Und dass auch Nebenschauplätze wie die Vergabe von Ehrentiteln hier eine nicht zu unterschät- zende Rolle spielten. Die enge, oft zu enge Verknüpfung von Industrie, Wirtschaft und Ausbildung ist so gesehen nicht nur ein Phänomen unserer Tage. 44 Gedicht zur Einweihung der Elektrotechni- Dresden, Richard Sichler (1876–1952) erhält schen Institute, Typoskript im privaten Nach- den Dr.-Ing. E.h. am 24.10.1928 auf Vorschlag lass Mühlenpfordts, Braunschweig. der Abteilung für Architektur „in Anerkennung seiner hervorragenden Verdienste um die 45 Paul Endriss, Regierungsbaumeister und deutsche Denkmalspflege bei der Wiederher- Generaldirektor/Vorstandsmitglied der Ba- stellung des Schlosses Bürgeln im Schwarz- salt-AG in Linz/Rhein, bekommt am 22.2.1928 wald“ (Universitätsarchiv TU Braunschweig, B die Würde eines Doktor-Ingenieurs Ehren 2:169). Weitere Ehrendoktorwürden ergehen an halber in Anerkennung seiner hervorragenden den Inhaber des Georg Westermann Verlages, Verdienste um die Entwicklung der für das Hans Reichel, und an David Schnur (*1882), gesamte Bauwesen wichtigen deutschen Stein- einflussreicher Generaldirektor der Reemtsma architektur“ verliehen. (Universitätsarchiv AG in Berlin). Hans Reichel erhielt für seine TU Braunschweig, B 2:42.) Der Kommerzienrat verlegerische Leistung bei der Herausgabe von und Generaldirektor der Lingnerwerke in „Westermanns Weltatlas“ auch die Ehrendok- torwürde der Universität Greifswald. 170 JAN LUBITZ JAN LUBITZ Von der Gewerbeschule zum Polytechnikum Architekturlehre in Stuttgart im 19. Jahrhundert1 Mit dem Begriff ‚Stuttgarter Schule‘ wird die reformierte Architekturlehre der TH Stuttgart im frühen 20.  Jahrhundert bezeichnet. Sie basiert auf einer im 19.  Jahrhundert entwickel- ten Lehrstruktur. Nach Vorbild der Pariser École Polytechnique 1829 als ‚Real- und Gewerbeschule‘ gegründet, erhält die Stuttgarter Architekturlehre schon 1840 mit der Umgestaltung als ‚Polytechnische Schule‘ eine thematische Gliederung, die ein Gegenmodell zum Meister-Schüler-Prinzip der Dombauhütten und Kunstakademien darstellt. Mit ihrer systematischen, nicht stilgebundenen Architekturlehre nimmt die TH Stuttgart innerhalb der seit 2006 im Verband ‚TU9‘ zusammengeschlossenen deut- schen Technischen Hochschulen eine Pionierrolle ein. Die ‚Stuttgarter Schule‘ ist ein in der Architekturgeschichte geläu- figer Begriff, 2 mit dem die Architekturlehre an der Technischen Hochschule Stuttgart im frühen 20. Jahrhundert bezeichnet wird. 1 Dieser Artikel beruht im Wesentlichen auf 1979) sowie dem Buch von Otto Borst (Schule bislang nicht publizierten Quellenforschungen, des Schwabenlands. Geschichte der Universität vor allem den im Universitätsarchiv der Univer- Stuttgart. Stuttgart 1979) entnommen. sität Stuttgart erhaltenen Lehrprogrammen und Vorlesungsverzeichnissen ab 1840; allgemeine 2 Vgl. Jürgen Joedicke: Architekturlehre in Angaben zur Entwicklung der Polytechnischen Stuttgart. Von der Real- und Gewerbeschu- Schule Stuttgart im 19. Jahrhundert wurden le zur Universität. Stuttgart 1994; Matthias hauptsächlich den Festschriften von Richard Freytag: Stuttgarter Schule für Architektur 1919 Grammel (Festschrift der Technischen Hoch- bis 1933. Stuttgart 1996; Klaus Jan Philipp: Die schule Stuttgart. Zur Vollendung ihres ersten Stuttgarter Schule. Eine Rezeptionsgeschich- Jahrhunderts 1829–1929. Berlin 1929) und te. In: Klaus Jan Philipp, Kerstin Renz (Hg.): Johannes Voigt (Festschrift zum 150-jährigen Architekturschulen. Programm, Pragmatik, Bestehen der Universität Stuttgart. Stuttgart Propaganda. Tübingen 2012, S. 39–51. 171 VON DER GEWERBESCHULE ZUM POLYTECHNIKUM → INHALT Als ihr Begründer gilt Theodor Fischer, der ab 1901 in Stuttgart lehrte. Ihre Blütephase erlebte sie in den 1920er und 1930er Jahren unter den Professoren Paul Bonatz (1877–1956), Paul Schmitthenner (1884–1972) und Heinz Wetzel (1882–1945), begleitet durch eine rege publizistische Verbreitung ihrer schul- bildenden Wirkung. 3 Der Begriff steht für eine moderne, refor- mierte Architekturlehre, die sich von den formalen Dogmen des Historismus losgelöst hat und eine traditionalistisch geprägte Moderne vertritt. Die ‚Stuttgarter Schule‘ gilt vor allem im Hinblick auf ihre Schulwirkung in der Weimarer Republik als konservativer Konterpart zu progressiveren Ausbildungsstätten, allen voran dem Bauhaus in Dessau, aber auch der Architekturlehre an der TH Berlin-Charlottenburg unter Hans Poelzig und Heinrich Tessenow. 4 In Anbetracht dieser architekturgeschichtlichen Konnotationen findet der Umstand kaum Beachtung, dass die ‚Stuttgarter Schule‘ auf einer Lehrstruktur basiert, die keineswegs eine Erfindung von Bonatz, Schmitthenner oder Wetzel ist, son- dern die weit in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Diese schon in der Gründerzeit begonnenen Entwicklungen bildeten die entschei- dende Grundlage dafür, dass sich in Stuttgart im frühen 20. Jahr- hundert eine reformierte Architekturlehre entfalten konnte. Genese und Struktur der ‚Stuttgarter Schule‘ Mit Theodor Fischer tritt 1901 ein Architekt an der TH Stuttgart an, der über sein bisheriges bauliches Werk Aufbruchsgeist verströmt und den Willen zum Bruch mit einem zunehmend als ‚internatio- nalistisch‘ empfundenen Historismus verkörpert. Die eigentlichen Anfänge der ‚Stuttgarter Schule‘ sind allerdings erst in die Phase nach 1907 zu verorten, als sich mit dem Deutschen Werkbund, zu dessen Initiatoren Fischer gehört, ein Sammelbecken für die 3 Werner Hegemann: Die Architektur-Schule 4 Vgl.: Werner Durth: Deutsche Architekten. Stuttgart. In: Wasmuths Monatshefte für Bau- Biographische Verflechtungen 1900–1970. kunst 11 (1928), S. 474–520; Gerhard Graubner Braunschweig, Wiesbaden 1986, S. 41–64. (Hg.): Bonatz und seine Schüler. Stuttgart 1931. 172 JAN LUBITZ verschiedenen deutschen Reformströmungen im Bauwesen und dem Kunstgewerbe herausbildet. Da Fischer die TH Stuttgart aber schon 1908 wieder verlässt, um an die TH München zu wechseln, kann er zwar als ein wichtiger Impulsgeber für die Reform der Stuttgarter Architekturlehre gelten – am eigentlichen Durchbruch der ‚Stuttgarter Schule‘ in den 1910er und 1920er Jahren ist er jedoch nicht beteiligt. Maßgeblich für die Entstehung einer Schulwirkung und die Etablierung eines entsprechen- den Schulbegriffs sind vielmehr mehrere Neuberufungen, die im Umfeld von Fischers Weggang vollzogen werden. Zwischen 1907 und 1911 wird nicht nur sein Lehrstuhl neu besetzt, sondern auch auf drei weiteren Lehrstühlen kommt es zu personellen Veränderungen, die mit einer thematischen Neuausrichtung der Abteilung für Architektur in Stuttgart einhergehen. Dieser bis 1911 vollzogene Wandel wird nach dem Ersten Weltkrieg weiter fortge- setzt, als 1918 Paul Schmitthenner und 1922 Heinz Wetzel in die Stuttgarter Architekturfakultät eintreten. Es handelt sich um indi- viduelle Charaktere, die in der Lehre unterschiedliche Themen und Positionen vertreten. Diese verschiedenen Persönlichkeiten können erst auf der Basis einer multidisziplinär gegliederten Lehrstruktur zur Entfaltung gelangen, die den eigentlichen Kern der ‚Stuttgarter Schule‘ ausmacht. Die Entwicklung eines thematischen Lehrspektrums im 19. Jahrhundert Als die Neubesetzungen zwischen 1907 und 1911 stattfinden, existiert an der Stuttgarter Architekturabteilung bereits ein Spektrum unterschiedlicher Lehrgebiete, das mit seiner themati- schen Gliederung ein breit gefächertes Curriculum abdeckt 5. Es umfasst die Fächer ‚Bauentwurf‘, ‚Baukonstruktion‘, ‚Baukunde‘, ‚Baugeschichte‘, ‚Zeichnen‘ und ‚Modellieren‘. Neben der Vitruvianischen Trias aus ‚firmitas‘, ‚utilitas‘ und ‚venustas‘, denen 5 Das Vorlesungsverzeichnis 1906/07 weist ‚Modellieren‘ noch in der Abteilung für allge- die ersten fünf Fächer als Bestandteil der Abtei- mein bildende Fächer angesiedelt, aber der lung für Architektur aus, während das Architekturlehre zugeordnet ist. 173 VON DER GEWERBESCHULE ZUM POLYTECHNIKUM → INHALT die Fächer ‚Baukonstruktion‘, ‚Baukunde‘ und ‚Bauentwurf‘ ent- sprechen, wird das Curriculum um die Baugeschichte sowie zwei künstlerische Disziplinen ergänzt. Mit diesem thematischen Spektrum werden die Absolventen der TH Stuttgart auf die in der Kaiserzeit gewachsenen Anforderungen für Architekten vorbereitet. Denn um in den 1903 gegründeten ‚Bund Deutscher Architekten‘ (BDA) aufgenommen werden zu können, muss eine entsprechende akademische Ausbildung nachgewiesen werden 6. Damit findet eine Abgrenzung zu den Absolventen von Baugewerkeschulen statt, bei denen es sich überwiegend um Handwerker handelt, die in architektonischen Disziplinen fortgebildet werden. 7 Zudem wird durch den BDA als Berufsverband selbstständiger Architekten die wirtschaftliche Bedeutung dieses Berufsstandes betont, der gegenüber den im Staatswesen angestellten Baumeistern während der Kaiserzeit zunehmend an Bedeutung gewinnt. Im Zuge der Aufgliederung der Berufsfelder in Baubeamte, aus dem Handwerk stammende Baumeister und freischaffende Architekten im Laufe des 19.  Jahrhunderts entstehen auch die Anfänge einer neuzeitlichen Architekturlehre. Die Technische Hochschule Stuttgart, die diesen Namen erst seit 1890 führt, hat an dieser Entwicklung maßgeblichen Anteil. Der Aufbau eines thematisch strukturierten Lehrspektrums, das schließlich um 1910 zur Basis der ‚Stuttgarter Schule‘ wird, hatte dort schon gegen Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen. Die Anfänge der modernen Architektenausbildung Bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein existierte keine geregelte oder gar thematisch klar gegliederte Architektenausbildung. Neben einer praktischen Lehre auf dem Bau, aus dem sich bereits im Mittelalter das Modell der ‚Bauhütte‘ entwickelt hatte, 6 Vgl.: Eckhard Bolenz: Vom Baubeamten 7 Vgl.: Jürgen Lecour: Bauschulen, Bauge- zum freiberuflichen Architekten. Technische werkschulen, Polytechniken. In: Ralph Johan- Berufe im Bauwesen (Preußen/Deutschland, nes (Hg.): Entwerfen. Architektenausbildung in 1799–1931). Frankfurt a.M. 1991. Europa von Vitruv bis Mitte des 20. Jahrhun- derts. Hamburg 2009, S. 481–499. 174 JAN LUBITZ existierten auch Zeichenschulen, an denen über eine Ausbildung im Zeichnen generelle baumeisterliche Kompetenzen vermittelt wurden. 8 Universitäten, die im deutschsprachigen Raum seit dem 14.  Jahrhundert bestanden, waren mit ihrem Fächerkanon der „Sieben Künste“ dagegen auf die Fächer Theologie, Jura und Medizin ausgerichtet und boten in der Frühen Neuzeit keine Ausbildung für bautechnische Berufe. Das Lehrmodell der Kunstakademien, das sich während der Renaissance in Italien entwickelt hatte, war mit dem Prinzip einer Meister-Schüler- Bindung dagegen auf künstlerische Disziplinen fokussiert, ohne aber technische und wissenschaftliche Themen abzudecken. Als vor dem Hintergrund der aufkommenden Industriellen Revolution ab dem späten 18.  Jahrhundert eine Ausbildung für technische Berufe immer wichtiger wird, entsteht in Paris im Umfeld der Französischen Revolution 1794 die École Polytechnique als neuartiges Schulmodell. Mit ihrem breit gefächerten Themenkanon dient sie in erster Linie der Ausbildung von Militärkadetten in Naturwissenschaften und Ingenieursdisziplinen. Nach diesem Vorbild werden im frühen 19. Jahrhundert in mehreren deutschen Ländern Gewerbeschulen gegründet, an denen von Anfang an auch Architektur gelehrt wird. Angesiedelt sind diese neuen Schulen zumeist in jun- gen Residenzstädten wie Karlsruhe oder Stuttgart, die wäh- rend der Napoleonischen Zeit infolge der Erhebung mehrerer Herrscherhäuser zu Königreichen oder Großherzogtümern eine Aufwertung erfahren. Damit treten sie nun in Konkurrenz mit älte- ren Universitätsstädten wie Heidelberg oder Tübingen. Den Anfang macht 1799 das Königreich Preußen mit Gründung der Bauakademie, die vorrangig dazu dient, die steigende Nachfrage an technisch geschulten Staatsbeamten befriedigen zu können. Parallel dazu wird 1821 in Berlin auch ein Königliches Gewerbeinstitut eingerichtet, das 1879 mit der Bauakademie vereinigt wird. Es folgen 1825 das Königreich Baden mit der Polytechnischen Schule in Karlsruhe, 1826 das Großherzogtum 8 Vgl. Michael Bollé: Akademien und Kunstschulen im deutschsprachigen Raum. In: Johannes 2009 (Anm. 7), S. 450–480. 175 VON DER GEWERBESCHULE ZUM POLYTECHNIKUM → INHALT Hessen mit einer Technischen Schule in Darmstadt, 1827 das Königreich Bayern mit der Polytechnischen Centralschule in München, 1828 das Königreich Sachsen mit der Technischen Bildungsanstalt in Dresden, 1829 das Königreich Württemberg mit der Bildung einer Real- und Gewerbeschule in Stuttgart, 1831 das Königreich Hannover mit der Höheren Gewerbeschule sowie 1835 das Herzogtum Braunschweig mit der Einrichtung einer Technischen Abteilung am Collegium Carolinum 9. Diese acht neuartigen Schulen erleben im 19.  Jahrhundert eine in weiten Teilen parallel verlaufende Entwicklung 10. Nach ihrem Anfangsstadium als Gewerbe- oder Technische Schulen etablieren sie sich bis in die 1840er Jahre als Polytechnische Schulen. Ab den 1870er Jahren werden sie dann in den Rang von Hochschulen erhoben, und damit weitgehend den altehrwürdi- gen Universitäten gleichgestellt. Zur Jahrhundertwende erhalten sie das Promotionsrecht. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden sie dann, meist im Zuge der Bildungsrevolution der 1960er Jahre, zu Universitäten erweitert und entsprechend umbenannt. Seit dem Jahr 2006 sind diese acht Institutionen, zusammen mit der 1870 gegründeten RWTH Aachen, im Verband ‚TU9‘ zusammen- geschlossen. (Abb. 1) 9 Vgl. Katharina Blohm, Winfried Nerdinger: Bei den verwendeten Chroniken und Jubilä- Architekturschule München 1868–1993, 125 umsschriften der Hochschulen handelt es sich Jahre Technische Universität München. Mün- u. a. um: Josef Becker: Von der Bauakademie chen 1993, S. 10f. zur Technischen Universität. 150 Jahre tech- nisches Unterrichtswesen in Berlin. West-Ber- 10 Die bisherige Forschung zur Architekten- lin 1949; Blohm, Nerdinger 1993 (Anm. 9); ausbildung im 19. Jahrhundert (u. a. Ulrich Roland Böttcher, Kristiana Hartmann, Monika Pfammatter: Die Erfindung des modernen Lemke-Kokkelink: Die Architekturlehrer der Architekten. Ursprung und Entwicklung seiner TU Braunschweig 1814–1995. Braunschweig wissenschaftlich-industriellen Ausbildung. Ba- 1995; Grammel 1929 (Anm. 1); Heinz Kunle, sel 1997) geht nicht auf das Phänomen der acht Stefan Fuchs: Die Technische Universität an Polytechnischen Schulen ein, die heute noch der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Festschrift die Basis der TU9 bilden. Die hier dargestellten zum 175-jährigen Bestehen der Universität Erkenntnisse sind durch die Recherche aus Karlsruhe. Berlin, Heidelberg 2000; Technische Chroniken und Jubiläumsschriften der Hoch- Hochschule Hannover: Catalogus Professorum. schulen gewonnen worden und erst durch den Der Lehrkörper der Technischen Hochschule Vergleich der einzelnen Entwicklungen wird Hannover 1831–1956. Hannover 1956; Gerhard die Parallelität der Entwicklungsschritte dieser Zweckbronner: Ingenieurausbildung im König- Institutionen deutlich. Das Schaubild (Abb. 1) ist reich Württemberg. Vorgeschichte, Einrichtung ein Resultat dieser Forschungen, die in dieser und Ausbau der Technischen Hochschule Form noch nicht veröffentlicht sind. Stuttgart und ihrer Ingenieurwissenschaften bis 1900. Stuttgart 1987. 176 JAN LUBITZ Gründung der Königlichen Real- und Gewerbeschule in Stuttgart 1829 Die Stuttgarter Schule wird am 26. Oktober 1829 auf Geheiß von König Wilhelm I. von Württemberg als ‚Königliche Real- und Gewerbeschule‘ eingerichtet 11. Die bescheidenen Anfänge die- ser heute renommierten Architekturschulen sind typisch für die damals gegründeten Institutionen. Denn in Stuttgart wird ein- fach die seit 1796 bestehende Realschule zur Gewerbeschule umgestaltet, indem eine zusätzliche 8. Klasse für den Kunst- und Gewerbeunterricht installiert wird. Die schon bestehende 7. Realschulklasse wird zur Vorbereitungsstufe umgewandelt. Mit Friedrich Degen (1802–1850) und Karl Marcell Heigelin (1798–1833) werden dafür zwei neue Lehrer eingestellt. Degen lehrt die Fächer Analytische Geometrie, Chemie, Technologie und Warenkunde, also den eher gewerblich ausgerichteten Teil, während Heigelin Darstellende Geometrie, Konstruierende Technologie, Kunstgeschichte und Heizungskunde vertritt, er also die Architekturlehre übernimmt. Die neue Schule wird im ‚Offizierspavillon‘ untergebracht, einem klassizistischen Bau, den der Hofbaumeister Nikolaus Thouret 1807 an der Königstraße errichtet hatte 12. (Abb.  2) Die Straße wurde nach Verleihung der Königswürde an das Württembergische Herzogshaus 1806 als neue Magistrale der Residenzstadt Stuttgart ausgebaut. Die Ansiedlung der Real- und Gewerbeschule an der neuen Straße illustriert nicht nur die 11 Erste Beratungen dazu begannen 1825, 12 Die Königstraße war nach Erhebung Würt- wirtschaftliche Probleme im Königreich tembergs zum Königreich 1806 in nördlicher Württemberg verzögerten die Gründung. Der Richtung verlängert worden. Entlang des neuen Vorschlag des Ministers des Innern und des Straßenzugs entstanden nicht nur Prachtbau- Kirchen- und Schulwesens wurde am 27. März ten wie das Kleine Theater am Schlossplatz 1829 vom König genehmigt. Der Lehrbetrieb und die Kath. St. Eberhard-Kirche, sondern wurde zum Wintersemester 1829/30 aufgenom- auch Bauten für das Militär, darunter an der Kö- men. Angaben nach: Grammel 1929 (Anm. 1), nigstraße 12 der ‚Offizierspavillon‘ als Standort S. 1f. der Garde-Offiziere und Remise für die Staats- wagen. Für die Planungen der Straße und der begleitenden Neubauten zeichnete der von 1798 bis 1817 amtierende Hofbaumeister Niko- laus Thouret verantwortlich. Vgl.: Paul Faerber: Nikolaus Friedrich von Thouret. Stuttgart 1949. 177 VON DER GEWERBESCHULE ZUM POLYTECHNIKUM → INHALT Abb. 1: Schaubild zur Entwicklung der deutschen Architekturschulen im 19. Jahrhundert. Grafik: Jan Lubitz 178 JAN LUBITZ Abb. 2: Nikolaus Thouret, Offizierspavillon an der Königstraße, Stuttgart 1807. Universität Stuttgart, Institut für Architekturgeschichte, Bildarchiv Bedeutung der Schule, deren Gründung explizit der Förderung von Wissenschaft und Technik im neuen Königreich dienen soll, sondern ist zugleich eine Maßnahme zur Entwicklung eines sich rund um die Königstraße neu konstituierenden Stadtquartiers. Auf der Grundlage eines 1831 von Heigelin erstellten Gutachtens werden 1832 Real- und Gewerbeschule organisatorisch vonein- ander getrennt 13. Die Schulzeit in der Gewerbeschule wird auf drei Jahre erweitert und umfasst einen einjährigen Grundkurs sowie zwei Jahre in einer Berufsklasse. Es werden vier Berufsklassen definiert: Mechanisch-Technische Berufe, Chemisch-Technische Berufe, Lehrer für Real- und Oberschulen sowie Kaufleute. Mit dieser Neustrukturierung der Gewerbeschullehre wird auch der Lehrkörper auf sechs Hauptlehrer ausgebaut. Die bis dahin 13 Heigelins Gutachten mit dem Titel „Entwurf dem Studienrat, einer Behörde des Ministeriums einer erweiterten Organisation der technischen des Innern und des Kirchen- und Schulwesens, Zentralschule zu Stuttgart“ hatte aufgezeigt, zugeordnet. Angaben nach: Karl-Heinz Böttcher, dass neben einem Vorlesungsbetrieb auch Bertram Maurer: Stuttgarter Mathematiker. eigene Werkstätten erforderlich seien, die aber Geschichte der Mathematik an der Universität nicht an eine Realschule gehörten. Die daraufhin Stuttgart von 1829 bis 1945 in Biographien. selbstständig gemachte Gewerbeschule wurde Stuttgart 2008, S. 36f. 179 VON DER GEWERBESCHULE ZUM POLYTECHNIKUM → INHALT ausschließlich von Heigelin durchgeführte Architekturlehre wird ergänzt durch Georg Conrad Weitbrecht (1796–1836) für die Fächer ‚Zeichnen‘ und ‚Modellieren‘. Damit beginnt in Stuttgart bereits 1832 die thematische Aufgliederung der Architekturlehre, verbunden mit einer Zuordnung auf verschiedene Lehrkräfte. Nach dem frühen Tod Heigelins folgt ihm 1834 Ferdinand Fischer (1784–1860), der sowohl die Architekturfächer Heigelins als auch dessen Posten als Rektor der Gewerbeschule übernimmt. In der Architekturlehre liegt die Hauptverantwortung zwar nach wie vor auf seinen Schultern, der die Fächer ‚Baukunde‘, ‚Bauzeichnen‘ und ‚Kunstgeschichte‘ vermittelt. Unterstützung findet er aber nicht nur in Weitbrecht, der die künstlerischen Disziplinen Zeichnen und Modellieren lehrt, sondern auch durch Auguste Nicolas Clavel (1803–1842), der ab 1834 die Fächer ‚Darstellende Geometrie‘ sowie ‚Feuerungskunde‘ übernimmt. Der Ausbau der Gewerbeschule wird 1835 mit der Einführung eines vierten Lehrjahrs fortgesetzt. Weitbrecht und Clavel scheiden durch ihren frühen Tod bereits 1836 und 1842 wieder aus der Lehre aus. Ab 1839 übernimmt Johann Matthäus Mauch (1792–1856) die Fächer ‚Ornamentenzeichnen‘ und ‚Modellieren‘ sowie das neue Fach ‚Monumentale Baukunst‘, mit dem die Baugeschichte als eigen- ständige Disziplin an der Stuttgarter Gewerbeschule etabliert wird. Mauch macht sich über die Stadt hinaus durch seine wis- senschaftliche Beschäftigung mit der antiken Baukunst einen Namen, setzt sich aber auch mit der lokalen Württemberger Baugeschichte auseinander und veröffentlicht seine Kenntnisse in mehreren Büchern. 14 14 Johann Matthäus Mauch: Neue syste- matische Darstellung der architektonischen Ordnungen der Griechen, Römer und neuern Baumeister. Potsdam 1845; Johann Matthäus Mauch: Abhandlung über die mittelalterlichen Baudenkmale in Württemberg. Stuttgart 1849. 180 JAN LUBITZ Umgestaltung zur Polytechnischen Schule 1840 Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Hochschule wird 1840 unternommen, als die Gewerbeschule in eine ‚Polytechnische Schule‘ umgestaltet wird. Die vier Lehrjahre werden straffer struk- turiert, nach einem einjährigen, stark mathematisch geprägten Grundkurs beginnt im 2. Lehrjahr die Fachausbildung. Mit Gustav Adolf Breymann (1807–1859) für das Fach ‚Baukonstruktion‘ sowie Friedrich Seubert (1780–1859) für das ‚Figurenzeichnen‘ treten zwei Hilfslehrer in das Kollegium ein, um die Architekturlehre – die 1840 noch ‚Baukunde‘ heißt – thematisch breiter aufstellen zu können. Schon durch die Umgestaltung der Gewerbeschule als Polytechnische Schule 1840 hat die Architektenausbildung in Stuttgart erstmals eine klare Struktur erhalten: Ferdinand Fischer ist zwar der Hauptlehrer, der die Kernfächer ‚Baukunde‘ und ‚Bauzeichnen‘ vertritt, aber mit Mauch für ‚Zeichnen‘, ‚Modellieren‘ und die ‚Baugeschichte‘ sowie Breymann für die ‚Baukonstruktion‘ hat sich eine fachlich gegliederte, stärker wissenschaftlich ausgerichtete Architekturlehre etabliert, die sich deutlich vom Meister-Schüler-Prinzip der Dombauhütten und Kunstakademien unterscheidet. Der hohe wissenschaft- liche Anspruch dieses Lehrkonzepts kommt nicht nur in den Publikationen von Mauch zum Ausdruck, auch Breymann ver- öffentlicht 1849 ein Buch, das sich zu einem Standardwerk der Baukonstruktionslehre im 19. Jahrhundert entwickelt. 15 1845 erfolgt eine grundlegende Reform der Polytechnischen Schule. Zum einen wird der Vorbereitungskurs aufgegeben, stattdessen werden zwei neue höhere Klassen eingerichtet. Die Schulzeit wird damit auf fünf Jahre ausgeweitet. Zum anderen wird die bisherige Praxis einer Winterschule für Bauhandwerker aufgegeben, für die eine eigene Baugewerkeschule gegründet wird. Breymann, der bislang nur als Hilfslehrer angestellt war, wird zum Professor erhoben. Mit dem dreigliedrigen Fächerkanon aus 15 Gustav Adolf Breymann: Allgemeine Bau-Constructions-Lehre. Stuttgart 1849. 181 VON DER GEWERBESCHULE ZUM POLYTECHNIKUM → INHALT Abb. 3: Christian Friedrich Leins, Portrait, um 1851. Universität Stuttgart, Universitätsarchiv 182 JAN LUBITZ Abb. 4: Joseph Egle, Polytechnische Schule, Stuttgart 1861–1864. Universität Stuttgart, Institut für Architekturgeschichte, Bildarchiv ‚Baukunde‘, ‚Baukonstruktionen‘ und ‚Bauformenlehre‘ hat die Architekturabteilung eine klare Struktur erreicht, in der die ein- zelnen Fachgebiete durch unterschiedliche Lehrpersönlichkeiten vertreten werden. Dieses ab 1840 mit Bildung der Polytechnischen Schule entwi- ckelte System hat lange Bestand. Es überdauert auch die per- sonellen Umbrüche, die sich in den 1850er Jahren durch das Ausscheiden bzw. den Tod der drei Lehrkräfte Fischer, Mauch und Breymann ergeben. 16 Der bereits etablierte Fächerkanon hat sich bewährt und wird mit drei fast zeitgleichen Neubesetzungen nahtlos fortgeführt. 1858 übernimmt Christian Friedrich Leins (1814–1892) die Professur von Fischer, die von ihm unter dem vereinfachten Titel ‚Bauentwürfe‘ weitergeführt wird. Im glei- chen Jahr folgt Wilhelm Bäumer (1829–1895) dem 1856 verstor- benen Mauch nach, das zuvor noch weit gefasste Lehrgebiet für ‚Zeichnen, Modellieren und Monumentale Baukunst‘ wird in ‚Bauformenlehre und Baugeschichte‘ umbenannt. Schließlich 16 Ferdinand Fischer zieht sich ab Ende der besetzt, der aber 1857 nach der Berufung zum 1840er Jahre sukzessive aus der Lehrtätigkeit Württembergischen Hofbaumeister ebenfalls zurück und scheidet 1852 ganz aus. Seine wieder ausscheidet. Johann Matthäus Mauch Position wird kurzzeitig durch Joseph Egle verstirbt 1856, Gustav Adolf Breymann 1859. 183 VON DER GEWERBESCHULE ZUM POLYTECHNIKUM → INHALT wird 1860 Alexander Tritschler (1828–1907) als Nachfolger für den Baukonstruktions-Lehrstuhl von Breymann berufen. Unterstützt werden sie durch den Hilfslehrer Carl Kurtz (1817– 1887), der schon seit 1849 als Nachfolger von Friedrich Seubert das Figurenzeichnen lehrt. Durch diesen Generationenwechsel kommt es um 1860 zwar zu inhaltlichen Verschiebungen, aber unter Beibehaltung der schon 1840 gefundenen Struktur. Leins, Tritschler und Bäumer bilden ab 1860 ein Triumvirat, mit dem der Historismus Einzug an die Stuttgarter Architekturschule hält. Mit Leins, selber 1832 Absolvent der Gewerbeschule 17, tritt ein Architekt in die Lehre ein, der zeitgleich mit dem 1859 eröffneten Königsbau in Stuttgart einen innerstädtischen Geschäftshauskomplex realisiert, der typologisch und stilistisch wegweisend ist. Auch durch seine Tätigkeit als freier Architekt, der seine beruflichen Erfolge durch Aufträge aus dem Bürgertum erzielt, und nicht mehr durch eine öffentliche Dienststelle, steht Leins prototy- pisch für den Wandel, den die Architektur und das Berufsbild des Architekten gegen Mitte des 19. Jahrhunderts durchlaufen. (Abb. 3) Mit einer weiteren Strukturreform 1862 werden die oberen Klassen neu gegliedert. In der Architekturlehre tritt Karl Kopp (1825–1897) als Hilfslehrer für ‚Ornamentenzeichnen‘ und ‚Modellieren‘ hinzu. Es werden die Abteilungen ‚Architektur‘, ‚Ingenieurswesen‘, ‚Maschinenbau‘ und ‚Chemische Technik‘ gebildet, als Vorläufer der späteren Fakultäten. Außerdem wird nun eine Aufnahmeprüfung eingeführt, die einen Realschulabschluss zur Voraussetzung hat. Sukzessive erfolgt eine Aufwertung der Polytechnischen Schule zu einer Hochschule, auch wenn das in der Namensgebung noch nicht vollzogen wird – da über- nimmt Karlsruhe 1865 mit der Umbenennung als ‚Polytechnische 17 In einem Zeugnis von Ludwig Mäntler vom hat, um daran eine zweijährige Zimmermanns- 25. September 1833 wird Ostern 1833 als Zeit- lehre anzuschließen. Angaben nach: Eva-Ma- punkt des Abschlusses angegeben; Eva-Maria ria Seng: Der evangelische Kirchenbau im Seng vermutet, dass es sich dabei um einen 19. Jahrhundert. Die Eisenacher Bewegung und Irrtum handeln muss und Leins bereits 1832 die der Architekt Christian Friedrich von Leins. Tü- damalige Real- und Gewerbeschule verlassen bingen 1995, S. 3f. 184 JAN LUBITZ Abb. 5: Die Lehrer und Schüler der Stuttgarter Architekturabteilung, 1873. Universität Stuttgart, Universitätsarchiv Hochschule‘ die Vorreiterrolle. Der 1864 bezogene Neubau am Stadtgarten 18 verleiht der Aufwertung der Schule aber bereits weithin sichtbaren Ausdruck. (Abb. 4) Das Polytechnikum ab 1876 Infolge der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 kommt es zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Lehrstrukturen. Innerhalb der weiterhin fünfjährigen Schulzeit wird eine Zwischenprüfung eingeführt, die eine Vorstufe zum späteren Vordiplom darstellt. Reichsweite Schulreformen bieten zudem die Voraussetzung, die mathematischen Vorklassen entfallen zu las- sen. Dieser Schritt erfolgt 1876, als das Gymnasialabitur als neue 18 Der Entwurf für den Neubau stammt von seiner Berufung zum Hofbaumeister wieder aus Joseph Egle, der ab 1853 selber eine Zeit lang der Lehre ausgeschieden war. Vgl.: Hofbaudi- als Nachfolger von Fischer an der Polytechni- rector a. D. Josef v. Egle †. In: Centralblatt der schen Schule tätig war, der aber 1857 nach Bauverwaltung 21 (1899), S. 121. 185 VON DER GEWERBESCHULE ZUM POLYTECHNIKUM → INHALT Zugangsvoraussetzung festgelegt wird. Darüber hinaus führte man – zunächst für Chemiker und Maschinenbauer – das Diplom als neuen Abschluss ein. Die Schule erhält den neuen Namen „Polytechnikum“, um dem gewachsenen Bildungsanspruch zu entsprechen. Als Gründungsrektor fungiert Christian Friedrich Leins, der zuvor die Leitung der Architekturabteilung innehatte. Auch in diesem neuen Umfeld bleibt die bisherige fachliche Gliederung der Architekturlehre bestehen und wird weiter aus- gebaut. Nach Ausscheiden von Bäumer aus der Lehrtätigkeit 1870 und einer kurzzeitigen Besetzung seiner Stelle mit Adolph Gnauth (1840–1884) tritt 1872 der Stuttgarter Architekt Robert Reinhardt (1843–1914) in das Kollegium ein und übernimmt die Fachgebiete ‚Bauformenlehre‘ und ‚Baugeschichte‘. Darüber hinaus wird Tritschler ab 1871 durch Conrad Dollinger (1840– 1925) in der Lehre entlastet. Während sich fortan Dollinger dem Fach ‚Baukonstruktion‘ widmet, konzentriert sich Tritschler auf die ‚Baukunde‘. Bei der Umbenennung der Schule in ‚Polytechnikum‘ 1876 umfasst die Architekturabteilung die sechs Lehrstühle ‚Bauentwürfe‘ von Leins, ‚Baukunde‘ von Tritschler, ‚Baukonstruktion‘ von Dollinger, ‚Bauformenlehre und Baugeschichte‘ von Reinhardt, ‚Figuren- und Freihandzeichnen‘ von Kurtz sowie ‚Ornamentenzeichnen und Modellieren‘ von Kopp. Das Curriculum gewährleistet eine fachlich breit aufgestellte Ausbildung, für deren Qualität renommierte Architekten, allen voran Christian Friedrich Leins, stehen. Die Stuttgarter Architekturlehre zeichnet sich, in der Hochphase des Historismus, vor allem dadurch aus, dass Leins allgemein das Fachgebiet ‚Bauentwürfe‘ vertritt, in Stuttgart aber keine spezifische Stillehre betrieben wird. Im Gegensatz dazu gibt es an anderen deutschen Hochschulen Lehrstühle, die sich ganz explizit auf eine Vermittlung der Formensprache der Gotik oder der Renaissance konzentrieren. 19 Nicht zuletzt 19 Vgl. u. a. die TH Braunschweig, wo Baukunst‘. An der TH Hannover prägt Conrad Constantin Uhde ab 1871 ‚Antike Baukunst und Wilhelm Hase schon seit 1849 mit dem Fach Renaissance‘ lehrt, während August Rincklake ‚Mittelalterliche Baukunst‘ die Gotikrezeption ab 1876 ‚Mittelalterliche Baukunst‘ vermittelt. der ‚Hannover’schen Schule‘, während ihm ab An der TH München lehrt August Thiersch 1863 Heinrich Köhler mit dem Fach ‚Antike Bau- ab 1875 ‚Antike Baukunst‘, parallel dazu lehrt kunst und Renaissance‘ zur Seite gestellt wird. Heinrich von Schmidt ab 1883 ‚Mittelalterliche 186 JAN LUBITZ durch dieses breiter gefasste, mehr thematisch und weniger sti- listisch geprägte Lehrkonzept erwirbt sich die Stuttgarter Schule bereits in der Kaiserzeit einen guten Ruf – Jahrzehnte, bevor der Begriff ‚Stuttgarter Schule‘ entsteht. Aus ganz Deutschland kom- men angehende Architekten nach Stuttgart, darunter Friedrich Thiersch aus München, Cornelius Gurlitt, Bernhard Hanssen und Alfred Löwengard aus Hamburg, und etliche mehr. 20 Die Architekturlehre am Stuttgarter Polytechnikum zeichnet sich also gleichermaßen durch ihre thematische Gliederung wie durch die personelle Strahlkraft ihrer Lehrer aus 21. (Abb. 5) Die Technische Hochschule ab 1890 Ab den 1870er Jahren vollziehen die acht deutschen Architekturschulen Berlin, Braunschweig, Darmstadt, Dresden, Hannover, Karlsruhe, München und Stuttgart den Schritt, die Umgestaltung ihrer Lehreinrichtungen in Hochschulen auch namentlich umzusetzen. Den Anfang machen 1877 München und Darmstadt mit der Umbenennung in ‚Technische Hochschule‘, nur ein Jahr, nachdem Stuttgart zum ‚Polytechnikum‘ aufgewer- tet worden war. Es folgen 1878 Braunschweig, 1879 Berlin und Hannover sowie 1885 Karlsruhe. Schließlich erhalten 1890 auch Stuttgart und Dresden diesen Titel. Als letzter Schritt in der Entwicklungskette von einer erweiter- ten Realschule zu einer universitären Einrichtung erhält die Technische Hochschule in Stuttgart 1900 das Promotionsrecht. 22 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Architekturlehre bereits 20 Als Friedrich Thiersch sich Anfang der 21 Winfried Nerdinger nennt für die 1860er und 1870er Jahre dazu entscheidet, Architektur zu 1870er Jahre als führende Architekturschulen studieren, wird ihm von seinem Vater Stuttgart im deutschsprachigen Raum die Schulen in als Studienort empfohlen, da ihm die Münche- Stuttgart, Karlsruhe und Zürich, was haupt- ner Polytechniker „vergleichsweise unwissend“ sächlich auf die dort tätigen Lehrer Leins, Durm erschienen. Vgl.: Hermann Thiersch: Friedrich und Semper zurückzuführen sei. Vgl.: Blohm, von Thiersch, der Architekt 1852–1921. Mün- Nerdinger 1993 (Anm. 9), S. 12f. chen 1925, S. 23. 22 Das Promotionsrecht für Technische Hochschulen geht auf die TH Berlin-Charlot- tenburg zurück, die 1899 von Kaiser Wilhelm II. damit rechtlich den Universitäten gleichgestellt wurde. Vgl.: Becker 1949 (Anm. 10). 187 VON DER GEWERBESCHULE ZUM POLYTECHNIKUM → INHALT erneut aufgrund personeller Wechsel gewandelt. Von den Lehrern der historistischen Stuttgarter Schule unter Führung von Leins waren nur noch Dollinger und Reinhardt verblieben. Der zentrale Lehrstuhl für ‚Bauentwürfe‘ war seit 1892 mit Skjøld Neckelmann (1854–1903) besetzt, der 1896 das Stuttgarter Landesgewerbemuseum als prunkvollen Monumentalbau rea- lisiert. In der ‚Baukunde‘ wurde Tritschler 1899 durch Heinrich Jassoy (1863–1939) ersetzt, der bis 1905 auch für den Neubau des Stuttgarter Rathauses verantwortlich zeichnet. Als Nachfolger von Carl Kurtz ist Adolph Treidler (1846–1905) schon seit 1888 Professor für ‚Freihandzeichnen und Aquarellieren‘. 1897 wird das Fachgebiet ‚Ornamentenzeichnen und Modellieren‘ zur ordentlichen Professur umgewidmet und mit Gustav Halmhuber (1862–1936) besetzt, der sich zuvor mit der Ausgestaltung der Berliner Siegesallee einen Namen gemacht hatte. Schließlich wird 1906 auch Dollingers Lehrstuhl für ‚Baukonstruktion‘ mit Friedrich Gebhardt (1852–1918) neu besetzt. Die Technische Hochschule Stuttgart präsentiert sich somit zur  Jahrhundertwende in der Architekturlehre als eine Schule, die von den damals durchaus renommierten Architekten und Künstlern Neckelmann, Dollinger, Jassoy, Reinhardt, Halmhuber und Treidler geprägt wird. Sie vertreten einen für die Zeit der Jahrhundertwende typischen Eklektizismus mit üppig ausge- schmückten Fassaden. Die in der Gründerzeit unter Leins und Tritschler bestehende hohe Anziehungskraft ist jedoch gewichen, andere Hochschulen mit charismatischeren Lehrern, etwa die TH Karlsruhe mit Carl Schäfer oder die TH Berlin-Charlottenburg mit Julius Raschdorff, erfreuen sich größerer Attraktivität. Es feh- len in Stuttgart innovative Ideen und Konzepte, den gegen Ende des 19.  Jahrhunderts immer erstarrter und formalistischer wir- kenden Historismus zu überwinden. Selbst der Jugendstil, als Übergangsphänomen eines neu aufkeimenden Aufbruchsgeistes, findet in Stuttgart keinen Anklang. Die TH Stuttgart kann jedoch auf eine über Jahrzehnte gewach- sene Lehrstruktur bauen, die angehenden Architekten ein brei- tes Themenspektrum sowie eine nicht per se stilgebundene Entwurfslehre bietet. So bleibt der kaiserzeitliche Eklektizismus 188 JAN LUBITZ Abb. 6: Schaubild zur Entwicklung der Stuttgarter Architekturlehre im 19. Jahrhundert. Grafik: Jan Lubitz 189 VON DER GEWERBESCHULE ZUM POLYTECHNIKUM → INHALT der Jahrhundertwende eine Episode. 1901 kommt mit Theodor Fischer (1862–1938) dann ein Architekt an die TH Stuttgart, der frischen Wind in die Lehre bringt. Er übernimmt Neckelmanns Lehrstuhl, der in ‚Bauentwurf und Städteanlage‘ umbenannt wird. Fischer fügt sich in die bestehende, über Jahrzehnte hinweg ent- wickelte Struktur ein, der er nun aber mit seinen thematischen Schwerpunkten neue Impulse verleiht. Dazu gehören vor allem die Rückbesinnung auf regionale Bautraditionen, die Qualitäten handwerklicher Arbeiten sowie die Beachtung stadträumlicher Zusammenhänge und städtebaulicher Gesetzmäßigkeiten, die er von Camillo Sitte und seinem 1889 erschienenen Buch Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen übernimmt. Von der Schule des Historismus zur ‚Stuttgarter Schule‘ Zwar verlässt Fischer die TH Stuttgart 1908 schon wieder, seine architektonischen Positionen werden aber von Paul Bonatz (1877–1956) weitergetragen, einem früheren Mitarbeiter und Assistenten Fischers. Bereits ein Jahr zuvor war Karl Schmoll von Eisenwerth (1879–1948) als Professor für ‚Zeichnen und dekora- tives Entwerfen‘ an die Hochschule gekommen. 1911 folgen mit Ernst Fiechter (1875–1948) als Professor für ‚Baugeschichte und Bauformenlehre‘ sowie Ulfert Janssen (1878–1956) als Professor für ‚Modellieren‘ zwei weitere neue Lehrkräfte. Von 1907 bis 1911 werden somit vier von sechs Lehrstühlen mit jungen Lehrkräften neu besetzt, die allesamt zwischen 1875 und 1879 geboren sind, also um 1910 gerade einmal etwas über 30 Jahre alt sind. Sie verkörpern den Willen zum Bruch mit den Dogmen des 19.  Jahrhunderts, der im Umfeld der Werkbundgründung 1907 enormen Aufwind bekommt. Nur Gebhardt und Jassoy sind zu diesem Zeitpunkt noch „von der alten Schule“. Die Ideale, die Theodor Fischer ab 1901 in der Architekturlehre an der TH Stuttgart vermittelt, sind dieselben, die er 1907 in die Gründung des Deutschen Werkbunds einbringt. Darum ist es kein Zufall, dass die weitere Entwicklung der ‚Stuttgarter Schule‘ eng mit der Werkbund-Bewegung verknüpft ist. Die fast zeitgleiche 190 JAN LUBITZ Neubesetzung von vier der sechs Architekturlehrstühle zwischen 1907 und 1911 fällt in genau jenen historischen Moment, als sich mit der Werkbund-Gründung eine Moderne zu artikulieren beginnt, die sich von den Dogmen des Historismus radikal frei- macht. Das zeigt sich in der thematischen Neuausrichtung der neu zu besetzenden Fachgebiete. So wird die ‚Baugeschichte‘ ab 1911 unter Ernst Fiechter in eine Fachrichtung transformiert, die nicht mehr der Bauformenlehre als Vorbildsammlung für das historistische Entwerfen dient, sondern der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Baugeschichte. 23 Auch die beiden künstlerischen Disziplinen Zeichnen und Modellieren gewin- nen im Umfeld der Werkbund-Bewegung eine vollkommen neue Bedeutung. Schmoll von Eisenwerth und Janssen vertreten nicht mehr primär das praktische Vermitteln konkreter Techniken, son- dern vielmehr ein Erproben künstlerischer Kompetenzen, das im Umfeld der Kunstgewerbereformbewegung neue Bedeutung erlangt hat. Somit setzen die vier neuen Professoren Bonatz, Schmoll von Eisenwerth, Fiechter und Janssen jene Entwicklung fort, die Fischer ab 1901 eingeleitet hatte 24. Das kann ihnen aber nur des- halb gelingen, weil sie sich in eine bereits voll entfaltete Struktur systematischer, nicht stilgebundener Architekturlehre einfügen können, die in Stuttgart schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ausdifferenziert wurde. Die ‚Stuttgarter Schule‘ des frühen 20. Jahrhunderts basiert somit auf Entwicklungen und Strukturen des 19. Jahrhunderts. 25 (Abb. 6) 23 Vgl.: Geschichte des Instituts für Archi- 25 Im Vergleich zu den anderen Techni- tekturgeschichte der Universität Stuttgart. In: schen Hochschulen in Deutschland kommt in Philipp, Renz 2012 (Anm. 2), S. 98–101. Stuttgart besonders der Baukonstruktionslehre früh ein hoher Stellenwert zu, der sich auf der 24 Vgl.: Jürgen Joedicke: Architekturlehre in Schaffung eines eigenen Lehrstuhls schon Stuttgart. Von der Real- und Gewerbeschule 1845 begründet. Mit Breymann, Tritschler und zur Universität. Stuttgart 1994, S. 24f. Dollinger war dieser Lehrstuhl mit namhaften Architektenpersönlichkeiten besetzt, die mit diesem Lehrstuhl nicht nur eine technische Lehre, sondern eine architektonische Wertever- mittlung verbanden. 191 VON DER GEWERBESCHULE ZUM POLYTECHNIKUM → INHALT Diese Strukturen werden nach dem Ersten Weltkrieg weiterentwi- ckelt, als 1919 Adolf Muesmann (1880–1956) einen Lehrauftrag für ‚Städtebau und Siedlungswesen‘ erhält, der ab 1922 von Heinz Wetzel übernommen und 1925 in eine ordentliche Professur überführt wird. Damit wird das von Fischer 1901 neu eingebrachte Fachgebiet des Städtebaus in Stuttgart als erster deutscher Architekturschule in einem eigenständigen Lehrstuhl verstetigt. Mit dem Fachgebiet ‚Statik und Mechanik‘, das Wilhelm Stortz (1883–1944) ab 1931 lehrt, wird schließlich in den 1930er Jahren ein achter Lehrstuhl an der Fakultät verankert. Dass die Lehre von Bonatz, Schmitthenner und Wetzel auf einer Lehrstruktur aus dem 19.  Jahrhundert aufbaut, wurde von den Protagonisten der ‚Stuttgarter Schule‘ nie gewürdigt. Sie stellten ihre der Idee einer konservativen Moderne folgenden Inhalte in den Vordergrund, wodurch die diesem Lehrkonzept zugrunde- liegende Struktur keine angemessene Aufmerksamkeit finden konnte. Wahrscheinlich war es dem Stuttgarter Triumvirat auch überhaupt nicht bewusst, wie weit sie auf einer Basis aus dem 19. Jahrhundert agierten. Die Herausbildung klarer und leistungsfähiger Strukturen zur Ausbildung von Architekten sind aber keineswegs eine Erfindung der Moderne des 20. Jahrhunderts, sondern eine eigenständige Leistung des 19.  Jahrhunderts. Das umfasst sowohl die Abkehr vom alten Prinzip der Meisterschulen als auch eine gleichberech- tigte Berücksichtigung künstlerischer, technischer und wissen- schaftlicher Disziplinen. In Stuttgart war das grundsätzlich schon 1840 mit Einrichtung der Polytechnischen Schule der Fall, als Ferdinand Fischer, Johann Matthäus und Gustav Adolf Breymann drei thematisch vollkommen unterschiedliche Lehrgebiete abdeckten. Diese Struktur wurde bis zur Umgestaltung in eine Technische Hochschule 1890 beständig weiterentwickelt. Erst auf dieser Grundlage konnte sich dann im frühen 20. Jahrhundert die ‚Stuttgarter Schule‘ entfalten. 192 GÁSPÁR SALAMON GÁSPÁR SALAMON ‚Akademische‘ Vorbilder für die polytechnische Architektenausbildung an der Joseph-Technischen Hochschule Budapest in der Gründerzeit Die in der Gründerzeit erfolgte Institutionalisierung der Archi- tektenausbildung Ungarns ist untrennbar mit der Mobilität jun- ger Architekten verbunden. Denn etliche der sich seit den 1850er Jahren an den westlichen Akademien und Polytechniken wissen- schaftlich und künstlerisch qualifizierenden Studenten spielten nach ihrer Rückkehr als Professoren der Joseph-Technischen Hochschule Budapest eine führende Rolle. Dieser durch die Studentenmobilität ausgelöste Wissenstransfer lässt sich auf fast allen Ebenen der universitären Architekturlehre, einschließ- lich der Struktur, des Inhalts sowie der Methoden feststellen. Die vorliegende Studie versucht, einen kunsthistorischen Überblick über die Frühzeit der Architektenausbildung an der Joseph- Technischen Hochschule Budapest unter Berücksichtigung ihrer Berliner und Wiener Vorbildinstitutionen zu geben. Die polytechnische Reformbewegung erwies sich, wie Ulrich Pfammatter es in seiner Monographie ausführlich darge- stellt hat, institutionsgeschichtlich als eine Erfolgsgeschichte der Architektenausbildung des 19.  Jahrhunderts. 1 Das 1 Ulrich Pfammatter: Die Erfindung des mo- seiner wissenschaftlich-industriellen Ausbil- dernen Architekten. Ursprung und Entwicklung dung. Basel 1997. 193 ‚AKADEMISCHE‘ VORBILDER → INHALT FÜR DIE POLYTECHNISCHE ARCHITEKTENAUSBILDUNG französische polytechnische Modell, das sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum zügig ausbreitete und dessen Hauptaugenmerk auf dem Prinzip der Funktionalität, auf der Verflechtung mit den Ingenieurwissenschaften und auf systematisierten Unterrichtsmethoden lag, galt als starke Alternative zu den Kunstakademien. Jedoch bedeutete dies nicht zugleich das Verschwinden der Kunstakademien, mit ihrer aus der Renaissance stammenden Idee der Lehrbarkeit der Künste. 2 Denn viele Kunstakademien konnten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mittels Modernisierung der Lehrstruktur ihr tra- ditionelles Prestige als wichtige Ausbildungsstätte bewahren. Besonders galt dies für die Regionen und Städte, wo die aka- demische Architekturausbildung auf eine verwurzelte Tradition zurückblickte 3: Etwa im Habsburgerreich, wo die 1692 von Peter Strudel in Wien als „Academia von der Mallerey-, Bildhawer-, Fortification-, Prospectiv- und Architectur-Kunst“ 4 gegrün- dete Lehranstalt in den nächsten anderthalb Jahrhunderten ihre – zumindest regionale – Hegemonie in der Architekturlehre bewahren konnte. Diese österreichische Akademie der bildenden Künste war ein wichtiges Zentrum der Architektenausbildung des Reiches und daher seit den 1860er Jahren ein favorisiertes Reiseziel vieler junger ungarischer Architekten, die sich in Wien die Ergänzung ihres an dem noch unterentwickelten Joseph- Polytechnikum in Buda erworbenen Wissens erhofften. 5 Ein anderes populäres Ziel der ungarischen Architekturstudenten war die Berliner Bauakademie. Dieser durch die zwei Metropolen des Historismus und deren berühmte Lehranstalten ausgeübte Einfluss auf die Stilrichtungen Ungarns (wie die Wiener Neogotik, der Neobarock oder die Berliner Renaissance) wurde in der 2 Nikolaus Pevsner: Die Geschichte der 4 Zitiert nach Walter Wagner: Die Geschichte Kunstakademien. München 1986, pass.; der Akademie der bildenden Künste Wien. Wien Ekkehard Mai: Kunstakademien und Architek- 1967, S. 18. tenausbildung. In: Winfried Nerdinger (Hg.): Der Architekt. Geschichte und Gegenwart eines Be- 5 József Sisa: Steindl, Schulek und Schulcz. rufsstandes. Bd. 2. München 2012, S. 537–547. Drei ungarische Schüler des Wiener Dombau- meisters Friedrich von Schmidt. In: Mittei- 3 Wie z. B. in Paris, Dresden, Düsseldorf oder lungen der Gesellschaft für Vergleichende München. Vgl. Mai 2012 (Anm. 2), S. 544f. Kunstforschung in Wien 37 (1985), S. 1–8. 194 GÁSPÁR SALAMON kunsthistorischen Forschung schon eingehend diskutiert, 6 dem ‚Import‘ der Lehrstruktur, des -materials, -inhalts und der -metho- den der ausländischen Bau- und Kunstakademien wurde dabei weniger Aufmerksamkeit gewidmet. 7 Da das Attribut ‚akade- misch‘ im ungarischen fachinternen Diskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oft nicht nur auf die künstlerische Lehrweise im Allgemeinen, sondern auch direkt auf die Berliner und Wiener akademischen – ja sogar voneinander ziemlich unterschied- lichen – Bildungstraditionen Bezug nahm, wird in diesem Aufsatz über die generellen ästhetischen und künstlerischen Dimensionen der Architektur(lehre), also über den ‚Kunstcharakter‘ 8 hinaus, auf die Vorbild-Institutionen verwiesen. Studentenmobilität und Wissenstransfer Wegen der langsamen Entwicklung des Hochschulwesens in Ungarn und Siebenbürgen ersetzten jahrhundertelang die Einrichtungen des deutschsprachigen Raums die fehlen- den wissenschaftlichen Zentren der Region, auch bis zum Ende des 19.  Jahrhunderts. 9 In Ungarn war das technische Hochschulwesen äußerst unterentwickelt, was sich daran zeigt, dass das Joseph-Polytechnikum in Buda erst 1856 durch die Zusammenlegung zweier minderwertiger Institute – die Joseph- Industrieschule und das Technische Institut – etabliert wurde, mit beträchtlichem Abstand im Vergleich zu den übrigen Ländern des Habsburgerreichs – 1806 in Prag (Praha), 1814 in Graz, 1815 in Wien, 1833/34 in Krakau (Kraków), 1843 in Brünn (Brno) und 6 Dazu mit weiterführender Literatur: József nach Berliner Vorbild an der TU Budapest. In: Sisa: Neo-Gothic Architecture and Restoration Acta Historiae Artium 49 (2008), S. 417–431. of Historic Buildings in Central Europe: Fried- rich Schmidt and His School. In: Journal of the 8 Vgl. hierzu Klaus Jan Philipp: Euphorie Society of Architectural Historians 61 (2002), und Ernüchterung. Architektur und Kunst. In: S. 170–187; József Sisa: Die „Berliner Renais- Nerdinger 2012 (Anm. 2), S. 549–557. sance” in Budapest. In: Acta Historiae Artium 49 (2008), S. 448–458; József Sisa (Hg.): Mo- 9 Márta Fata, Anton Schindling: Einführung. therland and Progress. Hungarian Architecture In: Márta Fata, Gyula Kurucz, Anton Schindling and Design 1800–1900. Basel 2016, S. 445–450. (Hg.): Peregrinatio Hungariae. Studenten aus Ungarn an deutschen und österreichischen 7 Nur ein einsamer Versuch ist zu erwähnen: Hochschulen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Gábor György Papp: Architektenausbildung Stuttgart 2006, S. 3–8, hier S. 7. 195 ‚AKADEMISCHE‘ VORBILDER → INHALT FÜR DIE POLYTECHNISCHE ARCHITEKTENAUSBILDUNG 1844 in Lemberg (Lviv 10). Das sowohl hinsichtlich der Ausstattung als auch der Lehrkräfte noch in ersten Anfängen stehende Institut in Buda entbehrte bis in die 1870er Jahre eines eigen- ständigen Lehrplans für Architektur; 11 nur ein architektonischer Lehrgegenstand, die ‚Landbaukunde‘, wurde vom deutschen Architekten Johann Schnedar gelehrt. 12 Daher war das Joseph- Polytechnikum in den 1850er und 1860er Jahren nicht in der Lage, Architekten vollumfänglich auszubilden. 13 Aufgrund dieser gerin- gen Ausbildungsmöglichkeiten und der durch den Bauboom der Gründerzeit verursachten Konjunktur wurden die jungen ungari- schen Architekten in alle Winde zerstreut. Die Studentenmobilität aus Ungarn Richtung Westen war daher jahrzehntelang eine feste Tradition, wie ein unbekannter Autor 1885 in den Spalten der Zeitschrift Művészeti Ipar [Kunstgewerbe] festhielt: „Es ist eine allgemein anerkannte Gewohnheit, ein wahres Dogma: Wer Baukünstler sein will, muss mehrere Jahre hindurch eine aus- ländische Anstalt besuchen.“ 14 Etliche Eleven pilgerten zu den Kunstakademien von Paris und München sowie den Polytechnika in Wien, Zürich, Karlsruhe und Stuttgart, wobei die Akademie der Bildenden Künste in Wien und die Berliner Bauakademie die am meisten frequentierten Einrichtungen waren. 15 Im Lehrsystem der Berliner Bauakademie kam es durch die Reform von 1849 in den folgenden Jahrzehnten zu Veränderungen, die auch die ungarischen Studenten betrafen. Durch die Neuorganisation der Berliner Unterrichtsstruktur wur- den drei Lehrgänge festgelegt: Der Lehrgang für Bauführer als vorbildendes Studium bot die Grundlage für die technischen Wissenschaften sowie die Architektur, der Lehrgang für Land- und 10 Vgl. hierzu Pfammatter 1998 (Anm. 1), buchhaltung, die Lehre von den Vorausmaßen, S. 209–221. den Kostenanschlägen, und der Bauökonomie.” 11 Zoltán Szentkirályi: Adatok a magyar 13 Szentkirályi 1971 (Anm. 11), S. 442f. építészképzés történetéhez. In: Építés-Építés- zettudomány 3 (1971), S. 439–465, hier S. 442f. 14 Zitiert nach Sisa 2008 (Anm. 6), S. 449. 12 Ordnung der Vorlesungen am k. k. Jo- 15 József Sisa: Magyar építészek külföldi sephs-Polytechnikum in Ofen im Studienjahr tanulmányai a 19. század második felében. 1858/59. Buda 1858, S. 4. „Die Landbaukunde In: Művészettörténeti Értesítő 45 (1996), mit vorzüglicher Rücksicht auf Wohn-, Wirt- S. 169–186, hier S. 170–174. schafts-, und Fabriksgebäude; ferner die Bau- 196 GÁSPÁR SALAMON Schön-Baumeister beinhaltete theoretische und praktische Lehrgegenstände, bei denen auf die ästhetischen und dekorati- ven Aspekte Gewicht gelegt wurde, und der Lehrgang für Wege- und Wasserbau wurde der Ingenieurausbildung vorausgestellt. 16 Antal Szkalnitzky (1836–1878) wird gemeinhin als der erste unga- rische Architekt angesehen, der von 1857 bis 1859 an der Berliner Bauakademie studierte. 17 Szkalnitzky errichtete – wie andere an der Bauakademie ausgebildete ungarische Architekten – nach dem Auslandsstudium zahlreiche Gebäude im Neorenaissance- Stil nach Berliner Geschmack in Budapest. 18 Im Anschluss an seine Rückkehr nach Ungarn wurde Szkalnitzky 1864 wegen „seines hervorragenden Vermögens im theoretischen und prak- tischen Feld der Wissenschaft, und dessen Anerkennung im Ausland“ 19 auf die neu geschaffene Professur für Architektur und Kunstgeschichte am Joseph-Polytechnikum berufen. Als Professor spornte er seine begabtesten Schüler wie Alajos Hauszmann (1847–1926), Ödön Lechner (1845–1914) und Gyula Pártos (1845–1916) dazu an, ihr Architekturstudium ebenfalls an der Bauakademie zu vervollständigen, weshalb diese zwischen 1866 und 1868 in Berlin studierten. Diese extravaganten ungari- schen Studenten, die von ihren Mitschülern als die „drei wilden Magyaren“ bezeichnet wurden, wohnten den Kursen von Richard Lucae, Johann Heinrich Strack, Karl Bötticher und Friedrich Adler sowie gelegentlich zusätzlichen Übungen in der Aquarellmalerei und im Aktzeichnen an der Akademie der Künste bei. 20 Das heißt, die über polytechnische Vorbildung schon verfügen- den Ungarn wurden zumeist im künstlerischen Lehrgang der Bauakademie involviert. Alajos Hauszmann, der neben seinem Studium ab 1867 im Atelier von August Orth tätig war, 21 wurde im 16 Hans Joachim Wefeld: Preußens erste Bau- 19 Universitätsarchiv der Technischen schule. In: 1799–1999. Von der Bauakademie und Wirtschaftlichen Universität Budapest zur Technischen Universität Berlin. Geschichte [UaTWUB], 2/a/1. Protokoll der Professo- und Zukunft. Berlin 2000, S. 64–74, hier S. 70f. ren-Konferenz des Joseph-Polytechnikums (1850–1867), Protokoll der am 28. Juli 1864 17 Sisa 2008 (Anm. 6), S. 449. gehaltenen Ratssitzung. 18 Ebd. 20 Sisa 2008 (Anm. 6), S. 450. 21 Ebd. 197 ‚AKADEMISCHE‘ VORBILDER → INHALT FÜR DIE POLYTECHNISCHE ARCHITEKTENAUSBILDUNG Juni 1868 persönlich per Brief von József Stoczek, dem Direktor des Joseph-Polytechnikums, auf eine neu ausgeschriebene Assistentenstelle aufmerksam gemacht. 22 Dies deutetet darauf hin, dass von der Institutionsleitung vor allem an ausländischen Einrichtungen herangebildete Lehrkräfte gesucht wurden. Dieser Tendenz folgte die Berufung anderer Professoren wie Ferenc Schulcz (1838–1870) und Imre Steindl (1939–1902) um 1870, die wiederum an der Akademie der Bildenden Künste Wien ausgebil- det worden waren. Eine intensive Mobilität der ungarischen Studenten in Richtung der Akademie der Bildenden Künste in Wien brach mit den drei Eleven Imre Steindl, Ferenc Schulcz und Frigyes Schulek (1841–1919) an, die um 1860 zunächst bei den Architekten der Wiener Hofoper, Eduard Van der Nüll und August Siccard von Siccardsburg, und danach in der Meisterschule von Friedrich von Schmidt studierten. 23 Schmidt, der 1859 zur Professur an der Akademie berufen und später mit der Restaurierung des Wiener Stephansdoms sowie mit großen Bauprojekten an der Ringstraße, vor allem mit dem Bau des Wiener Rathauses, beauftragt wurde, 24 führte eine neue, einzigartige Lehrmethode ein, welcher die Idee des Kölner Bauhüttensystems zugrunde lag. 25 Seine praxisorien- tierte Lehre konzentrierte sich nicht auf die herkömmliche akade- mische Nachahmung gemäß Vorlageblättern und Gipsabgüssen, sondern vor allem auf ein durch Studienreisen ermöglichtes „Studium der Baudenkmale selbst” und das „Bekanntwerden mit der lebendigen Materie“, 26 und damit die Aneignung der 22 UaTWUB, 2/b/19/627. Verwaltungsakten 26 [Art.]: Schmidt, Friedrich. In: Biographi- der Direktion des Joseph-Polytechnikums und sches Lexikon des Kaiserthums Österreich. der Joseph-Technischen Hochschule. Hg. v. Constant von Wurzbach. Wien 1856–91. Bd. 30. Wien 1875, S. 244–249, hier S. 245. Vgl. 23 Sisa 1985 (Anm. 6). hierzu Ulrike Seeger: Zwischen Anspruch und Realisierung. Friedrich von Schmidt als Denk- 24 Peter Haiko, Renata Kassal-Mikula: Fried- malpfleger, Bauforscher und Lehrer im Spiegel rich von Schmidt (1825–1891). Ein gotischer der Planzeichnungen zur Klosterneuburger Rationalist. Wien 1991. Stiftskirche. In: Wiener Jahrbuch für Kunstge- schichte 50 (1997), S. 298–316, hier S. 313–316; 25 Vgl. Wagner 1967 (Anm. 4), S. 207. Haiko, Kassal-Mikula 1991 (Anm. 24), S. 80f. 198 GÁSPÁR SALAMON Architekturvokabeln wie der „Fundamentalgesetze“ 27 der mit- telalterlichen Baukunst im Rahmen einer individualisierten Atelierlehre. 28 Die ungarischen Schmidt-Schüler, die sich in den Fußstapfen des Meisters als Spezialisten der mittelalterlichen Baukunst betätigten, kehrten nach jahrelanger Praxis bei Schmidt nach Ungarn zurück, wo sie bedeutende Positionen der Archi- tektenszene besetzten, unter anderem Lehrstühle des Joseph- Polytechnikums. Die Professorenstellen wurden Schulcz, der beträchtliche wissenschaftliche Arbeit geleistet hatte, und Steindl wegen ihrer ausländischen Erfahrungen primo loco zuerkannt. 29 Die Lehr- und Arbeitsmethode von Schmidt, die sich am Anfang in der für die Erforschung der mittelalterlichen Denkmäler eta- blierten Studentenvereinigung Wiener Bauhütte artikulierte, wurde 1868 mithilfe der Reform der Architekturschule an der Wiener Akademie der Bildenden Künste zementiert: Zwei sepa- rate Meisterschulen wurden für die mittelalterliche Baukunst sowie für die antike Baukunst und ihre Weiterentwicklung bis zur Renaissance errichtet, wobei die Lehre von keinerlei Studienordnung geregelt wurde, sondern es auf die individuellen Initiativen der Meisterschulleiter ankam; 30 dies rief eine eigenar- tige Version des Meisterschulprinzips ins Leben. 31 Als Meisterschulleiter für Antike und Renaissance wurde 1868 nach Schmidts Empfehlung Theophil Hansen, der dänische Architekt des Wiener Reichsratsgebäudes angestellt, 32 der 27 Carl von Vicenti: Wiener Kunst-Renaissan- 30 Wagner 1967 (Anm. 4), S. 206–214. ce. Studien und Charakteristiken. Wien 1867, S. 73. 31 Ebd., S. 207. Vgl. hierzu Gustav Peichl: Architectural Education and the Principle of 28 Max Fleischer: Friedrich Freiherr von the ’Masterschool’. In: Journal of Architectural Schmidt als Lehrer, Mensch und Chef. Eine Education 40 (1987), H. 2, S. 55f. kurze biografische Skizze aus Dankbarkeit und Liebe für den unvergeßlichen Meister, Wien 32 Andreas Zeese: Theophil Hansen als 1891, S. 5f. Vgl. hierzu Sisa 2002 (Anm. 6), Lehrer an der Wiener Akademie der bildenden S. 174. Künste 1868–1884. In: Cornelia Reiter, Robert Stalla (Hg.): Theophil Hansen. Architekt und 29 UaTWUB, 2/b/21. Verwaltungsakten der Designer. Weitra 2013, S. 85–93, hier S. 86. Direktion des Joseph-Polytechnikums und der Joseph-Technischen Hochschule. 199 ‚AKADEMISCHE‘ VORBILDER → INHALT FÜR DIE POLYTECHNISCHE ARCHITEKTENAUSBILDUNG während seiner Lehrtätigkeit bis 1883 mehr als 60 ungarische Studenten unterrichtete. 33 Die ungarischen Hansen-Schüler wie Győző Czigler, Sándor Fellner, Kálmán Gester oder Lajos Pákei entwarfen nach ihrer Rückkehr vorwiegend in der hellenischen Neorenaissance ihres Meisters, dann ab den 1880er Jahren, der Geschmackswandlung entsprechend, 34 im Neobarock, der jedoch grundsätzlich aus dem Formenrepertoire der Renaissance transformiert wurde. 35 Die 1887 nach der Expansion der Joseph- Technischen Hochschule errichteten zwei Lehrstühle für Antike Baukunst und Baukonstruktion wurden von den Hansen-Schülern Győző Czigler (1850–1905) und Samu Pecz (1854–1922) besetzt. Die akademischen Berliner und Wiener Bildungstraditionen wur- den in die ungarische Architektenausbildung der Gründerzeit durch die in den 1850er bis den 1870er Jahren im Ausland ausgebildeten Professoren importiert. Der Wissenstransfer 36 durch die Professoren erstreckte sich auf die Lehrstruktur, den -inhalt sowie die -methoden. Die Professorenpersönlichkeiten mit ausländischen Erfahrungen gestalteten als ‚Importeure’ 33 Gábor György Papp: Gerster Kálmán die Gegenstände und die Erkenntnisinteressen (1850–1927) munkássága. (Dissertationsschrift) der Kultur- und Wissenstransferforschung kaum Budapest 2007, S. 125–129. abgrenzbar; siehe u. a. Veronika Lipphardt, Da- vid Ludwig: Wissens- und Wissenschaftstrans- 34 Sisa 2016 (Anm. 6), S. 439. fer, Europäische Geschichte Online 2011. URL: http://ieg-ego.eu/de/threads/theorien-und-me- 35 Über diesen Prozess in Österreich und in thoden/wissens-und-wissenschaftstransfer, Ungarn: Peter Haiko: Semper und Hasenauer. 4. Oktober 2017.) Über die Wissenschaftsbe- Kosmopolitische Neorenaissance versus ös- ziehungen, jedoch ohne Rücksicht auf das hier terreichischer Neobarock. In: Heidrun Laudel, erörterte Thema, im Allgemeinen mit weiterfüh- Cornelia Wenzel (Hg.): Stilstreit und Einheits- render Literatur: Péter Hanák: Wandlungen der kunstwerk. Internationales Historismus-Sym- österreichisch-ungarischen wissenschaftlichen posium Bad Muskau. Dresden 1998, S. 199–212; Beziehungen im Laufe des 19. Jahrhunderts. In: Sisa 2016 (Anm. 6), S. 439. Richard Georg Plaschka, Karlheinz Mack (Hg.): Wegenetz europäischen Geistes. Wis- 36 Bei der Architektenausbildung, welche im senschaftszentren und geistige Wechselbe- Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft ziehungen zwischen Mittel- und Südosteuropa liegt, sind sowohl die Mobilität kultureller vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Erscheinungen (in diesem Fall: ästhetische Ersten Weltkrieg. Wien 1983, S. 341–355; Konzeptionen und Stilrichtungen) als auch Victor Karady: Student Mobility and Western der Import wissenschaftlicher Güter (hier: Universities. Pattern of Unequal Exchange in didaktische Methoden, intellektuelle Produkte the European Academic Market, 1880–1939. der Kunstgeschichtsschreibung) zu berücksich- In: Christophe Charle, Jürgen Schriewer, Peter tigen. Angesichts des vorliegenden Beitrags Wagner (Hg.): Transnational Intellectual Net- lässt sich das Letztere als relevanteres Problem works. Forms of Academic Knowledge and the betrachten. (In manchen Fällen sind allerdings Search for Cultural Identities. Frankfurt a. M., New York 2004, S. 361–400. 200 GÁSPÁR SALAMON der akademischen Lehrweisen und als beteiligte Akteure der Wandlungsprozesse den Lehrcharakter mittels ihrer Tätigkeit in der institutionellen Politik, durch die Aus- und Umarbeitungen des Lehrplans und die Kompilation des Lehrstoffes. Wandlungen des Lehrcharakters: Struktur – Inhalt – Methoden Organisation und Struktur des Polytechnikums in Buda folg- ten erst nach den Reformen in den späten 1860er Jahren dem Schema, nach dem die anderen europäischen Polytechnika neu organisiert worden waren. Als direkte Vorbilder galten die in der Mitte und am Ende der 1860er Jahren reformierten polytechnischen Lehranstalten des Habsburgerreichs in Wien, Graz, Prag (Praha), Brünn (Brno), Lemberg (Lviv) und Krakau (Kraków), wogegen das Polytechnikum in Buda damals noch, wie sein Direktor József Stoczek klagte, in einer „beängstigenden Lage” gewesen sei. 37 Wie in den nach Züricher und Karlsruher Vorbildern neuor- ganisierten Polytechnika des Reichs 38 wurden in Buda die Staatsprüfungen und ein Fachabteilungssystem eingeführt, womit das Polytechnikum als Ungarische Königliche Joseph- Technische Hochschule 39 im Jahr 1871 neuorganisiert wurde. Obwohl gemäß des neuen Organisationsstatuts 1871 neben den Abteilungen für Maschinenbau, Ingenieurwissenschaft (quasi Land- und Wasserbau) und Chemie eine Abteilung für Architektur etabliert wurde, 40 entstand erst 1873 ein eigenständiger Lehrgang 37 UaTWUB, 2/a/1. Protokolle der Professo- Műegyetem) nach dem Hochschulstatut von ren-Konferenz des Joseph-Polytechnikums 1871 unter anderem sowohl als ‚Joseph-Poly- (1851–1867), Protokoll der am 12. April 1867 technikum’, als auch als ‚Königliche Jo- stattgefundenen Ratssitzung. seph-Technische Hochschule’ eingedeutscht. In diesem Beitrag wird die Kurzform der 38 Rudolf Wurzer: Die Stellung der Techni- letzteren Variante verwendet, welche auf die schen Hochschule Wien im Ablauf ihrer Ge- Gleichstellung der Institution mit den anderen schichte. In: Heinrich Sequenz (Hg.): 150 Jahre technischen Hochschulen Österreich-Ungarns Technische Hochschule Wien 1815–1965, Bd. verweist. 1–2. Wien 1965, Bd. 1, S. 11–157, hier S. 28–38. 40 A Magyar Királyi József-Műegyetem 39 In den Quellen wurde der ungarische programmja az 1871–72. tanévben. Buda 1872, Name der Einrichtung (Magyar Királyi József S. 5. 201 ‚AKADEMISCHE‘ VORBILDER → INHALT FÜR DIE POLYTECHNISCHE ARCHITEKTENAUSBILDUNG für Architektur mit einem einjährigen Vorbereitungskurs und einem dreijährigen spezialisierten Studiengang. 41 Die Einrichtung von neuen Lehrgegenständen ab den 1860er Jahren ist im Zusammenhang mit den erst kurz zuvor besetzten Professuren und dem Einfluss der an westlichen Einrichtungen herangebilde- ten Fachkräfte zu sehen. 1864 wurden die von János Schnedár gehaltenen Landbaukunde-Vorlesungen und -Übungen 42 durch Szkalnitzkys neue Lehrfächer Kunstgeschichte und architek- tonische Details und Baukünstlerisches Entwerfen ergänzt. 43 Dank der Berufung Hauszmanns und Steindls vermehrten sich die baukünstlerischen Lehrfächer in den frühen 1870er Jahren: Ersterer lehrte die Architektonische Formenlehre I. 44 und die Kunstgeschichte der Architektur I., 45 während Letzterer für die Architektonische Formenlehre II 46 und die Kunstgeschichte der Architektur II zuständig war. 47 Daneben waren die Übungen im Entwerfen (ab 1882 Entwerfen von öffentlichen Gebäuden und Privathäusern), nach Wahl der Studenten, entweder bei Hauszmann oder bei Steindl zu absolvieren. Bis zu den 1880er Jahren erhöhte sich der Anteil der baukünstlerischen Lehrfächer (wie Stilkunde, Formenlehre, Kunstgeschichte) auf nahezu 50  % der Gesamtstundenzahl neben den technisch-wissen- schaftlichen Lehrfächern (wie etwa Technische Physik, Chemie, Mechanik, Analysis), wodurch sich das künstlerische Gepräge der Architekturlehre dermaßen verstärkte, dass von den Professoren der Natur- und Ingenieurwissenschaften sogar die Daseinsberechtigung der Abteilung für Architektur in der tech- nischen Lehranstalt angezweifelt wurde. Dazu sagte János 41 A Magyar Királyi József-Műegyetem und gründliche Erörterung der dorischen, programmja az 1873–74. tanévben. Buda 1873, ionischen und korinthischen Modi.” S. 5f. 42. Siehe Anm. 12. 45 Ebd. „Die Geschichte der Entwicklung der 43 A kir. József-műegyetemen Budán az Baukunst von den ältesten Zeiten bis heute.” 1864/65. tanévben tartandó előadások rendje. Buda 1864, S. 10f. Vgl. hierzu Papp 2008 46 Ebd., S. 19. „Mittelalterliche Formenlehre (Anm. 7), S. 420–423. (romanischer und gotischer Styl).” 44 A Királyi József-Műegyetem programmja az 47 Ebd. „Die Kunstgeschichte der mittelalter- 1874/5. tanévre. Buda 1874, S. 18. Gemäß der lichen Baukunst (romanischer und gotischer Beschreibung des Kurses: „[...] Eine detaillierte Styl).” 202 GÁSPÁR SALAMON Kriesch, Rektor der Technischen Hochschule im Jahr 1885: „[...] ich bin der Meinung, dass die Abteilung für Architektur sich innerhalb kurzer Zeit von der Hochschule trennen und als eigen- ständige höhere Architekturschule oder Akademie ihren gedeih- lichen Dienst fortfahren wird. [...] Die Architektur als Kunst passt sowieso nicht in den Rahmen einer Hochschule für technische Wissenschaften [...].” 48 Das exponentielle Wachstum der künst- lerischen Lehrfächer in den ersten anderthalb Jahrzehnten mag auf das Verfolgen des Berliner akademischen Studienaufbaus verweisen, 49 obgleich gemäß der 1882 erschienenen kompa- rativen Studie von Johann Georg Schoen die anderen poly- technischen Lehranstalten Österreich-Ungarns angesichts des Anteils der kunstbezüglichen Lehrmodule nicht entscheidend von der Joseph-Technischen Hochschule abwichen. 50 Den Vorbehalt des Rektors ignorierend richtete man 1887 zwei neue Lehrstühle für ‚Antike Baukunst‘ und ‚Baukonstruktion‘ ein, wei- terhin ging die Reorganisation des Lehrsystems der Abteilung für Architektur vonstatten. Demzufolge wurde die Stundenzahl der „Kunstgeschichte der Architektur”, laut Professorenkollegium, „entsprechend der Wichtigkeit des Lehrfaches” vermehrt und „die Entwerfenübungen, die im Mittelpunkt der Architekturlehre stehen, sollten mehr als bisher an Boden gewinnen”. 51 (Tabelle 1) Der Lehrgang veränderte sich nicht wesentlich nach der Reform im Jahre 1887, obwohl die Professoren mehrere erfolgslose Versuche unternahmen, durch die Verlängerung der vierjähri- gen Studienzeit auf fünf Jahre die Anzahl der baukünstlerischen Lehrfächer, vor allem der Entwurf-Übungen, zu erweitern. Dies wird etwa in ihrer Stellungnahme aus dem Jahr 1904 deutlich, welche sich für die Verlängerung der Studiendauer aussprach, 48 Zitiert nach Szentkirályi 1971 (Anm. 11), 50 Johann Georg Schoen: Die technischen S. 449f. Hochschulen und deren Organisation in Oesterreich. Leipzig 1882, hier Anhang I. Vgl. 49 Papp 2008 (Anm. 7). Das Wiener Vorbild in A Királyi József-Műegyetem programmja az diesem Zusammenhang kommt nicht in Frage, 1880/81. tanévre. Buda 1880, S. 56–58. da es an der Akademie der bildenden Künste kein festes Lehrprogramm gab. 51 UaTWUB, 9/b/1. Gemeinsame Sitzungspro- tokolle der Fakultät für Technik und der Fakultät für Architektur, Protokoll der am 12. März 1887 stattgefundenen Ratssitzung. 203 ‚AKADEMISCHE‘ VORBILDER → INHALT FÜR DIE POLYTECHNISCHE ARCHITEKTENAUSBILDUNG Tab. 1: Lehrfächer des Lehrgangs für Architektur im Studienjahr 1887/88. Kir. József-Műegyetem. Szakosztályi órarend az 1887/88 tanév I. felében [Königl. Joseph-Tech- nische Hochschule. Stundenplan der Abteilungen im ersten Semester des Studienjahres 1887/88]. Budapest 1887, S. 1–4 204 GÁSPÁR SALAMON da diese „dem Erwerben der Kenntnisse bezüglich der künst- lerischen Ausbildung” 52 nicht genügen würde. Der Misserfolg dieser Initiative stellt anschaulich dar, dass die Architekten auf die institutionelle Bürokratie keinen starken Einfluss ausüben konnten, um den Studienaufbau umzustrukturieren. Auch wenn einige Teilergebnisse, wie die reduzierte Stundenzahl in den Fächern Mathematik und Mechanik 53 sowie die Erweiterung des Fachspektrums durch die Allgemeine Kunstgeschichte, Geschichte der Kunstgewerbe und Ästhetik (1899 als obligato- risches Fach angenommen), 54 um 1900 erreicht wurden sowie weiterhin Hauszmann 1903 als der erste Architekt-Rektor der Joseph-Technischen Hochschule inauguriert wurde, war und blieb bis in die 1910er Jahre hinein das amtliche Einflusspotenzial der Architekten auf die Lehrstruktur beschränkt. Die Architektur- professoren versuchten daher die durch das polytechnische institutionelle Gerüst bestimmte Lehre in erster Linie durch die Kompilation des Lehrinhalts und die Prägung der Methodik mit künstlerischem Inhalt zu füllen. Von den 1860er Jahren an sickerte die Tradition der Prachtbaukunst, das Studium und das Entwerfen anhand der historischen Stile sukzessive in die polytechnische Lehre ein. Anfangs lag der Schwerpunkt des durch Schnedár unterrich- teten Lehrstoffes noch auf der Baukonstruktionslehre und dem Entwerfen von einfacheren Gebäuden, worüber 1856 sein Lehrbuch Anleitung zur Baukunst 55 und die erhaltenen Notizen Schuleks, 56 der im Studienjahr 1860/61 den Landbaukunde- Kurs besuchte, berichten. Demnach konzentrierten sich die 52 UaTWUB, 9/b/1. Gemeinsame Sitzungs- 55 Johann Schnedar: Anleitung zur Baukunst protokolle der Fakultät für Technik und der zum Gebrauche für Real-, Sonntags- und Fakultät für Architektur (1876–1950), Gesuch Gewerbeschulen. Wien 1856. der Professoren der Abteilung für Architektur am 19. Februar 1904. 56 Im Privatbesitz. 53 A Királyi József-Műegyetem 1898/99. tané- vének megnyitásakor MDCCCXCVIII. október hó 16-án tartott beszédek. Budapest 1898, S. 7. 54 UaTWUB, 3/c/18/43. Verwaltungsakten des Rektorats der Joseph-Technischen Hochschule. 205 ‚AKADEMISCHE‘ VORBILDER → INHALT FÜR DIE POLYTECHNISCHE ARCHITEKTENAUSBILDUNG Landbaukunde-Kurse auf die konstruktiven Grundelemente der Baukunst und der Stillehre wurde kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Nach der Ankunft Szkalnitzkys wurde nun aber nach Berliner Vorbild der ‚Stil’ in den Mittelpunkt des Unterrichts gestellt, 57 wozu er 1864 architektonische Vorlageblätter, unter anderem die Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker, 58 besorgt hatte, 59 welche zwar nicht als hochaktuelles Lehrmittel, aber als Berührungspunkt mit der klassizistischen Tradition der Schinkelschule galten. Der mehrjährige ausländische Erfahrung besitzende Steindl unterrichtete von Beginn an auf gewissermaßen breiterer wis- senschaftlicher Basis. Anhand der fragmentierten, doch immer noch erhaltenen Vorlageblätter und Studentenarbeiten der Zeichnungssammlung der Technischen Hochschule ist festzuhal- ten, dass die Zeichen- und Entwurf-Übungen in mittelalterlichen Stilen sowohl bei Steindl als auch bei seinem Nachfolger Schulek vornehmlich nach den Wiener Bauhütte-Blättern 60 gehalten wur- den, die spätestens seit 1864 zum Architekturunterricht an der Joseph-Technischen Hochschule gehörten. 61 (Abb.  1) Über die theoretischen Kurse Steindls berichten seine lückenhaft erhal- tenen Vorlesungsnotizen zum Thema der gotischen Baukunst. Seine in Kopie von Schulek erhaltenen, innerhalb Steindls Lehrtätigkeit von 1870 bis 1902 nicht präzise datierbaren Notizen über die gotische Architektur im Allgemeinen sowie über ihre Verbreitung in Frankreich, in der Schweiz, in Belgien und in den Niederlanden deuten auf eine sorgfältige Vorbereitung seiner kunstgeschichtlichen Vorlesungen hin. 62 Es lässt sich durch die 57 Papp 2008 (Anm. 7), S. 422. 61 UaTWUB, 2/a/1. Protokolle der Professo- ren-Konferenz des Joseph-Polytechnikums 58 Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker (1851–1867), Protokolle der am 6. April 1864 und herausgegeben von der königl. technischen am 31. März 1865 gehaltenen Ratssitzungen. Deputation für Gewerbe. Berlin 1821–1830. 62 Bibliothek und Informationszentrum der 59 József Sisa: Szkalnitzky Antal. Egy építész Ungarischen Akademie der Wissenschaften, a kiegyezés korabeli Magyarországon. Buda- Abteilung für Handschriften und Alte Bücher pest 1994, S. 52. [BIUAWAHAB], Ms 5029/31, fol. 76r–78r. Über die hier dargestellten Quellen hinaus erhält 60 D. h. anhand der Faltblätter der Publicatio- die Sammlung die um 1902 entstandenen nen des Vereines Wiener Bauhütte (1862–1900). Mitschriften des Studenten Tibor Melha, die Steindls Vorlesungen über die ungarische gotische Architektur dokumentieren. 206 GÁSPÁR SALAMON Abb. 1: Tabernakel aus Gang (Kaňk). Studentenarbeit von János Szlávik nach einer Wiener Bauhütte-Aufnahme, 1908. Publikationen des Vereines Wiener Bauhütte 3 (1864), H. 2, Taf. 66, 1908. © Zeichnungssammlung des Lehrstuhls für Architekturgeschichte und Denkmalpflege der Technischen und Wirtschaftlichen Universität Budapest 207 ‚AKADEMISCHE‘ VORBILDER → INHALT FÜR DIE POLYTECHNISCHE ARCHITEKTENAUSBILDUNG mikrophilologische Analyse des Textes nachweisen, dass Steindl sich auf die Synthesen der Berliner Schule der Kunstgeschichte, an erster Stelle auf die Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart von Wilhelm Lübke und die Geschichte der bildenden Künste von Karl Schnaase, stützte. 63 Die Vorliebe Steindls für die „großen Synthesen” 64 der Berliner Schule, deren Autoren vormals als heftige Kritiker der Gotiker sowie der Kölner Dombaubewegung und damit unmittelbar der durch Friedrich von Schmidt vertretenen gotischen Tendenz her- vortraten, bezieht sich darauf, dass die Wiener Heranbildung des ungarischen Gotikers nicht unbedingt zur engen Anhängigkeit zum intellektuellen Erbe der Schmidtschule beitrug. Hauszmann vermerkte in seiner Denkschrift, dass in den ers- ten Jahren seiner Lehrtätigkeit aufgrund des Mangels an ungarischer Fachliteratur zur Vorbereitung für die Kurse in Baukonstruktion sowie Stilkunde der Antike und Renaissance seine an der Bauakademie abgefassten Notizen und einige deut- sche Bücher übersetzt wurden. 65 Anhand seiner im Ungarischen Architekturmuseum erhaltenen Notizen sowie der Bestände der Bibliothek der Technischen Hochschule um 1872 weiß man, dass seiner Lehre die Werke einiger mit Berlin verbundenen Klassiker der Kunstgeschichte wie Franz Kugler, Karl Schnaase oder Wilhelm Lübke zugrunde liegen. 66 Weniger Quellen sind in Bezug auf die Vorlesungen Cziglers über die antike Baukunst vorhanden: Lediglich eine die altchrist- liche Baukunst darstellende Kurzfassung seiner Vorlesungen, deren historiographische Orientierung noch aufzuklären ist. 67 Wichtige Quellen sind daher wiederum die Studentenarbeiten zur antiken Architektur, in denen sich der graduelle Fortschritt 63 Gáspár Salamon: A „Steindl-füzetek”. Egy 65 Hauszmann Alajos naplója. Építész a forrás a dualizmus kori építészképzés törté- századfordulón. Hg. v. Ambrus Seidl. Budapest netének historiográfiai megközelítéséhez. In: 1997, S. 46. Művészettörténeti Értesítő 66 (2017), S. 69–84, hier S. 72–84. 66 Budapest, Ungarisches Architekturmuse- um, Inv. 69.018.24; 69.018.27. Vgl. hierzu Papp 64 Paul Frankl: The Gothic. Literary Sources 2008 (Anm. 7), S. 423–426. and Interpretations through Eight Centu- ries. Princeton 1960, S. 539–553. 67 BIUAWAHAB, Ms 5029/31. 208 GÁSPÁR SALAMON der Studierenden von den einfacheren architektonischen Details über die Säulenordnungen bis zu kleineren Gebäuden abzeich- net. 68 Genauso unscharf ist ebenfalls, wie die stilbezogenen Elemente der Kurse von Pecz aussahen. Obschon das Material der Übungen und Vorlesungen der Hansen-Schüler über die Baukonstruktionen und die Baubuchhaltung sogar gedruckt ver- öffentlicht wurde, 69 gewährt es keinen Einblick in die Anwendung der historischen Stile im kreativen Entwurfsprozess seiner Kurse. Ausgesprochen gut dokumentiert ist allein der Lehrstoff der Vorlesungen und Übungen Schuleks, der Nachfolger von Steindl am Lehrstuhl für mittelalterliche Baukunst ab 1903 war. 70 Er hielt umfassende, auch wissenschaftliche Detailfragen berührende Vorlesungen über die Formenlehre und die Geschichte der alt- christlichen und romanischen Baukunst nach den Monographien von Emmanuel Ruprich-Robert, 71 Fernand Dartein, 72 Melchior du Vogüé 73 und zu guter Letzt Die kirchliche Baukunst des Abendlandes von Georg Dehio und Gustav von Bezold. 74 (Abb. 2) Neben der historischen Übersicht wurden auch die theoretischen Probleme nicht außer Acht gelassen. Schulek zitierte sogar in einer seiner Vorlesungen die Einleitung der Arbeit Die archi- tektonischen Ordnungen der Griechen und Römer von Johann Matthäus von Mauch, in welcher der Autor die Differenzierung der „praktisch-constructiven” Form von der Kunstform nach 68 Zeichnungssammlung des Lehrstuhls für 71 Emmanuel Ruprich-Robert: L’architecture Architekturgeschichte und Denkmalpflege der normande aux XIe et XIIe Siècles en Normandie Technischen und Wirtschaftlichen Universität et en Angleterre. Paris 1889. Budapest. 72 Fernand de Dartein: Étude sur l’architecture 69 Samu Pecz: Középítési szerkezetek. Bud- lombarde et sur les origines de l’architecture apest 1911; Sándor Károlyi: Épületszerkezetek. romano-byzantine. Paris 1865. Pecz Samu előadásai alapján és hozzájárulásá- val, Bd. 1–2. Budapest 1922; vgl. hierzu Ágnes 73 Melchior de Vogüé: Syrie centrale, archi- Gyetvainé Balogh, Miklós Kalmár: Functional tecture civile et religieuse du Ier au VIIe siècle. Thinking in the Architecture of Samu Pecz and Paris 1877. his Followers. In: Periodica Polytechnica Archi- tecture 44 (2013), S. 61–68. 74 Gustav von Bezold, Georg Dehio: Die kirch- liche Baukunst des Abendlandes, historisch 70 BIUAWAHAB, Ms 5029–5031. Über die und systematisch dargestellt von G. Dehio und Lehrtätigkeit Schuleks: Gáspár Salamon: G. von Bezold, Bd. 1–7. Stuttgart 1887–1901. „Aztán vigyázzon, el ne csússzék...”. Elmélet, gyakorlat és fontolva haladás a műegyetemi Schulek-tanszéken. In: Ars Hungarica 40 (2014), S. 338–350. 209 ‚AKADEMISCHE‘ VORBILDER → INHALT FÜR DIE POLYTECHNISCHE ARCHITEKTENAUSBILDUNG Abb. 2: Frigyes Schulek, Anschauungsmaterial der Formenlehre-Kurse, 1904. Nach Fernand Dartein: Étude sur l’architecture lombarde et sur les origines de l’architecture romano-byzantine. Paris 1865, S. 335, 1904. © Bibliothek und Informationszentrum der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung für Handschriften und Alte Bücher, Ms 5030/4. fol. 25 210 GÁSPÁR SALAMON Bötticher erörtert. 75 Außerdem findet sich ein Auszug aus einem Kapitel von Rudolf Adamys Die Architektur als Kunst. Aesthetische Forschungen in seinen Vorlesungsskripten. 76 Was Schulek aus Adamys Werk entnahm, war vielsagend: „Die Architektur als Handwerk und die Architektur als Kunst haben dieselben Gesetze anzuwenden, unterscheiden sich aber dadurch, dass erstere sich ihnen bloß fügt, sie befolgt, die letztere sie aber für das Gefühl zur Darstellung bringt.“ 77 Schuleks Vorlesungen gel- ten als treffende und nicht isolierte Beispiele dafür, wie die künst- lerischen Aspekte des Selbstverständnisses der Architekten im Rahmen der Hochschullehre artikuliert werden konnten. Die Diskussion über solche theoretischen Probleme und entschei- dende Fragen des Berufsstandes in einer Lehrsituation oder in informellem Rahmen wurde dank der Rezeption des Wiener Meisterschulprinzips durch die direkte Verständigung zwischen Lehrer und Eleven ermöglicht. Das um 1868 umgestaltete Meisterschulsystem der Wiener Akademie der Bildenden Künste, 78 dessen Äquivalent in der ungarischen Architekturlehre sich in erster Linie in dem sti- listisch bestimmten Lehrsystem erkennen lässt, wurde schon von der vorherigen Lehrtätigkeit Schmidts antizipiert und geprägt. Als ‚Mikrokosmos‘ mag der Lehrplan des letzten (vier- ten) Studienjahres an der Joseph-Technischen Hochschule das angesichts des Stils und des Lehrers (Meisterschulleiter) sepa- rierte Schulsystem der Akademie widerspiegeln. Im vierten Jahrgang nahm das Entwerfen von öffentlichen Gebäuden und Privathäusern die Hälfte der Gesamtstundenzahl in Anspruch. In den Kursen wurde das Entwerfen verschiedener Bautypen wie Wohnhäuser, kommerzielle, kirchliche sowie öffentliche Gebäude in einem der historischen Stile unter der Betreuung 75 BIUAWAHAB, Ms 5029/1, fol. 1. Vgl. Johann 77 Rudolf Adamy: Die Architektur als Kunst. Matthäus von Mauch: Die architektonischen Aesthetische Forschungen. Hannover 1881, Ordnungen der Griechen und Römer. Berlin S. 38. 81896, S. 1. 78 Wagner 1967 (Anm. 4), S. 206f. 76 BIUAWAHAB, Ms 5029/31. 211 ‚AKADEMISCHE‘ VORBILDER → INHALT FÜR DIE POLYTECHNISCHE ARCHITEKTENAUSBILDUNG eines der Professoren für Baukunst (am Anfang bei Steindl oder Hauszmann, später auch bei Czigler) zum Ziel gesetzt, um die Zöglinge auf die Staatsprüfung vorzubereiten. 79 Bei der Reform der Abteilung für Architektur im Jahr 1887 strebte die Mehrheit des Professorenkollegiums danach, die Wählbarkeit der Betreuer und damit des Stils in das neue Organisationsstatut einzufügen. 80 Daneben deutet sogar das fruchtlose Gesuch der Professoren um die Verlängerung der Studiendauer im Jahr 1904 in direkter Weise das Wiener Vorbild an: „das fünfte Jahr wird das Gepräge einer Meisterschule haben, da man sich ausschließlich mit dem Entwerfen und mit dem Lehrstoff betreffs der bildenden Künste beschäftigen wird.“ 81 Die Verteilung der Studenten im letzten Studienjahr hatte klei- nere und durch die Professoren betreute Gruppen zur Folge, was die interaktive Teamarbeit und die Gelegenheit zur individu- alisierten Korrektur ermöglichte. Im ersten Jahrzehnt nach dem Hochschulstatut von 1871 ist die Lehre in kleineren Gruppen nicht einer bewussten methodischen Konzeption, sondern vielmehr der geringen Studentenanzahl anzurechnen. Die Erweiterung der Lehrkräfte 1887 nimmt wiederum Bezug darauf, dass der indivi- duelle Charakter der Lehre trotz der zunehmenden Höreranzahl beibehalten werden sollte. Die individualisierte Methodik lässt sich ebenfalls als ein Anknüpfungspunkt an die Wiener Bildungstradition verstehen, wofür die Berichte der Studenten von Schmidt und Steindl Beispiele anführen: „In Schmidts Schule“, so der Schmidt-Schüler Max Fleischer, „konnte und musste Jeder etwas lernen, denn der Unterricht war individuell. Von Brett zu Brett ging der Meister, um Vortrag zu halten, anknüpfend an den Gegenstand, den der Schüler just in Arbeit hatte.“ 82 Der Steindl-Schüler Ernő Förk bemerkte: „wir studierten wirklich bei 79 A Királyi József-Műegyetem programmja az 81 Ebd. 1874/75. tanévre. Budapest 1874, S. 19. 82 Fleischer 1891 (Anm. 28), S. 5f. 80 UaTWUB, 9/b/1. Gemeinsame Sitzungs- protokolle der Fakultät für Technik und der Fakultät für Architektur (1876–1950), Gesuch der Professoren der Abteilung für Architektur am 19. Februar 1904. 212 GÁSPÁR SALAMON ihm [Steindl] nicht jeder Zeit, als er während der zugemessenen Unterrichtsstunde am Katheder vorgelesen hat [...], sondern als er im Kreis seiner Studenten, bei dem Zeichenbrett eines seiner Eleven, von der vorliegenden Aufgabe ausgehend gelehrt hat.“ 83 Neben den interaktiven Zeichenübungen Steindls, die Förk auf- leben ließ, trugen die Ausflüge zum Aufnehmen der mittelalter- lichen Denkmäler Ungarns zum praxisorientierten Charakter der Lehre bei. 84 Die begeisterten Schüler Steindls etablierten 1878 einen Studentenverein zur Erforschung der Baudenkmäler, dessen offensichtliche Parallele mit der Wiener Bauhütte sich durch einen zeitgenössischen Zeitungsartikel belegen lässt: „Die Hörer der Abteilung für Architektur an der Ung. Königl. Joseph- Technischen Hochschule haben eine Vereinigung unter der Leitung von Professor Imre Steindl, unter dem Namen ‚Verein der Architekten-Studenten der Technischen Hochschule‘, nach dem Vorbild der Wiener ‚Bauhütte‘ gegründet“ 85. Eine Kontinuität mit Schmidts Lehrweise sowohl hinsichtlich der individuellen Methodik als auch in Bezug auf die Studienreisen ist ebenfalls bei dem nächsten Professor für mittelalterliche Baukunst, Frigyes Schulek, zu erkennen. 86 Die Parallelen der Wiener und Budapester Lehrmethoden wei- sen darauf hin, dass die individualisierte, praxisorientierte aka- demische Lehrweise, sprich: das Meisterschulprinzip, zualler- erst dank der Tätigkeit der ungarischen Schmidt-Schüler an der Joseph-Technischen Hochschule rezipiert wurde. Dies ermög- lichte gemeinhin den engen Professor-Studenten-Umgang, der im Gegensatz zu der polytechnischen Massenausbildung als akademisches Merkmal der Lehre zu identifizieren ist. 83 Ernő Foerk: Steindl Imre emlékezete. In: Magyar Mérnök- és Építész-Egylet Közlönye (61) 1927, S. 305–308, hier S. 305. 84 Sisa 2005 (Anm. 6), S. 16. 85 A magy. kir. József-műegyetem építészeti szakosztályának hallgatói. In: Építési Ipar 2 (1878), H. 1, S. 6. 86 Salamon 2014 (Anm. 70), S. 343–350. 213 ‚AKADEMISCHE‘ VORBILDER → INHALT FÜR DIE POLYTECHNISCHE ARCHITEKTENAUSBILDUNG Fazit Die Mobilität junger Architekten zeichnet sich als starke Tendenz in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts ab. Demzufolge waren die an westlichen Lehranstalten, allen voran an den Akademien in Berlin und Wien, ausgebildeten Professoren die einflussreichsten Akteure der Umwandlungsprozesse der ungarischen Architektenausbildung in der Gründerzeit. In die- sem Prozess, in dessen Verlauf bis zur Jahrhundertwende die Architektenausbildung in Ungarn eine autarke, vollends ins- titutionalisierte Größe wurde, sollten die Berliner und Wiener Vorbildeinrichtungen der 1860er und 1870er Jahren im Zentrum stehen. In dieser Studie wurde versucht, anhand einiger Beispiele zu zeigen, welche Rolle die Berliner und Wiener akade- mischen Lehrmodelle bei der Charakterisierung der Lehrstruktur, des Inhalts und der Methoden in Ungarn spielten. Mithin kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Architekturlehre der Gründerzeit in Ungarn, obwohl sie unter polytechnischen Rahmenbedingungen institutionalisiert wurde, durch das in Struktur und Inhalt der Lehre auf die Kunst und Kunstgeschichte gelegte Gewicht und das individualisierte methodische Verständnis des Unterrichts von der künstlerisch-akademischen Lehre der Berliner Bauakademie und der Akademie der Bildenden Künste in Wien stark geprägt wurde. 214 CHRISTIANE SALGE CHRISTIANE SALGE Matrikelbücher, Schülertabellen und Seminarlisten Wichtige Quellen zur Erforschung der Architektenausbildung an der Berliner Bauakademie 1799–1806 Im Jahre 1799 wurde in Berlin die Bauakademie gegründet, in der erstmals an einer deutschen Institution Schüler umfassend in allen Bereichen der Architektur unterrichtet werden sollten. Ziel des Beitrags ist es, durch die Auswertung von Schülerlisten und Matrikelbüchern der Bauakademie ihre Bedeutung in der damali- gen Zeit umfassender als bislang geschehen zu würdigen. Denn anhand der überlieferten Schüler- und Seminarlisten aus den Anfangsjahren der Bauakademie können nicht nur Angaben zur Anzahl der Schüler gegeben werden, sondern die überlieferten Daten ermöglichen auch Rückschlüsse auf das Alter, die soziale und regionale Herkunft, die Fächerwahl sowie die Verweildauer der Eleven. Durch die Auswertung der Ausbildungs- und späte- ren Berufswege der Bauakademieschüler, können erstmals sehr präzise Angaben zur Effektivität und Bedeutung dieser Schule um 1800 getroffen werden. Als die Bauakademie im Jahre 1799 gegründet wurde, waren von Seiten des Königshauses, der Akademie, der beiden preußi- schen Bauverwaltungen und der Architekten große Erwartungen an sie geknüpft. Einerseits sollten hier natürlich sehr gute, im neuen Geschmack des Klassizismus geschulte Architekten für die Prachtbauten des Herrscherhauses ausgebildet werden, andererseits ging es aber vor allem um eine praxisorientierte 215 MATRIKELBÜCHER, → INHALT SCHÜLERTABELLEN UND SEMINARLISTEN und einheitliche Grundausbildung von Baubeamten, die die in den weit entfernt gelegenen preußischen Provinzen befindlichen kameralistischen und ingenieurtechnischen Bauvorhaben im Bereich der Land- und Wasserbaukunst sowie im Wegebau pro- fessionell betreuen sollten. Diese sehr weit auseinanderliegen- den Erwartungen an die Institution der Bauakademie spiegeln sich letztendlich in ihrem sehr breiten Profil mit insgesamt sieb- zehn Fächern wider. Fakt ist, 1799 wurden neben dem klassischen Unterricht im Architektonischen Zeichnen, in der Perspektive und in der Bauornamentik auch die Fächer Feldmesskunst und Maschinenzeichnen angeboten. Das heißt, die Vorlesungen zur Stadtbaukunst und Geschichte der Baukunst wurden ergänzt durch Veranstaltungen zur Land- und Wasserbaukunst sowie zum Geschäftsstil und neben dem Fach Konstruktion konnte man hier auch die eher den Bereich des Bauingenieurs betreffenden Zweige der Architektur, wie die Statik, Hydraulik, Bauphysik und Maschinenlehre studieren. (Abb. 1) Jedoch wie wurde dieses umfassende Angebot an architek- tonischem Wissen angenommen, von wem und mit welchem beruflichen Interesse wurde die Bauakademie um 1800 besucht und wie erfolgreich war sie letztlich in der Ausbildung? War sie in ihrer Anfangszeit eher eine Kaderschmiede für preußi- sche Baubeamten oder lebte die traditionelle akademische Architektenausbildung in ihr fort? Ein Teil dieser Fragen kann durch die Auswertung von Schüler- und Matrikellisten beantwortet werden. 1 Denn der Quellenbestand zu den ersten sechs Jahren des Bestehens der 1799 gegründe- ten Bauakademie ist hervorragend. So haben sich für die Zeit vom Winterhalbjahr 1799/1800 bis zum Winterhalbjahr 1805/06 tabellarische Schülerverzeichnisse erhalten, die bislang noch 1 Die in diesem Aufsatz präsentierten Erkenntnisse gehen auf die Ergebnisse meines DFG-Forschungsprojekts „Baukunst und Wissenschaft. Architektenausbildung um 1800 am Beispiel der Berliner Bauakademie“ zurück, welches 2019 in Buchform erscheint. 216 CHRISTIANE SALGE Abb. 1: Stundenplan des ersten Wintersemester 1799/1800 an der Berliner Bauakademie. Berlin, GStA PK, I. HA, Rep 76 alt IV Nr. 15, fol. 10r 217 MATRIKELBÜCHER, → INHALT SCHÜLERTABELLEN UND SEMINARLISTEN nicht umfassend ausgewertet worden sind. 2 (Abb.  2) Während Matrikellisten, die für viele Akademien und Universitäten über- liefert sind und zum Teil auch schon in edierter Form vorliegen 3, nur den Eintritt in eine Lehranstalt belegen (und man damit also weiß, wer und wie viele Schüler sich in einer Institution immatri- kuliert haben), bieten die für die Anfangsjahre der Bauakademie erhaltenen Schülerlisten weit mehr an Informationen. Neben den Schülernamen sind in den Tabellen auch der Stand des Vaters, der Geburtsort, das Alter des Eleven und der „Vorsatz seiner besonderen Bestimmung“ (damit ist der zukünftige Berufswunsch gemeint) sowie die in dem jeweiligen Halbjahr belegten Fächer vermerkt, die zusätzlich um knappe Bemerkungen der jeweiligen Lehrer zum Eifer und Erfolg der jeweiligen Studierenden ergänzt wurden. (Abb. 3) Daher sind diese Schülertabellen eine einzigar- tige Quelle und bieten sich geradezu für eine Auswertung an. 2 Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Arts. Stuttgart 2009, S. 492–508, 519–542. Zu Kulturbesitz (GStA PK), I. HA Rep. 76 alt IV, Nr. den Schülern der Hohen Karlsschule siehe 14a (Sommerhalbjahr 1802 bis Winterhalbjahr auch: Werner Gebhardt: Die Schüler der Hohen 1805/06) und Nr. 15 (Winterhalbjahr 1799/1800 Karlsschule. Ein biographisches Lexikon. Stutt- bis Winterhalbjahr 1801/02). Das Verdienst, gart 2011). Für Wien hat Katharina Schoeller erstmals auf diese Listen hingewiesen zu ein kommentiertes Schülerverzeichnis der haben, gebührt dem ehemaligen Archivar Architekturklasse Peter Nobiles vorgelegt (Die Reinhart Strecke. Reinhart Strecke: „Mittwochs Architektenausbildung an der Akademie der und sonnabends Handzeichnen für Bau- Bildenden Künste in Wien unter Peter Nobile schüler“. Die Architektenausbildung und ihre 1818–1849, Diplomarbeit an der Universität Überlieferung im Geheimen Staatsarchiv. In: Wien, Typoskript. Wien 2006). Zu den Schülern Die Hand des Architekten (= Schriftenreihe der an Weinbrenners privater Schule in Karlsruhe Bauakademie Berlin, 1), hg. von der Bauakade- sind wir durch eine zeitgenössische Liste aus mie Berlin. Köln 2002, S. 24f. Im Inventar zur den Jahren 1826 und 1829 über deren Namen Geschichte der preußischen Bauverwaltung informiert, neue Forschungen haben die dort 1723–1848 liegt die Schülerliste des ersten für den Zeitraum zwischen 1796 und 1826 Jahrgangs der Bauakademie (1799/1800) angegebene Anzahl an 88 Schülern noch bereits ediert vor: Reinhart Strecke, Christiane beträchtlich auf über 110 erweitern können Brandt-Salloum (Hg.): Inventar zur Geschichte (Aloys Schreiber: Friedrich Weinbrenner. Ein der preußischen Bauverwaltung 1723–1848. Denckmahl der Freundschaft. Karlsruhe 1826; Berlin 2005, S. 1161–1175. Aloys Schreiber (Hg.): Friedrich Weinbrenner. Denkwürdigkeiten aus seinem Leben von 3 Zur Académie des Arts (1761–1775) und ihm selbst geschrieben. Heidelberg 1829, der Kunstakademie der Hohen Karlsschule S. 295–298; Joachim Kleinmanns: Friedrich (1770–1794) in Stuttgart liegen kommentierte Weinbrenners Schüler. In: Friedrich Weinbren- Schülerlisten aus der Zeit ihres Bestehens vor, ner 1766–1826. Architektur und Städtebau des in denen auch die Architektureleven erwähnt Klassizismus, Ausstellung der Städtischen sind (Sabine Rathgeb: Studio & Vigilantia. Die Galerie Karlsruhe und des Südwestdeutschen Kunstakademie an der Hohen Karlsschule in Archivs für Architektur und Ingenieurbau am Stuttgart und ihre Vorgängerin Académie des KIT. Petersberg 2015, S. 444–452). 218 CHRISTIANE SALGE Abb. 2: Tabellarisches Verzeichnis der Schüler im Sommerhalbjahr 1800 an der Bauakademie in Berlin. Berlin, GStA PK, I. HA Rep 76 alt IV Nr. 15, fol. 45r Bislang sind diese Listen nur punktuell von der monographi- schen Forschung zur Bestimmung der Ausbildungsorte ein- zelner renommierter Architekten bzw. Persönlichkeiten wie Karl Friedrich Schinkel 4, Christian Peter Wilhelm Beuth 5 und Johann Gottfried Steinmeyer 6 ausgewertet worden. Dadurch konnten auch einige Ungereimtheiten aufgedeckt werden. Nahm die Forschung zu Leo Klenze früher an, dass dieser schon um 1800 an der Berliner Bauakademie Architektur stu- diert habe, 7 zeigt die Auswertung der Schülerlisten, dass er 4 Mario Alexander Zadow: Karl Friedrich 6 Andreas Vogel: Johann Gottfried Stein- Schinkel – Ein Sohn der Spätaufklärung. Die meyer und Putbus. Eine Studie zur Baukunst Grundlagen seiner Erziehung und Bildung. und Urbanistik im Klassizismus (= Beiträge zur Stuttgart, London 2001. Architekturgeschichte und Denkmalpflege in Mecklenburg und Vorpommern 3). Schwerin 5 Christiane Brandt-Salloum, Reinhart Stre- 2003, S. 124f. cke: Klosterstraße 36. Sammeln, Ausstellen, Patentieren. Zu den Anfängen Preußens als 7 Winfried Nerdinger (Hg.): Leo von Klenze. Industriestaat, Ausstellung des Geheimen Architekt zwischen Kunst und Hof 1784–1864, Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Ausstellungskatalog München. München 2000, Zusammenarbeit mit der Kunstbibliothek der S. 183. Staatlichen Museen zu Berlin. Berlin 2014, S. 64f. 219 MATRIKELBÜCHER, → INHALT SCHÜLERTABELLEN UND SEMINARLISTEN Abb. 3: Tabellarisches Verzeichnis der Schüler im Winterhalbjahr 1800/01 an der Bauakademie in Berlin. Berlin, GStA PK, I. HA Rep 76 alt IV Nr. 15, fol. 49r erst ab dem Sommerhalbjahr 1802 und in dem darauffolgenden Winterhalbjahr 1802/03 hier eingeschrieben war. 8 In der älte- ren Literatur zur Bauakademie wurden die Schülerlisten zwar auch erwähnt, es blieb allerdings bei der bloßen Nennung der Anzahl der Studierenden pro Jahr. 9 Die Zahlen wurden als direk- tes Zeichen für den anfänglichen Erfolg der Institution gewer- tet, ohne sie weiter zu kontextualisieren. Im Folgenden werden die Ergebnisse der erstmaligen Erfassung und statistischen Auswertung dieser Schülerlisten vorgestellt. 10 8 Erstmals richtiggestellt durch Strecke 2002 Historische Skizze. In: Chronik der Königlichen (wie Anm. 2), S. 25. Technischen Hochschule zu Berlin 1799–1899, Berlin 1899, S. 11–114 (Hier werden auf S. 38f. 9 Die Technische Hochschule zu Berlin. die Immatrikulationszahlen ab 1801/02 bis 1799–1924. Festschrift. Berlin 1925. (Hier heißt 1808/09 und die Zahl der Studierenden in es S. 39f.: „Die Zahl der Schüler betrug in den den jeweiligen Halbjahren von dem Sommer- drei ersten Sommersemestern von 1801 an halbjahr 1801 bis zum Winterhalbjahr 1803/04 zuerst 59, dann 57 und schließlich 50, dagegen lediglich dokumentiert). in den drei ersten Wintersemestern zuerst 124, dann 120 und schließlich 127“. Die Zahlen 10 Siehe dazu ausführlicher: Christiane Salge: entsprechen weitgehend den von mir eruierten. Baukunst und Wissenschaft. Architekten- Eduard Dobbert: Bauakademie, Gewerbeaka- ausbildung um 1800 am Beispiel der Berliner demie und Technische Hochschule bis 1884. Bauakademie (erscheint voraussichtlich 2019). 220 CHRISTIANE SALGE Anzahl, Fächerwahl und Verweildauer Zunächst zur Zahl der Studierenden: Insgesamt haben in dem besagten Zeitraum zwischen 1799/1800 und 1805/06 über 500 Schüler an der Bauakademie studiert. (Abb. 4) Das ist eine recht hohe Zahl (im Durchschnitt 70 Neuanmeldungen pro Jahr). Da die Münchner Akademie erst 1809 gegründet wurde, liegen keine Zahlen aus dem gleichen Zeitraum vor. Dennoch lohnt sich ein Vergleich: An ihr haben sich in einem Zeitraum von 16 Jahren zwischen 1809 und 1824 nämlich nur 286 Schüler für das Fach „Baukunst“ eingeschrieben. 11 Daraus wird deutlich, dass sich an der Bauakademie in einem kürzeren Zeitraum deutlich mehr Studierende für das Fach Architektur einschrieben als an der Münchner Akademie. Orientiert man sich allein an diesen Zahlen, so erscheint der in der Berliner Bauakademie verwirklichte Kompromiss zwi- schen baukünstlerischen, technischen, wissenschaftlichen und praktischen Fächern als eine Art erfolgreicher Idealtyp der Architektenausbildung, als Vorläufer der späteren Architektur- fakultäten an den Technischen Hochschulen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wertet man allerdings die für diese erste Zeit in Fülle vorlie- genden Informationen zu den Schülern an der Bauakademie genauer aus, so werden Brüche deutlich. Die große Anzahl 11 Aus den durchgängig erhaltenen Matrikel- büchern der 1809 neu gegründeten Münchner Akademie der bildenden Künste kann man die Architekturschüler ermitteln. In den Matrikelbü- chern sind neben den Namen der Schüler auch Geburtsort und Alter sowie Jahr und Monat des Eintritts in die Akademie sowie das jeweilige zu studierende „Kunstfach“ festgehalten. Dadurch können zumindest die regionale Herkunft, die Studierendenzahlen und Altersstrukturen ermit- telt werden. Vgl. die Matrikeldatenbank [URL: http://matrikel.adbk.de/01matrikelbucher] und das Digitalisat des Matrikelbuchs aus der Zeit zwischen 1809 und 1841 [URL: http://matrikel. adbk.de/matrikel/mb_1809-1841]. 221 MATRIKELBÜCHER, → INHALT SCHÜLERTABELLEN UND SEMINARLISTEN Eintritts- 1799/ 1800/ 1801/ 1802/ 1803/ 1804/ 1805/ 1806/ jahr 1800 1801 1802 1803 1804 1805 1806 1807 120 84 49 54 53 69 51 31 Abb. 4: Zahl der Eleven pro Jahr an der Bauakademie zwischen 1799/1800 und 1806/07. Grafik: Christiane Salge Studiendauer 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 in Semestern 192 134 89 47 25 12 1 6 1 0 1 0 Abb. 5: Verweildauer der Eleven an der Bauakademie zwischen 1799/1800 und 1805/06. Grafik: Christiane Salge der Studierenden darf nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur die wenigsten hier wirklich ihre gesamte Ausbildung durchlaufen haben. Stattdessen verbrachte der durchschnittliche Bauschüler – dieser war durchweg männlich 12 und bei Eintritt in die Bauakademie im Mittel zwanzig Jahre alt 13 – nur etwas mehr als zwei Semester an der Bauakademie. (Abb.  5) Von den rund 500 Studierenden hatte knapp die Hälfte sogar nur ein oder zwei Semester hier studiert und quasi nur eine verschwindend kleine Anzahl die für den gesamten Studiengang eigentlich vorgesehe- nen acht Semester absolviert. 12 An deutschen Kunstakademien wurden in 13 Ähnlich wie an der Bauakademie konnte der Regel erst weit nach 1850 Frauen ausge- man in München das Studium an der Kunstaka- bildet und an den Technischen Hochschulen demie schon recht früh beginnen. War an der erlaubte erst um 1900 eine gesetzliche Rege- Bauakademie das frühestmögliche Eintrittsalter lung auch Frauen das Studium. Heutzutage auf 15 Jahre festgelegt, wurde in der Satzung studieren mehr Frauen als Männer Architektur der Münchner Kunstakademie 1808 die Immat- an deutschen Hochschulen, dennoch gibt es rikulation schon mit 13 Jahren erlaubt. Dies wa- nur wenig international renommierte Architekt- ren jedoch eher Ausnahmen, die Auswertung innen, die Branche ist immer noch männerdo- der beiden Schülerlisten in Berlin und München miniert. An der École des Beaux-Arts in Paris ergab ein Durchschnittsalter für den Eintritt in waren erst ab 1897 Frauen zugelassen. Vgl. die jeweilige Institution von 20 Jahren. Hieraus Carl Goldstein: Teaching Art. Academies and wird deutlich, dass die meisten der Eleven Schools from Vasari to Albers. Cambridge zwischen Schule und Architekturstudium noch Mass. 1996, S. 61–66; Eva Schöck-Quinteros, eine Lehre im Bereich der Baukunst oder eine Elisabeth Dickmann (Hg.): Barrieren und andere weiterführende Ausbildung absolviert Karrieren. Die Anfänge des Frauenstudiums in hatten. Deutschland. Berlin 2000; Tanja Kullak (Hg.): Architektur – eine weibliche Profession. Berlin 2011. 222 CHRISTIANE SALGE Dies hat nicht – wie man vermuten könnte – mit einer großen Abbrecherquote zu tun, sondern hängt vielmehr mit dem offen- sichtlich sehr selektiven Studium seitens der Schüler zusam- men. Viele Studierende kamen aus den preußischen Provinzen offensichtlich ganz gezielt nach Berlin, um hier ihre bereits in der Baupraxis erworbenen Fähigkeiten wissenschaftlich und künstlerisch-ästhetisch zu vertiefen. Es ging ihnen also nicht um ein vollwertiges Studium an der Bauakademie, sondern um die konkrete Vorbereitung für die verpflichtende Baukunstprüfung in der Bauverwaltung. Denn nur wer diese Prüfung am Ober- baudepartement bestand, konnte den nächsten Schritt in der Karriereleiter der preußischen Bauverwaltung erklimmen – also vom Feldmesser oder Baukondukteur zum Bauinspektor auf- steigen. 14 Andere Studierende haben offensichtlich ganz gezielt einzelne Fächer bzw. Fächergruppen belegt, um sich in einem bestimmten Bereich (zum Beispiel im Wasserbauwesen, Wegebau oder in der Prachtbaukunst) an der Bauakademie zu spezialisie- ren. Es ist zudem zu beobachten, dass aus ganz Deutschland angehende Architekten kamen, um in Berlin Fächerkombinationen zu belegen, die sonst kaum angeboten wurden. Auch diese stu- dierten meist nur wenige Semester an der Bauakademie. Das heißt, die Bauakademie diente zumindest in den ersten Jahren weniger als grundlegende Ausbildungsstätte, sondern vorwiegend zur Vertiefung der künstlerischen, ästhetischen und vor allem wissenschaftlich-technischen Kenntnisse. Und dafür reichte offensichtlich ein auf wenige Semester begrenztes Studium aus. Hier existiert ein großer Unterschied zu anderen akademischen deutschen Ausbildungsinstitutionen. Wie schon erwähnt, schrieben sich an der 1809 gegründeten Münchner Akademie mit nur 17 Architektureleven pro Jahr deutlich weniger Studierende ein als an der Bauakademie, wo sich in etwa fünfzig neue Eleven pro Jahr immatrikulierten. Dafür war die Fluktuation 14 Erich Konter: Die Preussische Bauver- förderung im Kaiserreich. Kunst im Wandel der waltung und ihre Ausbildung von 1770 bis Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (= Kunst, 1850. In: Archplus 25 (1975), S. 18–35, Ders.: Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, 2). Architektenausbildung im Deutschen Reich. In: Berlin 1982, S. 185–308. Ekkehard Mai (Hg.): Kunstpolitik und Kunst- 223 MATRIKELBÜCHER, → INHALT SCHÜLERTABELLEN UND SEMINARLISTEN der Schüler an der Münchner Akademie geringer als in Berlin, denn in der Regel haben die Schüler dort das Baufach zwei bis drei Jahre studiert. 15 Die genaue Auswertung der Anzahl der Eleven in den jewei- ligen Unterrichtsfächern an der Berliner Bauakademie ergibt allerdings ein relativ ausgewogenes Bild (Abb.  6): So belegten zum Beispiel sehr viele Eleven den sich über zwei Semester erstreckenden Konstruktionskurs, ein grundlegendes Fach für jeden Architekten, aber auch das eher den künstlerischen Teil der Architektenausbildung betreffende Fach Ornamentzeichen war sehr nachgefragt. Ebenso hatte aber auch das eher in den Bereich der Ingenieursausbildung gehörende Fach Schleusen-, Brücken-, Hafen- und Wegebau viele Zuhörer. Daraus wird ersichtlich, dass alle an der Bauakademie angebotenen Fächer relativ gleichmäßig nachgefragt und belegt waren. Die Institution war in den ersten sieben Jahren ihres Bestehens also eindeutig nicht – wie immer wieder behauptet wird – als reine polytech- nische Schule angelegt, in der nur preußische Baubeamte ihre kameralistische Ausbildung erhielten, sondern sie war eine Institution, in der nebeneinander wissenschaftliche, techni- sche, praktische, künstlerische und ästhetische Fächer aus dem Bereich der Architektur angeboten und studiert wurden. Die Schüler legten an der Bauakademie keine Abschlussprüfung ab, dennoch wurden ihre Teilnahme an und ihr Talent in den einzelnen Fächern bewertet. In den Schülertabellen haben sich wunderbare Kommentare der Professoren zu den Leistungen des jeweiligen Eleven erhalten, deren Spektrum von „ausgezeichnet“ bis „unter Stillschweigen“ reicht. Gelegentlich finden sich auch frustrierende Kommentare wie „kam selten“ oder „blieb ganz weg“ – Bemerkungen, die durchaus die aktuelle Unterrichts- situation in den Architekturfakultäten an deutschen Hochschulen und Universitäten widerspiegeln könnten. 15 Dies ergab meine stichpunktartige Auswer- tung der Quellen zur Münchner Akademie (vgl. Anm. 11). 224 CHRISTIANE SALGE Die soziale Herkunft der Eleven Da in den Schülertabellen auch der Beruf des Vaters aufgeführt ist, kann man daraus auch Informationen zur sozialen Herkunft der rund 500 Schüler aus den ersten Jahren gewinnen (Abb. 7). Dies ist sehr interessant, weil es kaum Untersuchungen zum sozialen Stand von Architekten aus dieser Zeit gibt. 16 Die Auswertung 17 zeigt, das gut ein Drittel der Eleven aus der administrativen und wirtschaftlichen Oberschicht stammten, das heißt sie kamen aus einem Elternhaus, in dem der Vater entweder Geistlicher, höherer Beamter, Bürgermeister, Arzt oder Unternehmer war. Wiederum ein knappes weiteres Drittel der Väter waren Lehrer oder Beamte im staatlichen, städtischen sowie kirchlichen Dienst und fast ein Viertel der Schüler kam aus einem handwerklichen Betrieb. Aus der Unter- bzw. Arbeiterschicht lassen sich dagegen kaum Eleven finden. Daraus wird ersichtlich, dass das Studium der Architektur an der Bauakademie nur einer geringen Anzahl an sehr privile- gierten Söhnen aus der Ober- und Mittelschicht offenstand. Das heißt, die Architekten respektive die neu geschaffene Baubeamtenschaft in Preußen sind weitgehend nicht als sozi- ale Aufsteiger zu bezeichnen, sondern stammten schon aus 16 Lediglich zum sozialen Stand der Landbau- gruppenklassifikation. Siehe hierzu: Regine meister in Kurhannover im 18. Jahrhundert liegt Jägers: Duisburg im 18. Jahrhundert. Sozi- eine Untersuchung vor: Stefan Amt: Das Land- alstruktur und Bevölkerungsbewegung einer bauwesen Kurhannovers im 18. Jahrhundert. niederrheinischen Kleinstadt im Ancien Régime Oberlandbaumeister Otto Heinrich von Bonn (1713–1814) (= Rheinisches Archiv 143). Köln, (1703–1785), Dissertation Universität Hannover Weimar, Wien 2001; Olaf Willet: Sozialge- 1998. Hannover 1999. schichte Erlanger Professoren. Göttingen 2011; Matthias Asche: Von der reichen hansischen 17 Die exakte Einteilung einzelner Berufs- Bürgeruniversität zur armen mecklenburgi- gruppen in ein Schichtenmodell wurde nicht schen Landeshochschule. Das regionale und vorgenommen, da die Berufsangaben in soziale Besucherprofil der Universitäten in den Schülerlisten manchmal ungenau waren Rostock und Bützow in der Frühen Neuzeit bzw. es nicht so leicht ist, diese immer exakt (1500–1800). Stuttgart 2000. einer bestimmten Schicht zuzuordnen. Daher wurde eine sehr grobe Schichteneinteilung vorgenommen, um die soziale Herkunft der Studierenden interpretieren zu können. Bei der Differenzierung der Schichten wurde auf gän- gige Modelle der Sozialgeschichte zurückge- griffen. Ich danke Günther Schulz und Regine Jägers (beide Universität Bonn) für Literaturhin- weise zur Sozialstrukturanalyse und Berufs- 225 MATRIKELBÜCHER, → INHALT SCHÜLERTABELLEN UND SEMINARLISTEN Fach Mathematik (WS und SoSe) 304 Optik und Perspektive (nur WS von 1799/1800–1802/03) 49 Statik und Hydrostatik (nur WS) 210 Mechanik und Hydraulik (nur WS) 190 Bauphysik (nur WS von 1799/1800–1802/03) 99 Konstruktion (WS und SoSe) 519 Landbaukunst (nur WS) 368 Stadtbaukunst (WS und SoSe) 273 Strom- und Deichbau (nur WS) 170 Schleusen-, Brücken-, Hafen- und Wegebau (nur WS) 289 Geschichte der Baukunst (nur WS, nicht mehr WS 1805/06) 138 Architekturzeichnung (WS und SoSe) 373 Bauverzierung (WS und SoSe) 523 Maschinenzeichnung (WS und SoSe) 227 Feldmesskunst (WS und SoSe) 248 Geschäftsstil (1799/1800, 1800/01, ab 1802 WS und SoSe) 96 Maschinenlehre (nur WS, nicht 1799/1800) 135 Abb. 6: Anzahl der Eleven in den einzelnen Fächer an der Bauakademie, 1799/1800–1805/06 (Anm. Die Erfassung der Elevenzahl erfolgte pro Semester, da sich einige Kurse über zwei Semes- ter erstreckten und einige Eleven bestimmte Kurse wiederholten, sind die Zahlen zum Teil recht hoch). Grafik: Christiane Salge einer vergleichbaren sozialen Mittel- bis Oberschicht. 18 Ein ähnliches Ergebnis ergab sich bei der sozialgeschichtlichen Untersuchung zu dem sich neu herausbildenden Beruf der Ingenieure im Königreich Hannover in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts. Wie die Untersuchung von Lars Ullrich Scholl herausgearbeitet hat, kam auch hier die überwiegende Mehrheit der im Staatsdienst beschäftigten technischen Beamten aus der Mittelschicht. 19 18 Eine Untersuchung zum sozialen Stand der 19 Vgl. Lars Ulrich Scholl: Ingenieure in der Landbaumeister in Kurhannover im 18. Jahr- Frühindustrialisierung: staatliche und private hundert bestätigt dieses Ergebnis, auch hier Techniker im Königreich Hannover und an der stammten alle Landbaubediente aus einer ge- Ruhr (1815–1873). Göttingen 1978, S. 37. hobenen sozialen Schicht: Amt 1999 (Anm. 16), S. 82–84. 226 CHRISTIANE SALGE Berufsgruppe Personen (Berufe) Anzahl Administrative und Wirt- Höhere Beamte/Räte (55), Geistlichkeit (48), 184 schaftliche Oberschicht Großkaufleute/ Spediteure (30), insgesamt Unternehmer/Fabrikanten (15), Ärzte (10), Bürgermeister (9), Professoren (7), Adel (7), Freie Berufe/Musiker (3) Beamte insgesamt Sonstige staatliche, städtische und kirchliche 141 Angestellte/ Amtmänner/ Inspektoren/ Sekretäre etc. (108), Beamte aus der Bauverwaltung (24), Lehrer (9) Handwerkliche Berufe Handwerksmeister aus dem Baufach (42), 117 insgesamt Handwerkermeister / Hofhandwerker (33), Handwerker (41) Restliche Berufe Militär (18), Dienstpersonal/ Diener (9), 65 insgesamt Wirte/ Hoteliers (7), Ackerleute (3), Sonstige/ Pächter (14), keine Berufsangabe (14) Abb. 7: Soziale Herkunft der Schüler an der Bauakademie, 1799/1800–1805/06. Grafik: Christiane Salge Dass das Architekturstudium im Wesentlichen nur Eleven aus der Mittel- bzw. Oberschicht offenstand, hat sicherlich auch mit den relativ hohen Studiengebühren an der Bauakademie zu tun: Viele junge Männer haben sich schlichtweg nicht die Matrikel, also die Einschreibgebühr von zehn Reichstalern, sowie die Honorare für die einzelnen Kurse bzw. Vorlesungen, die sich zwischen drei und acht Reichstalern beliefen, leisten können. 20 Zum Vergleich: Der 20 Nur die Bauinspektoren, Kondukteure und Eleven des Oberhofbauamts hatten freien Eintritt zum Unterricht, da diese Institution 300 Reichstaler zum Unterhalt der Anstalt beitrug (Berlin, GStA PK, I. HA Rep. 76 alt IV, Nr. 42, fol. 12r–14r). Für talentierte, unvermögende Eleven gab es zwar die Möglichkeit, sich auf eine Be- freiung der Unterrichtsgebühren zu bewerben, hierzu gab es aber nur vier Plätze (Berlin, GStA PK, I. HA Rep. 76 alt IV, Nr. 14a, fol. 24r–25r). 227 MATRIKELBÜCHER, → INHALT SCHÜLERTABELLEN UND SEMINARLISTEN Durchschnittslohn eines Handwerkers in Berlin, beispielsweise eines Webers, betrug gegen Ende des 18.  Jahrhunderts zwei Reichstaler pro Woche, also acht Reichstaler. 21 Das heißt, die Einschreibgebühr von zehn Reichstalern war schon höher als der Monatsverdienst eines damaligen Handwerkers. Knapp zwanzig Prozent der Schüler kamen aus Familien, deren Väter schon im administrativen oder handwerklichen Bereich des Bauwesens arbeiteten. Diese führten also die von ihren Vätern eingeschla- gene Berufsrichtung weiter. Die regionale Herkunft Ebenso interessant ist die Frage nach der regionalen Herkunft der Schüler: Handelte es sich bei der Bauakademie nur um eine lokale Institution oder war sie über die Grenzen Berlins und Preußens hinaus bekannt war und zog auch viele aus- ländische Studierende an? Dies lässt sich ebenso anhand der Schülerverzeichnisse beantworten, und zwar durch die Auswertung der Geburtsorte der Eleven. (Abb.  8) Im unter- suchten Zeitraum der Bauakademie von 1799/1800 bis 1805/06 kam ein Großteil aus der Residenzstadt Berlin bzw. aus dem riesigen Einzugsgebiet der preußischen Provinzen. Von den Studierenden stammten 20 Prozent allein aus Berlin und über 50 Prozent aus dem sich aus Kur-, Alt- und Neumark zusammenset- zenden Kurfürstentum Brandenburg (plus Berlin). Aber auch aus den anderen preußischen Ländern, den entfernter gelegeneren westlichen Territorien wie dem Herzogtum Kleve, der Grafschaft Mark oder dem Fürstentum Ostfriesland sowie aus den östlichen Provinzen wie Schlesien, West- und Südpreußen beziehungs- weise den nördlichen pommerschen Territorien interessierten sich offenbar viele angehende Baufachleute für den Unterricht an der neugegründeten Bauakademie. Dies hängt natürlich auch damit zusammen, dass der Besuch des Unterrichts an der 21 Vgl. dazu: Thorsten Sadowsky: Reisen durch den Mikrokosmos: Berlin und Wien in der bürgerlichen Reiseliteratur um 1800. Hamburg 1998, S. 91 (mit weiterführender Literatur). 228 CHRISTIANE SALGE Region Brandenburg 258 Pommern 58 Preußen 36 Schlesien 35 Westl. Provinzen 24 Ehem. Königreich Polen 11 Ansbach-Bayreuth 7 Ausland 66 Nicht zuzuordnen 12 Abb. 8: Regionale Herkunft der Eleven an der Bauakademie, 1799/1800–1805/06. Grafik: Christiane Salge Bauakademie eine wichtige Vorbereitung für das Bestehen der zentralen Prüfungen am Oberbaudepartement war, ohne deren Absolvierung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts keine Karriere in der preußischen Bauverwaltung mehr möglich war. Ein großer Anteil an Schülern aus der unmittelbaren Umgebung des Akademiestandorts beziehungsweise dem dazu zugehöri- gen politischen Einzugsbereich ist allerdings auch an anderen Akademien wie zum Beispiel in Wien und München zu beob- achten. Dennoch gab es in Berlin in jedem Semester auch eine gewisse Anzahl an ‚Ausländern‘, wie die von außerhalb Preußens kommenden Schüler in den Akten genannt werden. Im Zeitraum zwischen 1799/1800 und 1805/06 studierten viele ‚ausländi- sche‘ Studenten an der Bauakademie – sie machten über zehn Prozent der gesamten Studentenzahl aus (Abb.  8). Die meisten dieser Eleven stammten aus dem benachbarten Kurfürstentum Sachsen und dem Herzogtum Mecklenburg-Strelitz sowie aus Sachsen-Weimar. Einige kamen aber auch aus den südlicheren Regionen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation und einige wenige von außerhalb, aus Frankreich und Dänemark. 229 MATRIKELBÜCHER, → INHALT SCHÜLERTABELLEN UND SEMINARLISTEN Ausbildungswege und Schülerkarrieren Zur Bewertung der Effizienz einer Institution ist die Frage nach den Karriereverläufen ihrer Schüler nicht unerheblich: Was war also aus den rund 500 Studierenden der ersten sechs Jahre an der Bauakademie geworden? Mithilfe der Auswertung weiterer Aktenbestände und anderer Quellen 22 ist es möglich, die Karriere von 200 Schülern aus der Zeit zwischen 1799 und 1806 nachzu- vollziehen. 23 (Abb. 9) Die Auswertung ergibt, dass von den rund 500 Studierenden mehr als fünf Prozent eine gehobene Position in der preußi- schen Bauverwaltung eingenommen haben. Unter diesen 29 Männern sind am bekanntesten die beiden Architekten Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) und Carl Ferdinand Langhans (1781 oder 1782–1869). Man kann ihren Erfolg aber natürlich nicht allein dem Besuch der Bauakademie zuschreiben, verbrachten sie hier doch nur ein Studiensemester. Dennoch dürften auch sie von der Fächervielfalt profitiert haben. Langhans, der zuvor weitgehend von seinem Vater ausgebildet wurde, belegte an der Bauakademie die Fächer Konstruktion bei Friedrich Becherer und Stadtbaukunst bei Heinrich Gentz. Schinkel wiederum hörte die Vorlesungen zur Perspektive bei Friedrich Gilly, besuchte Statik/Hydrostatik, Mechanik/Hydraulik und Konstruktion und absolvierte den Kurs Bauverzierung. Einige wenige Absolventen (zwei Prozent) haben eine erfolgrei- che Architektenlaufbahn außerhalb Preußens erreicht. Darunter war zum Beispiel der später in Finnland tätige Architekt Johann 22 So wurden für die Auswertung die entspre- 23 Vgl. hierzu die alphabetische Schülerliste chenden Akten aus dem Ministerium der öf- aller 500 Schüler an der Bauakademie (Salge fentlichen Arbeiten (Bestand: Berlin, GStA PK, 2019, Anm. 1). Das Schicksal der anderen I. HA Rep. 93 B) für die einzelnen preußischen Schüler liegt im Dunkel. Dies hat vermutlich Provinzen systematisch durchgesehen. Hier damit zu tun, dass viele Eleven später im Bau- sind für die jeweiligen Provinzen, Städte etc. handwerk tätig waren, für das die Quellenlage die Bauverantwortlichen namentlich aufgeführt. deutlich schlechter ist. Weitere Informationen zur Berufstätigkeit der einzelnen Schüler konnten aus den Subskripti- onslisten einschlägiger Architekturbücher bzw. Bauzeitschriften ermittelt werden, da hier ne- ben dem Namen der Person zumeist auch die Behörde sowie die Tätigkeit vermerkt wurden. 230 CHRISTIANE SALGE Karriere Anzahl Architekt in der preußischen Bauverwaltung 29 in einer gehobenen Position (zum Beispiel Regierungs- und Baurat oder Oberbaudirektor) Architektenlaufbahn außerhalb Preußens 10 Wegebauinspektor 8 Wegebaukondukteur 3 Wasserbauinspektor/-ingenieur 27 Alle Wasserbaukondukteure sind (Deich-, Hafenbauinspektor) auch Wasserbauinspektoren geworden Bauinspektor/ Landbaumeister/ 66 Stadtbaumeister Baukondukteur 39 Feldmesser 13 völlig anderer Berufsweg 12 Karriere unbekannt Ungefähr 300 Personen Abb. 9: Übersicht der Karrieren der Bauakademieschüler 1799/1800–1805/06. Grafik: Christiane Salge Carl Ludwig Engel (1778–1840 24), der ab 1816 in Helsinki viele Bauten gemäß seiner Schulung in der Berliner Formensprache des Klassizismus zur Umsetzung brachte. Engel hatte schon an der Vorgängerinstitution der Bauakademie, der von 1790 bis 1798 an der Kunstakademie existierenden Architektonischen Lehranstalt, Unterricht unter anderem bei Heinrich Gentz erhal- ten und belegte daher an der Bauakademie 1801/02 und 1803/04 neben dem Fach Landbaukunst vor allem eher ingenieurwissen- schaftliche Fächer wie Statik/Hydrostatik, Mechanik/Hydraulik sowie Schleusen-, Brücken-, Hafen- und Wegebau. Ein weite- rer Architekt, der an der Bauakademie wichtige Impulse erhielt, 24 Engel hatte aber schon 1791/92 Zeichen- unterricht an der Kunstakademie in Berlin genommen, war 1794/95 und 1796/97 Schüler an der Architektonischen Lehranstalt in Berlin und studierte 1801/02 und 1803/04 an der Bau- akademie. 231 MATRIKELBÜCHER, → INHALT SCHÜLERTABELLEN UND SEMINARLISTEN war der später als Architekt und Archäologe unter anderem für den bayrischen König Ludwig I. tätige Carl Haller von Hallerstein (1774–1817 25). Dieser hatte nach seiner ersten Ausbildung an der Hohen Karlsschule in Stuttgart mit einem Stipendium der Stadt Nürnberg in Berlin seine entscheidende Prägung durch die Lehrer Friedrich Gilly, Heinrich Gentz und Alois Hirt an der Bauakademie erhalten. 26 Immerhin 20 Prozent der Absolventen der Bauakademie aus den ersten sechs Jahren haben eine mittlere Laufbahn in der Bauakademie eingeschlagen und sind Bau-, Wege- oder Wasserbauinspektoren in der preußischen Bauverwaltung ge- worden. Einen besonders guten Ruf scheint die Bauakademie für ihr Angebot im Bereich der Wasserbaukunst gehabt zu haben. Zum einen studierten auffallend viele Eleven diese Fächer und zum anderen scheinen hier die Berufsaussichten besonders glänzend gewesen zu sein. In den nur sechs Jahren sind aus der Bauakademie allein 27 Wasserbauinspekteure hervorgegangen, die alle in preußischen Diensten tätig waren. Als Beispiel könnte man den ansonsten weitgehend unbekannten Schüler Bernhard Sigismund Franke anführen, der einer der wenigen ist, der vier- einhalb Jahre an der Bauakademie studiert und hier quasi das ganze Lehrprogramm absolviert hat und relativ schnell als preu- ßischer Wasserbauinspektor Beschäftigung fand. Zugleich wird aus dieser Auswertung aber auch deutlich, wie langwierig die Karriereverläufe von Schülern der Bauakademie teilweise waren. Als ein Beispiel sei der in der Forschung nicht weiter bekannte Carl Friedrich Burrucker ausgewählt. 1804 kam er als 29-jähriger Baukondukteur aus Ostpreußen nach Berlin und studierte hier drei Semester vor allem Fächer aus dem Bereich des Wasserbaus. Im Anschluss daran muss er die entsprechende Prüfung am Oberbaudepartement erfolgreich absolviert haben, 25 Klaus Fräßle: Carl Haller von Hallerstein stein zum 200. Todestag, Ausstellungskatalog (1774–1814), maschinenschriftliche Dissertation Nürnberg. Nürnberg 2017, S. 27–35. Er hatte Freiburg i. Br. Freiburg i. Br. 1971. hier folgende Fächer studiert: 1799/1800: Perspektive, Mechanik/Hydraulik, Geschichte 26 Christiane Salge: Hallers Ausbildung zum der Baukunst, Bauverzierung; 1800: Stadtbau- Architekten in Stuttgart und Berlin. In: Berthold kunst; 1800/01: Mechanik/Hydraulik, Strom- Frhr. von Haller, Thomas Schauerte (Hg.): Von und Deichbau, Landbaukunst, Stadtbaukunst, Nürnberg nach Hellas. Carl Haller von Haller- Maschinenlehre. 232 CHRISTIANE SALGE denn 1810 wird er zum Deichbauinspektor in seinem Heimatort Marienwerder ernannt. Von seinem erstmaligen Auftauchen in preußischen Baudiensten 1795 bis zu seinem beruflichen Aufstieg als Bauinspektor im Jahre 1810 vergingen insgesamt 15 Jahre. Dies macht deutlich, dass auch ein Studium an der Bauakademie in Kombination mit einer bestandenen Prüfung in der preußischen Bauverwaltung noch nicht gleichbedeutend mit einer glanzvollen Karriere war, sondern dass für viele der Aufstieg innerhalb der Bauverwaltung ein mühevoller und langer Weg war. Zusammenfassung Die Bauakademie war also nicht nur theoretisch aufgrund ihres Anspruchs und ihres großen Fächerangebots ein Kompromiss zwischen einer traditionell akademischen und einer polytechni- schen Institution. Auch in der Praxis – dies hat die Auswertung gezeigt – wird deutlich, dass hier Architekten, Baubeamte oder Feldmesser gleichermaßen ausgebildet werden konnten und wurden. Aufgrund der jeweiligen Nachfrage haben natürlich bedeutend mehr Architektureleven im Anschluss ein Aus- kommen im Bereich der Bauverwaltung gefunden als im Bereich der Prachtbaukunst. Zudem ist deutlich geworden, dass die Bauakademie sowie ihre Professoren auch über Preußens Grenzen hinweg schon von Beginn an einen Ruf hatte. Denn die Lehranstalt ist ganz gezielt von ‚ausländischen‘ Architekten besucht worden – mit dem Ziel sich im Bereich der Prachtbaukunst oder einer der architektonischen Wissenschaften auszubilden. Bemerkenswert ist die insgesamt hohe Zahl der Studierenden an der Bauakademie, ist doch an den anderen deutschen Kunstakademien die Anzahl der Architektureleven deutlich gerin- ger. Die Auswertung der Schülerverzeichnisse ergab das über- raschende Ergebnis, dass die meisten Berliner Studierenden nur für den kurzen Zeitraum von ein oder zwei Semestern an der Bauakademie den Unterricht besuchten. Hier gibt es deutliche Unterschiede zu anderen Institutionen: So hielten sich an der kurze Zeit später gegründeten Münchner Akademie der Künste die Architektureleven im Durchschnitt zwei bis drei Jahre auf, 233 MATRIKELBÜCHER, → INHALT SCHÜLERTABELLEN UND SEMINARLISTEN und an der privaten Bauschule von Friedrich Weinbrenner sind sogar noch deutlich längere Studienzeiten üblich gewesen. Ein deutliches Ergebnis der Auswertung ist, dass die Bau- akademie in den ersten Jahren ihres Bestehens eine wich- tige Ausbildungsstätte für den Nachwuchs in der preußischen Bauverwaltung gewesen war. Neu ist dabei die Erkenntnis, dass die jungen Bauschüler wohl weiterhin ihre Ausbildung weitge- hend in der Baupraxis erhielten – und nur punktuell zur Vertiefung ihrer Kenntnisse die Bauakademie aufsuchten. Dies bedeutet, dass der eigentlich vorhandene, konsekutiv aufeinander auf- bauende Lehrplan nur von den wenigsten Eleven für eine solide Ausbildung genutzt wurde. Stattdessen besuchten die preußi- schen wie ausländischen angehenden Architekten die Schule vor allem für eine fachliche Spezialisierung im baukünstlerischen wie architekturwissenschaftlichen Bereich. 234 CHRISTINA CLAUSEN CHRISTINA CLAUSEN Malerische Architekturvisionen Bildmediale Strategien der architekturhistorischen Lehre an der Royal Academy in London In der Gründungssatzung der Londoner Royal Academy von 1768 wurde festgehalten, dass ein Architekturprofessor jähr- lich sechs ‚public lectures‘ durchführen sollte, die sich neben den Studierenden an ein breiteres kulturinteressiertes Publikum zu richten hatten. In diesem Beitrag werden die bildmedialen Strategien zur Wissensvermittlung von zwei Architekturlehrern untersucht: John Soane (1753–1837) und Charles Robert Cockerell (1788–1863). Beide bedienten sich während ihrer Vorlesungen zahlreicher und aufwändig hergestellter Architekturdarstellungen, die den Zuhörern sowohl historische und zeitgenössische Bauwerke als auch Theorien über die Entstehung und Entwicklung von Baustilen vor Augen führten. Architekturlehre zwischen Ruinenästhetik und Idealrekonstruktion Die umfangreiche Architektursammlung, die John Soane (1753– 1837) ab 1792 in seinem neuen Londoner Wohnhaus einrichtete und stetig erweiterte, bildete einen der beiden Grundpfeiler seiner objekt- und darstellungsbasierten Architekturlehre. 1 Wie zahlrei- che Gelehrtenkabinette des 18.  Jahrhunderts war auch Soanes 1 Zum Architekturmuseum von Sir John Collection of Sir John Soane. London 1992; Soane vgl. u. a. Peter Thornton, Helen Dorey: Helen Dorey: 12–14 Lincoln’s Inn Fields. In: A Miscellany of Objects from Sir John Soane’s Margaret Richardson, Mary Anne Stevens Museum. Consisting of Paintings, Architectural (Hg.): John Soane Architect. Master of Space Drawings and other Curiosities from the and Light. London 1999, S. 150–173. 235 MALERISCHE ARCHITEKTURVISIONEN → INHALT Sammlung von Beginn an teilweise öffentlich zugänglich, sodass sein Haus an der Nordseite der Lincoln’s Inn Fields gleichsam als Visitenkarte seines architektonischen Schaffens verstanden wer- den kann. Spätestens mit der Erweiterung auf das Nachbarhaus, die ab 1806 im Zuge seiner Ernennung zum Professor an der Royal Academy erfolgte, erlangte die Sammlung den Status eines archi- tekturtheoretischen Programms, das neben den repräsentativen vermehrt auch vermittelnde Funktionen übernahm. 1833 ver- fügte Soane, dass seine gesammelten und kunstvoll arrangierten Objekte unverändert und dauerhaft einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen sollten. 2 Seine Studenten erhielten aller- dings bereits vor dieser Museumsstiftung jeweils am Tag vor und nach seiner Vorlesung an der Royal Academy Zugang zu seinem Haus und konnten die zahlreichen Publikationen, Stichwerke, Gemälde und Modelle als Studienmaterial verwenden. 3 Zu den wertvollsten Objekten seiner Sammlungen gehör- ten Korkmodelle antiker Bauten, die aufgrund hoher Herstellungskosten im 18.  Jahrhundert vor allem fürstlichen Sammlungen vorbehalten waren. 4 Etwa seit den 1770er Jahren wurden sie zunächst in Italien als Souvenirs während der Grand Tour erworben oder durch Kunsthändler vermittelt; später kamen zu den berühmten römischen Modelleuren, wie beispielsweise Augusto Rosa (1738–1784) und Antonio Chichi (1743–1816), neue nordalpine Korkbildhauer hinzu, welche die gestiegene Nachfrage bei geringeren Transportkosten bedienten. 5 2 John Soane: Description of the House and Ausstellungskatalog Kassel, Kassel 22001; Museum on the North Side of Lincoln’s Inn Valentin Kockel: Phelloplastica. Modelli in Fields. The Residence of Sir John Soane with sughero dell‘architettura antica nel XVIII secolo Graphic Illustrations and Incidental nella collezione di Gustavo III di Svezia. Details. London 1835, S. vii. Stockholm 1998. 3 Dorey 1999 (Anm. 1), S. 150. 5 Erik Forssman: Korkmodelle in Deutsch- land. Antikenrezeption und Baukunst um 1800. 4 Zu den Korkmodellen in verschiedenen In: Helmberger, Kockel 1993 (Anm. 4), S. 49–62, europäischen Sammlungen vgl. u. a. Werner hier S. 49f.; Valentin Kockel: Rom über die Al- Helmberger, Valentin Kockel (Hg.): Rom über pen tragen. Korkmodelle antiker Architektur im die Alpen tragen. Fürsten sammeln antike 18. und 19. Jahrhundert. In: Helmberger, Kockel Architektur: Die Aschaffenburger Korkmodelle. 1993 (Anm. 4), S. 11–31, hier S. 19–24. Mit einem Bestandskatalog. Landshut, Ergol- ding 1993; Peter Gercke, Nina Zimmermann- Elseify, Anita Büttner (Hg.): Antike Bauten in Modell und Zeichnung um 1800. 236 CHRISTINA CLAUSEN Komplette Serien antiker Bauten in Kork von Antonio Chichi, die insgesamt aus 36 Modellen bestanden, wurden in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts für die fürstlichen Kunstkammern in St. Petersburg, Kassel und Darmstadt angekauft. 6 Hier wurden sie häufig im Kontext der Antikensammlung prä- sentiert und ergänzten die gelehrte Beschäftigung mit anti- ker Skulptur, Münzen und Gemmen. 7 In Soanes spezialisier- ter Architektursammlung entstanden medienübergreifende Objektnachbarschaften; die Korkmodelle wurden in einen Zusammenhang mit Architekturfragmenten und -abgüssen sowie bildlichen Darstellungen in Malerei, Zeichnung und Druckgrafik gebracht, wodurch die Kontextualisierung und Nutzung von Korkmodellen eine deutliche Neuausrichtung erfuhren. Ihr didak- tischer Anwendungsbereich lag hier in der Vermittlung von archi- tekturhistorischem Wissen. Dieses war aber im Falle Soanes keineswegs von der architektonischen Praxis entkoppelt, son- dern wurde in einem produktiven Geschichtsverständnis für die Gegenwart nutzbar gemacht. Ein ähnlich produktiver Umgang mit der jungen Disziplin der Architekturgeschichte, die auf das Engste mit dem Stilpluralismus in der zeitgenössischen Architektur verknüpft ist, lässt sich auch an anderen Ausbildungsstätten für Architekten im frühen 19.  Jahrhundert ausmachen. 8 So entsprach beispielsweise die von Heinrich Gentz (1766–1811) geplante prominente Aufstellung der Korkmodelle in der Berliner Bauakademie im neuen Königlichen Münzgebäude in vielen Punkten der Präsentation und Verwendung in Soanes ‚Model Room‘ (Abb. 1): 6 Kockel 1993 (Anm. 5), S. 11. 8 Zum Verhältnis von Geschichte und Entwurfspraxis innerhalb der architekturhis- 7 Am Beispiel von Kassel hat Rüdiger Splitter torischen Lehre von Aloys Hirt vgl. Christiane die Aufstellung der Korkmodelle ab 1779 im Salge: Ästhetik versus Wissenschaft. Die südwestlichen Teil des Museum Fridericianum Entwurfsausbildung an der Bauakademie in rekonstruiert. Rüdiger Splitter: Antikengalerie Berlin (um 1800). In: Sabine Ammon, Eva Maria und Antikenzimmer des Museum Fridericianum Froschauer (Hg.): Wissenschaft Entwerfen. in Kassel. In: Alexis Joachimides, Charlotte Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfs- Schreiter, Rüdiger Splitter (Hg.): Auf dem Weg forschung der Architektur. München 2013, zum Museum. Sammlung und Präsentation S. 385–414, hier S. 400–402. antiker Kunst an deutschen Fürstenhöfen des 18. Jahrhunderts. Kassel 2016, S. 165–188, hier S. 174–178. 237 MALERISCHE ARCHITEKTURVISIONEN → INHALT Abb. 1: John Soanes ‚Model Room‘, Lithografie, vor 1835. John Soane: Description of the House and Museum on the North Side of Lincoln’s Inn Fields. The Residence of Sir John Soane with Graphic Illustrations and Incidental Details, London 1835, Tafel XXXVIII „Sämmtliche Säle und Zimmer werden durch, auf Consolen und Tabletten aufgestellte Modelle, passend und zweckmäßig verziert werden, eine Art der Verzierung, welche Nutzen und Schönheit zugleich gewährt, weil man gewiß die Modelle am besten benutzen kann, wenn man sie in die Zimmer vertheilt, und sie dahin stellt, wo sie den darinn gehaltenen Vorlesungen angemessen und brauch- bar sind; und weil dies zugleich das beste Mittel ist, die Zimmer ganz eigenthümlich durch die darinn aufgestellte [sic!] Modelle zu cha- rakterisieren. Die schönen Korkmodelle der antiken Monumente, welche vor einigen Jahren auf der Kunst-Academie ausgestellt waren und den allgemeinen Beyfall des Publikums erhielten, der Tempel der Vesta zu Tivoli, der Tempel der Minerva Medica, der Tempel der Friedensgöttinn, das Pantheon, halb wie es jetzt aus- sieht, und halb nach Herrn Hofrath Hirt’s Angaben restaurirt, der Tempel zu Pästum, der Triumphbogen des Septimus Severus, der 238 CHRISTINA CLAUSEN Janus quadrifrons […] und mehrere andere Schaustücke, welche die Academie besitzt, werden den Zeichensaal, das Hauptzimmer dieser Etage verzieren […].“ 9 Neben den offenen Präsentationsformen, die wie in Soanes ‚Model Room‘ vor allem den Anforderungen einer möglichst allumfassenden Sichtbarkeit der Einzelstücke wie auch einer Vergleichbarkeit untereinander folgten, war zudem die enge Verbindung mit der sprachlichen Unterweisung durch den Architekturlehrer ähnlich. In Berlin wurden die Modelle dauer- haft im Vorlesungssaal aufgestellt, und im Fall von John Soane gibt es Berichte darüber, dass 1810 mehrere Korkmodelle als Anschauungsmaterial zu seiner Vorlesung an der Royal Academy transportiert wurden. 10 Heinrich Gentz erwähnt auch ihren Reiz als ästhetisch anspre- chende Objekte, wodurch sie einerseits die Akademieräume schmückten und sich andererseits ihre didaktische Qualität erhöhte. Die porösen und dadurch sehr differenzierten Oberflächen der Korkmodelle eignen sich in idealer Weise als Vorlagenmaterial für die Unterrichtspraxis des Abzeichnens, sodass sie im Zeichensaal aufgestellt wurden. Aufgrund der medialen Eigenschaften der Modelle eröffnen sich darüber hin- aus Möglichkeiten der Sichtbarmachung von konstruktiven oder stilistischen Besonderheiten, die angesichts des tatsäch- lichen Bauwerks oder zweidimensionaler Wiedergaben nicht in gleicher Weise abstrahiert werden könnten. So äußert sich der Anwalt und Privatgelehrte Ignaz Ferdinand Arnold (1774–1812) in einer Abhandlung zur Korkbildhauerei von 1804 zu potentiellen Verwendungsmöglichkeiten der Modelle: „Akademien, Gimnasien und sonstige Bildungsanstalten können sich Kabinette von Roms erhabenen Trümmern anlegen, wel- che beim Studium der Klassiker und der Baukunst vortreffliche 9 Heinrich Gentz: Beschreibung des neuen 10 David Watkin: Sir John Soane. Enligh- königlichen Münzgebäudes. In: Sammlung tenment Thought and the Royal Academy von Aufsätzen und Nachrichten die Baukunst Lectures. Cambridge 1996, S. 407; vgl. John betreffend 1 (1800), S. 21f. Ausschnitt ebenfalls Wilton-Ely: The Architectural Models of Sir zitiert von: Kockel 1993 (Anm. 5), S. 26. John Soane. A Catalogue. In: Architectural History 12 (1969), S. 5–38, 81–101, hier S. 11. 239 MALERISCHE ARCHITEKTURVISIONEN → INHALT Hülfsquellen abgeben, die Ideen der alten Architektur werden so sehr faßlich, daß man der Reise zu den Originalen selbst über- hoben ist, die man nicht deutlicher übersehen kann, als in diesen der Natur abgestohlnen Kopien.“ 11 In diesem zugegebenermaßen zugespitzten Modelllob sind diese nicht bloß stellvertretende Wiedergaben von Bauwerken, sondern erlauben darüber hinaus einen anderen Modus der Wahrnehmung, beispielsweise durch ihre Überschaubarkeit und die vereinfachte Vergleichbarkeit der Bauten untereinander. Diese instruktive und didaktische Qualität von Architekturdarstellungen, die in gewissen Aspekten sogar das Erkenntnispotential der Betrachtung des tat- sächlichen Bauwerkes übersteigt, ist vor allem einer Unterkategorie von Modellen zu eigen: den Rekonstruktionsmodellen. 12 Die sug- gestiven Darstellungen von Jean-Pierre (1752–1829) und sei- nem Sohn François Fouquet (1787–1872) aus feinkörnigem Gips stellen in ihrer Präsentation eines imaginierten Idealzustands den Gegenpart zu der verwitterten Oberflächenwirkung der Korkmodelle dar. 13 Soane ergänzte seine Sammlung in den 1830er Jahren mit diesen Rekonstruktionsmodellen der Fouquets und stellte sie den Ruinendarstellungen zur Seite. 14 Während Giovanni Altieri (ca. 1767–1790 in Rom belegt) im Material Kork vor allem die Bruchstellen im Mauerwerk herausmodellierte, um das erha- bene Alter und den malerischen Ruinencharakter zu betonen (Abb.  2), nähern sich die glatten Gipsmodelle eher dem Duktus einer technischen Zeichnung (Abb.  3). Auch aufgrund ihrer wei- ßen Farbigkeit, die keine Baumaterialien oder gar historische Patina simuliert, bleiben sie in gewisser Hinsicht thesenhafter und weniger körperlich, entfalten aber gleichzeitig eine große Überzeugungskraft hinsichtlich der korrekten Wiedergabe eines früheren Bauzustandes. Sowohl das ausgewählte Kork- als auch das Gipsmodell zeigen den sogenannten Vestatempel in Tivoli; ein 11 Ignaz Ferdinand Arnold: Felloplastik oder 13 Geneviève Cuisset: Jean Pierre et François die Kunst, Modelle von antiken Gebäuden in Fouquet. Artistes moduleurs. In: Gazette des Kork darzustellen. Gotha 1804, S. VIff. Beaux-Arts 115 (1990), S. 227–240, hier S. 232f. 12 Zu den verschiedenen Modelltypen vgl. 14 Kockel 1993 (Anm. 5), S. 26. Ludwig Heinrich Heydenreich: Architektur- modell. In: Otto Schmitt (Hg.): Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte. Stuttgart 1933, S. 918–940, hier S. 932. 240 CHRISTINA CLAUSEN Abb. 2: Giovanni Altieri, Vestatempel in Tivoli, Korkmodell, 1770er Jahre. Korkmodell, 39,5x52,3x51,3 cm, Sir John Soane’s Museum, London, Inv.-Nr. MR2, Foto: © Sir John Soane’s Museum, London Bauwerk, das Soane über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder beschäftigte. Der Rundtempel war nicht nur in Form von Modellen, sondern auch in Abgüssen und zahlreichen grafischen Darstellungen und Publikationen in seiner Sammlung vertreten. 15 Im Rahmen von Soanes Antikenverständnis wie auch für sein eigenes architektonisches Schaffen kommt dem Vestatempel ein ikonischer Status zu. 15 Margaret Richardson: John Soane and the Temple of Vesta at Tivoli. In: Architectural History 46 (2003), S. 127–146. 241 MALERISCHE ARCHITEKTURVISIONEN → INHALT Abb. 3: François Fouquet, Vestatempel in Tivoli, Gipsmodell, 1800–1830, 27x19,4x19,4 cm, Sir John Soane’s Museum, London, Inv.-Nr. MR13, Foto: © Sir John Soane’s Museum, London Lecture Drawings: Überzeugungsarbeit in der Architekturzeichnung In Anbetracht der vielfältigen Sammlungsstücke, die den Vestatempel in verschiedenen Perspektiven, einzelnen Details und möglichen früheren Bauzuständen darstellen, überrascht es nicht, dass er auch in Soanes Vorlesungen, die er zwischen 1809 und 1836 an der Royal Academy hielt, mehrfach ausführlich zur Sprache kam. In seiner zweiten Academy Lecture konstatierte er zum Beispiel, dass die Tholos „although of very small dimensions 242 CHRISTINA CLAUSEN […] is perhaps equally interesting from the singularity and char- ming effect of most of its parts, particularly those of the capital, which is of very singular fancy and invention. […] Yet the uncom- mon taste, lightness and elegance of every part of this beautiful composition has never been surpassed, nor can be sufficiently admired.“ 16 Dieser idealisierenden Betrachtung wurde auch auf der Ebene der bildmedialen Vermittlung während seiner Vorlesungen Rechnung getragen. Abgesehen von den eigenen Sammlungsstücken, die als Anschauungsmaterial seine Vorträge begleiteten, wur- den zahlreiche aufwändige Architekturzeichnungen allein zur bildlichen Unterstützung seiner Academy Lectures hergestellt. Diese waren an den Wänden des Vorlesungssaals angebracht oder wurden für das Auditorium sichtbar hochgehalten wäh- rend Soane seine architekturgeschichtlichen Überlegungen vor- trug. Außerdem stellte Soane die Zeichnungen am Tag vor und nach den Vorlesungen in seinem Haus aus. 17 Die teilweise sehr großformatigen und nahezu immer lavierten Lecture Drawings – insgesamt umfassen sie mehr als tausend Blätter – entstanden zwischen 1806 und 1815; zeitweise war die gesamte Werkstatt Soanes mit ihrer Herstellung beschäftigt. 18 Hierbei konnten Soanes Mitarbeiter aus dem enormen Fundus seiner Sammlung schöpfen und verwendeten die grafischen Werke als Vorlagen. 19 Wie in seiner Modellsammlung scheute Soane sich auch in seinen Vorlesungen nicht, in den verwendeten Darstellungen einen idealisierten Ursprungszustand zu konstruieren. Eine Bildpraxis, die eine schöpferisch-gestalterische Perspektive des Architekten auf die Architekturgeschichte impliziert. Mit der malerischen Inszenierung seiner Ansichten ging er sogar weiter 16 John Soane: Lecture II. In: Watkin 1996 19 John Wilton-Ely thematisiert beispielsweise (Anm. 10), S. 512. Soanes Verwendung von Giovanni Battista Piranesis (1720–1778) spektakulären Bilder- 17 Ebd., S. 396–408. findungen für die während der Vorlesungen gezeigten Lehrmittel. Ihm zufolge kann auch 18 Ebd., S. 397. die theatralische Inszenierung seiner Samm- lung auf Piranesis „eclectic compositions“ zurückgeführt werden. John Wilton-Ely: Pira- nesi, Paestum & Soane. Ausstellungskatalog London, München 2013, S. 92–97. 243 MALERISCHE ARCHITEKTURVISIONEN → INHALT als die Fouquets, die in ihren Rekonstruktionen eine Künstlichkeit sowie Zeit- und Ortsenthobenheit suggerierten, während Soane authentische Lichteffekte und eine Oberflächenwirkung simu- lierte (Abb.  4). 20 Dies kann beim Vestatempel exemplarisch mit seiner Wahrnehmung und Interpretation des Baues begründet werden, denn er betonte mehrfach „the variety of effect of light and shadow produced from [the Temple’s, MR] circular form.“ 21 Das Licht- und Schattenspiel auf den kannelierten Säulen und dem Gebälk, aber vor allem auf der Cellawand im Inneren des Säulenkranzes, wird in der Zeichnung in Szene gesetzt. Soane nutzte die malerische Inszenierung als visuelle Argumentation, um seine Deutung des Tempels zu veranschaulichen. Im Unterschied zum Gipsmodell verzichtete er allerdings auf die Ergänzung einer Kuppel oder die Rekonstruktion des Skulpturenschmucks; ver- mutlich, um möglichst nah am archäologischen Befund zu blei- ben und die formale Klarheit der architektonischen Struktur zu betonen. Aus diesem Grund brachte er möglicherweise auch den Girlandenfries nicht in die Zeichnung ein, sodass die glat- ten Zylinder von Sockel und Fries den plastischen Säulenkranz als Hauptakteur einrahmen. Außerdem stand hier vor allem die Gegenüberstellung mit einer weiteren Simulation im Vordergrund (Abb.  5), die rechteckige Öffnungen in der Sockelzone aufwies, um die negativen Auswirkungen eines durchbrochenen Sockels vorzuführen und von dessen Verwendung abzuraten. Diese Ablehnung von Fenster- oder Türöffnungen im Sockel betonte er nachdrücklich in seiner zehnten Academy Lecture von 1815, wäh- rend der beide Darstellungen des Vestatempels vergleichend vor- geführt wurden: „I wish to impress this as forcibly as possible on the minds of the young students, and I shall therefore endeavour 20 Vermutlich stammt diese Zeichnung nicht 21 Sir John Soane’s Museum, London, von Soanes Hand, ist aber mit Sicherheit in Inventarnr. Soane Case 152/L1, zitiert nach: direkter Anleitung durch ihn entstanden, da sie Richardson 2003 (Anm. 15), S. 138. seine Argumentation unterstützen sollte. Die handwerkliche Autorschaft der Lecture Drawings ist in den meisten Fällen nicht eindeutig bestimmbar; da Soane konzeptuell federführend war, wird im Folgenden die Rede von Soanes Zeichnungen sein. 244 CHRISTINA CLAUSEN Abb. 4: John Soane (Werkstatt), Vestatempel in Tivoli, Lecture Drawing, Aquarellierte Bleistift- zeichnung auf Papier, 1806–1815. Sir John Soane’s Museum, London, Inv.-Nr. 19/7/5, Foto: © Sir John Soane’s Museum/Ardon Bar-Hama, London to render the impropriety of the practice more obvious by con- trasting the temple at Tivoli, as it is, with a drawing of the same beautiful edifice with windows in the basement. This example will be sufficient: the slightest view of the two drawings will show how completely the perforations in the basement destroy the charac- ter, the elegance, and simplicity of the original work […].“ 22 Die Parallelisierung von sprachlicher Unterweisung und bild- licher Argumentation zeigt einmal mehr, die zentrale Ver- mittlungsfunktion der Architekturdarstellungen, da die angeb- liche Zerstörung von Charakter und Eleganz von Soane nicht verbal begründet wird, sondern ihre Veranschaulichung allein auf der Ebene des Bildes erfolgt. 22 John Soane: Lecture X. In: Watkin 1996 (Anm. 10), S. 634; vgl. ebenfalls John Soane: Lecture VI. In: Watkin 1996 (Anm. 10), S. 575. 245 MALERISCHE ARCHITEKTURVISIONEN → INHALT Abb. 5: John Soane (Werkstatt), Vestatempel in Tivoli mit durchbrochenem Sockel, Lecture Drawing, Aquarellierte Bleistiftzeichnung auf Papier, 1806–1815. Sir John Soane’s Museum, Lon- don, Inv.-Nr. 19/7/6, Foto: © Sir John Soane’s Museum/Ardon Bar-Hama, London Wie mithilfe dieses Beispiels gezeigt werden konnte, lagen den inszenatorischen Entscheidungen innerhalb der Lecture Drawings genau definierte ästhetische Vorstellungen über das jeweilige Bauwerk zugrunde, die Soane visuell zu vermit- teln suchte. Eine Vorgehensweise, die gleichermaßen auf his- torische wie zeitgenössische Architektur angewendet wurde und auch die Präsentation und Kontextualisierung von Soanes eigenen Entwürfen innerhalb der Vorlesungen prägte. Sein Sendungsbewusstsein und die Absicht seine eigenen Bauten in die Architekturgeschichtsschreibung einzugliedern, kamen in den Academy Lectures, die neben den Studenten auch vom Londoner Fachpublikum und an der Materie interessierten Laien besucht wurden, immer wieder zum Ausdruck. So beschränkte sich die Vermittlungsfunktion des Vestatempels nicht auf die Erläuterung der Architekturgeschichte, denn der Rundtempel 246 CHRISTINA CLAUSEN hatte auch Eingang in Soanes Entwürfe gefunden. 23 In seinen Plänen für den Außenbau der Bank of England hatte Soane bereits in den 1790er Jahren die korinthische Ordnung des Vestatempels angewandt. 24 Das flache Gebälk, das Weglassen der Plinthen sowie die Proportionierung von Säulendurchmesser und Interkolumnium stellten direkte Übernahmen der stilisti- schen Besonderheiten des antiken Tempels dar, wurden jedoch von einigen Kritikern nicht als Anleihen des Vestatempels aner- kannt und als wenig elegante Lösungen abgelehnt. 25 Soanes Reaktion auf diese Kritik äußerte sich darin, dass er nunmehr das Formenrepertoire aus Tivoli noch expliziter in seinen Entwürfen verarbeitete. So integrierte er zwischen 1804 und 1805 eine unverkennbare Formenübernahme an der nordwestlichen Ecke der Bank of England, an der sogenannten Tivoli-Corner. 26 Vor diesem Hintergrund könnten Soanes wiederholte Analysen der Architektur des Rundtempels als auch die Erläuterungen zu seinen eigenen Entwürfen für die Bank of England innerhalb sei- ner Vorlesungen als Versuch oder Strategie betrachtet werden, die rufschädigende Kritik öffentlichkeitswirksam zu parieren. Komparatistische Architekturdarstellungen In der dreijährigen Vorbereitungsphase seiner Academy Lectures ab 1806 befasste Soane sich unter anderem sehr ausführlich mit Johann Bernhard Fischer von Erlachs (1656–1723) Entwurff einer historischen Architectur und übersetzte bereits 1804 Julien-David Le Roys (1724–1803) Les ruines des plus beaux monuments de la Grèce. 27 Beide Werke gehören zu den frühesten architektur- historischen Abhandlungen, die sich komparatistisch angeleg- ten Bildtafeln bedienten um stilbildende Zusammenhänge oder 23 Richardson 2003 (Anm. 15), S. 136. 26 Schumann-Bacia 1990 (Anm. 24), S. 240–250. 24 Eva-Maria Schumann-Bacia: John Soane und die Bank of England 1788 bis 1833. Hildes- 27 Watkin 1996 (Anm. 10), S. 70. Die Tatsache, heim, Zürich, New York 1990, S. 101–109. dass Soane bereits vor seiner Ernennung zum Professor mit den ersten Recherchen für mög- 25 Richardson 2003 (Anm. 15), S. 137f. liche zukünftige Vorlesungen begann, wertet Watkin als Zeichen für die große Bedeutung, die Soane diesem Posten beimaß, dessen Erreichen er ehrgeizig verfolgte. 247 MALERISCHE ARCHITEKTURVISIONEN → INHALT spezifische Formgenesen in Ergänzung zum Text darzustellen. 28 Als ein bild- und medienpolitisch äußerst versierter Architekt trans- formierte Soane diese Darstellungsformen in eine eigene hoch- wirksame Bildsprache. 29 Weniger eine objektive Vergleichbarkeit als vielmehr die Visualisierung einer theoretischen Überzeugung steht in zahlreichen Lecture Drawings im Vordergrund. Eine in Blau- und Ockertönen kolorierte Aquarellzeichnung von ineinander geschachtelten Kuppelbauten zeigt exemplarisch den hohen ästhe- tischen Anspruch und den gestalterischen Erfindungsreichtum der Architekturdarstellungen (Abb. 6). 30 Mittig vor dem übermäch- tig wirkenden, bläulich verschatteten Aufriss des Petersdoms im Hintergrund öffnet sich ein Längsschnitt durch das Pantheon, des- sen Innenraum in einem kontrastierenden hellen Ocker wiederge- geben wird. Darin wiederum als Aufriss mit blau getönter Kuppel, deren Laterne beinahe das Opaion des Pantheons berührt, ist die Radcliffe Library in Oxford von James Gibbs eingefügt. Den inne- ren Kern bildet der in einem kräftigen Gelb strahlende Querschnitt der Rotunde in der Bank of England von Soane selbst. Innerhalb der Vorlesung wurde die Zeichnung mehrfach gezeigt und diente wohl unter anderem der Veranschaulichung von Soanes Analyse des Petersdoms: „With all these happy combinations the church of St. Peter has its defects. On first entering this mighty fabric, it appears smaller than it really is. Many have considered this as a great defect whilst others have looked upon it as a positive beauty produced by harmony of its parts.“ 31 Gerade in Bezug auf diesen Widerspruch zwischen tatsäch- licher und wahrnehmbarer Größe lobte er mehrfach das Pantheon, dessen erhabene Wirkung den meisten neuzeitlichen 28 Robin Middleton: Introduction. In: Joseph Gandy. An Architectural Visionary in Julien-David Le Roy: The Ruins of the Most Georgian England. New York 2006, S. 132–167. Beautiful Monuments of Greece. Übersetzt von David Britt. Los Angeles 2004, S. 94–97. 30 Cesare Piva bringt die komparatistische Zusammenstellung und Auswahl der dargestell- 29 Soanes Bildkompetenz schlug sich ten Bauwerke mit Jean-Nicolas-Louis Durands beispielsweise in der jahrzehntelangen Zu- Recueil et parallèle des édifices in Verbindung. sammenarbeit mit Joseph Gandy (1771–1843) Cesare Piva: John Soane. La problematica nieder, der zwischen 1798 und 1801 in Soanes della frammentazione. Florenz 2007, S. 59–61. Werkstatt angestellt war. Seine Zeichnungen wurden häufig unter Soanes Name in der Royal 31 John Soane: Lecture V. In: Watkin 1996 Academy ausgestellt. Auch nach 1801 war er (Anm. 10), S. 558–559. regelmäßig für Soane tätig. Brian Lukacher: 248 CHRISTINA CLAUSEN Abb. 6: John Soane (Werkstatt), Komparatistische Darstellung von Kuppelbauten, Lecture Dra- wing, Aquarellierte Bleistiftzeichnung auf Papier, 1806–1815. Sir John Soane’s Museum, London, Inv.-Nr. 23/2/2, Foto: © Sir John Soane’s Museum, London 249 MALERISCHE ARCHITEKTURVISIONEN → INHALT Bauten überlegen sei. 32 Zu Bauten von James Gibbs, dessen Bibliotheksbau wie der kritisierte Petersdom in Blau gehalten ist, äußerte er sich in seinen Vorlesungen hingegen abfällig: „Gibbs seems to have no fixed principles. If he occasionally rose to the grandeur of the antique, it is rather the effect of accident. For want of fixed principles, he sometimes mistook confusion for variety. Thus in the new church in the Strand he placed order upon order and crowded together so many small parts without sense that the mind is fatigued and embarrassed by their smallness, whilst the number of them prevents the eye from resting upon any of them. Thus we see that even variety of parts may be carried so far as to be disgusting instead of pleasing.“ 33 Mit dieser vergleichenden Architekturdarstellung spielt John Soane die Schwächen und Stärken der dargestellten Bauwerke gegeneinander aus und setzt den eigenen Entwurf sogar in die Nachfolge des Pantheons. Mehr noch: Mit der durch das Bild gestützten provokativen Argumentation untermalte der Architekt seine ausführliche Kritik an historischen wie zeitgenössischen Bauwerken. Doch bereits nach wenigen Vorlesungen führte diese offene Polemik 1810 zu einem Eklat und zwang ihn nach mehrjäh- rigen Diskussionen mit dem Direktorium der Royal Academy, die Kritik an Zeitgenossen deutlich abzumildern. 34 Allerdings ist zu betonen, dass er auch mit seinen eigenen Bauten teilweise streng ins Gericht ging und das Benennen von planerischen und ästheti- schen Fehlern damit begründete, dass er vor allem den Geschmack und die Kritikfähigkeit seines Publikums schulen wollte. Insgesamt kann festgestellt werden, dass es nicht sein vorran- giges Ziel war, die Bauwerke in eine chronologische oder stilisti- sche Narration einzuordnen, vielmehr präsentierte er sie als pro- duktive Ideengeber und als Ausgangspunkt zur Schärfung des Qualitätsurteils seines Publikums. 32 Zur mehrfachen Erwähnung des Pantheons 34 Watkin 1996 (Anm. 10), S. 72–97; David innerhalb der Academy Lectures unter ver- Watkin: Soane. The Royal Academician and schiedenen Aspekten vgl. Piva 2007 (Anm. 30), the Public Realm. In: Richardson, Stevens 1999 S. 31–33. (Anm. 1), S. 40. 33 John Soane: Lecture IX. In: Watkin 1996 (Anm. 10), S. 610. 250 CHRISTINA CLAUSEN Eine solche vor allem geschmacksbildende und polemische Verwendung von historischen Bauwerken prägte weit weni- ger die Lehre von Charles Robert Cockerell (1788–1863). Seine Herangehensweise an die Architekturgeschichte hatte einen stärker objektivierenden Zug. Allerdings maß er der didakti- schen Überzeugungskraft von Bildern ebenso viel Bedeutung zu wie John Soane, dessen Vorlesungen er als junger Mann gehört hatte. Seit 1839 war Cockerell Professor an der Royal Academy und hielt seine architekturhistorischen Vorlesungen in den Jahren von 1841 bis 1856. 35 Mehr als 400 Zeichnungen, die eigens zu diesem Anlass angefertigt wurden, begleiteten seine Ausführungen. 36 Die Öffentlichkeitswirksamkeit seines Einsatzes von Bildmedien kann durch die ausführlichen Berichte in zeit- genössischen Zeitschriften belegt werden, die regelmäßig über seine Academy Lectures berichteten: „Such a display of illus- trative drawings, so laboriously compiled, as were exhibited by the learned lecturer, it has never before been our good fortune to see brought together; and without these, or some more ade- quate representation of them than mere description, the spi- rit or essence of the lecture is greatly weakened, and in some instances lost. Two large sheets, or rather assemblage of sheets, were hung up, shewing in comparative juxta-position most of the famous structures of antiquity, the one in elevation, the other in section, and over these the eye could wander and the mind could dwell with marvellings and delight that no words can express.“ 37 Als seine wohl berühmteste Ansicht, die eng mit seiner Lehrtätigkeit verknüpft ist, gilt die großformatige und höchst detailreiche Zeichnung, die 1849 unter dem Titel The Professor’s Dream in der Royal Academy ausgestellt wurde. 38 Auf horizontal 35 David Watkin: The Life and Work of C.R. 38 Anne Bordeleau: ‚The Professor’s Dream‘. Cockerell. London 1974, S. 105f. Cockerell’s „Hypnerotomachia Architectura?“. In: Architectural History 52 (2009), S. 117–145; 36 Ebd., S. 107. Anne Bordeleau: Charles Robert Cockerell. An Architect in Time. Reflections around Anachro- 37 o.A.: Professor Cockerell’s Lectures on nistic Drawings. Farnham 2014, S. 11–42. Architecture at the Royal Academy. In: The Builder 1 (1843), S. 27. In Ausschnitten ebenfalls zitiert von: Watkin 1974 (Anm. 35), S. 107. 251 MALERISCHE ARCHITEKTURVISIONEN → INHALT übereinanderliegenden Ebenen zeigt sie mehr als hundert his- torische Bauwerke von der ägyptischen Antike bis in Cockerells Gegenwart. Die Bauten sind dabei weder perspektivisch rea- listisch noch als rein lineare Aufrisszeichnung angelegt, son- dern erscheinen linear und malerisch, körperlich und diaphan zugleich. Dieser Ambivalenz in der stilistischen Erscheinung entspricht auch der Status zwischen Lehrmittel und repräsenta- tivem Programmbild. Die Zeichnung fungierte nicht als eindeutig ablesbarer Zeitstrahl oder als Visualisierung einer dogmatischen Stilabfolge, dennoch ist die Zusammenstellung der Bauwerke nicht willkürlich, denn während die Architektur im unteren Bereich vor allem Dauerhaftigkeit und Standfestigkeit suggeriert, wird sie nach oben immer filigraner. Gemeinsam mit der Veränderung der Form wandeln sich auch die Bauaufgaben, womit jedoch keine Hierarchisierung ausgedrückt ist, sondern die unterschiedli- chen formalen Anforderungen von zum Beispiel Stadttoren und Kathedraltürmen unterstrichen werden. Die Gesamtkomposition wird dann schließlich von zwei beinahe transzendent leuchten- den Pyramiden als architektonische Ikonen bekrönt. The Professor’s Dream geht zurück auf eine ähnliche Darstellung, die leider nicht erhalten ist, aber noch direkter mit Cockerells Vorlesungen verbunden war. 39 Diese sogenannte drop-scene hing während der gesamten Vortragszeit gleichsam als Synthese der angesprochenen Inhalte an einer Wand des Saals. Im Unterschied zu The Professor’s Dream waren die 63 Bauwerke dort nicht auf mehreren Ebenen übereinander, sondern auf gleicher Höhe auf einem gemeinsamen Untergrund aufgestellt, sodass die Maße der Gebäude auf den ersten Blick vergleich- bar waren. Unterhalb der drop-scene war ein Tisch mit einer Zeitleiste positioniert, auf der die Bauwerke chronologisch in his- torische Rahmendaten eingeordnet waren. Dabei entsprach es nicht Cockerells Verständnis von Architekturgeschichte, eine Hierarchie der Stile zu propagieren. In einer Zeichnung, die wahrscheinlich ebenfalls als Lehrmittel während seiner Vorlesungen verwendet wurde und heute in der 39 Ebd., S. 21f. 252 CHRISTINA CLAUSEN Berliner Kunstbibliothek aufbewahrt wird, machte Cockerell bei- spielsweise die Formassoziation von internationalen gotischen Sakralbauten mit der St. Paul’s Cathedral zum Bildgegenstand (Abb. 7). Flankiert wird die mittig positionierte St. Paul’s Cathedral vom Wiener Stephansdom und dem Straßburger Münster mit ihren unvollendet gebliebenen Türmen, die sich gleichsam achsensym- metrisch in die von der Pyramide akzentuierte Dreieckskomposition einfügen. 40 Zwei hochgotische Bauwerke staffeln sich hinter dem zentralen Turm der St. Paul’s Cathedral: der Turm der Kathedrale von Mecheln sowie die beiden Türme des Kölner Doms. Hier präsentiert Cockerell demnach zwei Höhepunkte mittelalterlicher Baukunst, die allerdings zur Entstehungszeit des Blattes um 1840 nur in über- lieferten Fassadenrissen und imaginierten Vollendungsplänen existierten. In der Architekturlehre können diese unterschiedlichen Stadien der Ausführung jedoch vernachlässigt werden, um in der Zeichnung idealtypischen architektonischen Lösungen nachzu- gehen. Dieses Verfahren verdichtet sich in der Darstellung der St. Paul’s Cathedral, die sich, obwohl alle Bauwerke in ähnlichen Beige- und Brauntönen laviert wurden, deutlich von den übrigen Sakralbauten abhebt. In dieser Kathedrale, um die sich die übri- gen zu gruppieren scheinen, bringt er nicht einen vergangenen, gegenwärtigen oder projektierten Bauzustand zur Anschauung, sondern legt mehrere Zeitschichten übereinander. Cockerell ver- eint hier den 1561 eingestürzten Vierungsturm mit der erst in den 1620er Jahren angefügten Säulenhalle von Inigo Jones, die unge- fähr 40 Jahre später wiederum durch einen Brand verloren ging. Hierin liegt eine genuine Qualität von Architekturdarstellungen, die gleichermaßen den grafischen Künsten, der Malerei oder dem Modellbau zu eigen ist, denn sie ermöglichen eine lebendige und auch auf der Vermittlungsebene ästhetisch anspruchsvolle Architekturgeschichte, die sich nicht allein auf die Untersuchung des Befunds stützt, sondern gerade durch den bildmedialen Transformationsprozess beweglich bleibt. 40 Horst Bredekamp, Matthias Bruhn, Gab- riele Werner: Editorial. In: Bildwelten des Wis- sens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 7 (2009), H. 1, S. 7f. 253 MALERISCHE ARCHITEKTURVISIONEN → INHALT Abb.7: Charles Robert Cockerell, Komparatistische Darstellung von Sakralbauten, Lecture Drawing, Feder in Grau über Graphit, Braun laviert auf Papier, um 1840, 34,7x44,5 cm. Kunstbiblio- thek, Berlin, Foto: © Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin Schlussbemerkungen In einem unveröffentlichten Text von 1812 imaginiert John Soane sein Haus als zukünftige Ruine und schreibt ihm die Aufgabe zu, der Nachwelt Auskunft über seine künstlerischen Ideale geben zu können; die Sammlung solle „his opinions on the works of all ages“ ausdrücken und eine „discussion on his favourite art“ auslösen. 41 Unter anderem aus diesem Zitat schließt der Architekturhistoriker David Watkin: „Soane saw his house as a kind of physical embodiment of his Royal Academy lectures“ 42 – bestätigen 41 John Soane: Crude Hints towards an Histo- 42 Ebd. ry of my House in L[incoln’s] I[nn] Fields, 1812, Sir John Soane’s Museum, London, Inv.-Nr. SM AL Soane Case 31, zitiert nach: Watkin 1996 (Anm. 10), S. 82. 254 CHRISTINA CLAUSEN lässt sich dies durch die vielfachen Verbindungen von Samm- lungsstücken und Lehrmaterialien im Falle Soanes. Die Objekte sind Spiegel seiner Selbstwahrnehmung als Architekt und kön- nen als Materialisierung seines Architekturwissens verstanden werden. Ähnlich verhält es sich mit den Architekturassemblagen von Cockerell, die ebenfalls Synthesen seines Geschichts- und Stilverständnisses darstellen. Was in Soanes Architekturkosmos vor allem mittels epistemischer Objektarrangements erzeugt wird, erreicht Cockerell durch die klug komponierte Zu- sammenstellung von Architekturen in einem Bild. Während Soanes Vorlesungen durch seine Sammlung verkörpert sind, spricht die Architekturhistorikerin Anne Bordeleau von Cockerells „paper museum“, 43 also von Lecture Drawings, in denen gleich- sam das Wissen eines Architekturmuseums enthalten sei. In beiden Fällen sind die enorme Wirksamkeit von Modellen und Zeichnungen aufgrund der körperlichen Vergegenwärtigung der dargestellten Bauwerke sowie die damit einhergehende ästhetische Überwältigung des Publikums nicht zu unterschät- zen. Cockerells drop-scenes wurden von der Forschung häufig auf die Ablesbarkeit der Höhenverhältnisse der dargestellten Bauwerke reduziert und auch wegen der formalen Annäherung an Fassadenrisse als diagrammatisch beschrieben.44 In ihrer Komposition, Farbgebung und auch in der inhaltlichen Dimension besteht jedoch eine Nähe zur malerischen Tradition, die bereits im 18. und frühen 19.  Jahrhundert das Sujet der historischen Architektur wiederbelebt hatte, ob als pittoreske Ruine oder ide- alisierende Rekonstruktion. 43 Bordeleau 2014 (Anm. 38), S. 21. 44 Zur Diagrammatik in der Architektur- geschichte vgl. Dietrich Boschung, Julian Jachmann (Hg.): Diagrammatik der Architektur. München 2013; Wolfgang Cortjaens, Karsten Heck (Hg.): Stil-Linien diagrammatischer Kunstgeschichte. Berlin, München 2014. 255 MALERISCHE ARCHITEKTURVISIONEN → INHALT 256 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE Visualisierung in der Architekturlehre Was ist Architekturvisualisierung? Welche Ziele werden damit verfolgt, und welche Kompetenzen sind dafür erforderlich? Der Beitrag stellt dar, wie Catherine Toulouse und Dominik Lengyel dieses Fach und diese Fähigkeit in der universitären Lehre über mehr als ein Jahrzehnt verfolgen und dafür ein Curriculum ent- wickelt haben, das die Studierenden befähigt, architektoni- sche Ideen, seien es Entwürfe, Analysen oder archäologische Hypothesen mit Mitteln der Abstraktion in Bilder zu übersetzen. Hinzu kommen zahlreiche Forschungsprojekte, die gemeinsam mit externen Partnern entwickelt wurden und die zeigen, wie sich Unschärfe im Wissen der Archäologie, der Historischen Bauforschung oder der Kunstgeschichte anschaulich visuell ver- mitteln lässt. Visualisierung ist die bildliche Vermittlung von Inhalten. Ziel in der Architektenausbildung ist es, die notwendigen gestalterischen und technischen Fähigkeiten zu lehren, um einen architektonischen Ausdruck als Bild wiedergeben zu können. 1 Die Kompetenzen zur Architekturvisualisierung liegen in den sich gegenseitig über- lagernden Bereichen ‚Gestaltung‘, ‚Methoden‘ und ‚Techniken‘. Letztere – also die sachgerechte Bedienung der verwendeten Werkzeuge – spielen in der Architektur nur insoweit eine Rolle, als dass sie die Methoden – also die theoretischen Überlegungen, auf welche Weise ein bestimmter Sachverhalt am besten wieder- gegeben werden kann – direkt unterstützen, während Gestaltung neben der Anwendung von Methoden und Techniken vor allem 1 Dominik Lengyel lehrt seit 2006 – als Inha- von Unschärfe im Wissen von Archäologie, His- ber des Lehrstuhls Architektur und Visualisie- torischer Bauforschung und Kunstgeschichte rung an der BTU Cottbus-Senftenberg mit dem unter dem Begriff „Darstellung von Unschärfe“. Forschungsschwerpunkt Visuelle Vermittlung 257 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT eine intellektuelle Sensibilität voraussetzt, die mit der Erkenntnis beginnt, dass bereits jede gezeichnete Linie einer formgebenden Absicht entspringen muss. Mit diesem Anspruch werden unsere Studierenden konsequent konfrontiert. Dieser Aspekt ist über- dies der komplexeste sowohl in der Herstellung als auch in der Vermittlung der Kompetenz zur Visualisierung und damit derje- nige, der den größten Bedarf an personeller Interaktion, gemeint ist die projektbegleitende Dialogform zwischen Lehrenden und Lernenden, erfordert. Technik und Methoden dagegen sind erlern- bar – Techniken sogar ohne individuelle Relfexion – auch ohne unmittelbaren Austausch mit Lehrenden, also in Onlinekursen oder mithilfe von Online-Tutorien. Wahrnehmung Die notwendige Sensibilität für Gestaltung lässt sich beispiels- weise über konsequente, reflektierende Beobachtung aneignen, das heißt durch das Betrachten gezielt ausgewählter Beispiele hoher gestalterischer Qualität über alle Stilrichtungen der Architektur hinweg. Ziel einer solchen Rezeption von Gestaltung ist es außerdem, einen Eindruck vom stilistischen Querschnitt der Architektur über möglichst viele historische Epochen zu gewin- nen. Hierfür müssen architektonische Erfahrungen im Sinne von Primärerfahrungen – also durch reales und persönliches Begehen von Architektur – gemacht und diskutiert werden, ein Anspruch, der das gesamte Curriculum der Architekturlehre durchzieht. Durch die Rezeption unterschiedlicher architektonischer Rich- tungen kann vermittelt werden, dass Gestaltung bestimm- ten Kriterien unterliegt, etwa der ‚Konsistenz‘, also der Geschlossenheit der verwendeten Formensprache, genauso dem kontrollierten Zusammenspiel von Teilen untereinander und der Teile mit dem Ganzen. Mit Hilfe dieser differenzieren- den Betrachtung von Gestaltung soll vor allem die Überwindung der Vorstellung gelingen, sie wäre rein subjektiv zu bewerten. Gleichzeitig wird vermittelt, dass Subjektivität keineswegs unbe- deutend ist, nämlich dann, wenn es um die Umsetzung des jeweils eigenen Gestaltungsausdrucks geht. 258 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE Qualität und Präferenz Besonders leicht nachvollziehbar und dadurch erlebbar ist die Differenzierung zwischen allgemeiner gestalterischer Höhe und individueller gestalterischer Präferenz bei der Rezeption Bildender Kunst, vor allem, weil sie auch gestalterische Extreme erlebbar macht. So mögen als zweifelsfrei anerkannt geltende, sogenannte Meisterwerke persönlich als nichtssagend oder unangenehm empfunden werden. Das Er- und vor allem das Anerkennen hoher Gestaltungsqualität jenseits eigener Vorlieben ist jedoch nur der erste Schritt innerhalb des Gestaltungsstudiums. In der Architektur ist entscheidend, dass individuell erfahrbare Inspiration für die jeweilige Gestaltungsarbeit nutzbar gemacht werden kann. Das allerdings setzt, wie oben angemerkt, die Bereitschaft zur ‚Interpretation‘ künstlerischer Äußerungen vor- aus, welche auf unmittelbare subjektive Wahrnehmung vertraut und aufbaut und worin allein durch die notwendige völlig eigen- ständige Reflexion ein hoher Lerneffekt für die Studierenden liegt. Intention und Rezeption Dabei zählt weniger die tatsächliche Intention der Künstlerin oder des Künstlers als vielmehr die Offenheit der oder des ein- zelnen Rezipierenden beim eigenen Entdecken. Gemeint ist damit, sich vollständig einzulassen auf die Eindrücke und in ihnen Individuelles und Subjektives zu sehen, sich also dar- über bewusst zu werden, dass das Entdeckte der eigenen Vorstellungskraft entspringt und in dieser Form vermutlich von den Schaffenden so nicht intendiert worden ist. Das heißt, dass nur die nicht gelenkte, sondern die im Gegenteil intuitive, dabei nicht nur die spontane, sondern die reflektierte, auf jeden Fall aber individuelle Inspiration, wie sie bei der Rezeption von Bildender Kunst geübt werden kann, sich dann auf die gesamte Wahrnehmung, also auch außerhalb des geschützten Raumes ‚Kunstpräsentation‘, übertragen und damit als Gestaltungsmittel nutzen lässt. In der freien Natur, fraglos eine reiche Quelle 259 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT der Inspiration, ist ebenfalls keine künstlerische Intention als Erläuterung oder Anleitung zum Gebrauch verfügbar. Und ganz ohne die sogenannte Naturerfahrung bemühen zu müssen, geht es hierbei um Grundlegendes wie zum Beispiel das Erkennen streng geometrischer Muster oder fraktaler Strukturen bei der Betrachtung von Blumen oder Bäumen. 3D-Konstruieren Weil Techniken und Methoden, also beispielsweise das Verwenden eines CAD-Konstruktionsprogramms zur Erstellung einer Gebäuderepräsentation in Form von Grundrissen, Schnitten und Ansichten im Sinne einer bauzeichnerischen Tätigkeit, im Vergleich zur Gestaltung relativ leicht erlernt werden kön- nen, lehren wir sie unter gegenseitiger Bezugnahme. So ist die Darstellende Geometrie bei uns keine Darstellungstechnik, son- dern eine Methode zur Lösung geometrischer, architektonischer Fragestellungen. Die Darstellende Geometrie liefert damit zwar die zeichnerische Konstruktion, vor allem aber bietet sie einen analytischen Zugang zum Raum. Ihre Vermittlung entwickelt räumliches Denken und Vorstellungsvermögen als Grundlage für architektonisches Arbeiten insgesamt, im Besonderen für das Entwerfen. Computer Aided Design wird häufig als Kernfähigkeit der Visualisierung missverstanden, tatsächlich ist es nur deren geometrisch konstruktive Komponente. Auf dieser Ebene der Geometrie kommen noch weitere rein technische Daten hinzu, die allerdings nicht durch manuelle Konstruktion, sondern durch andere Verfahren gewonnen werden, wie etwa beim 3D-Scan. 3D-Scannen und -Drucken Beim Einsatz eines solchen Verfahrens in der Lehre geht es uns darum, das Objekt nicht nur technisch, sondern genauso intel- lektuell zu erfassen. Daten, die mit einem 3D-Scan gewonnen werden, sind völlig anders aufgebaut als jene aus einer konstru- ierten Geometrie: Erstere sind zum Beispiel durch Triangulation approximativer, optisch ermittelter Oberflächenpunkte erzeugte 260 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE Facetten, während letztere beispielsweise aus Flächen und Körpern bestehen, die aus Leitkurven extrudiert wurden. Die zu vermittelnde Kompetenz besteht nun darin, solche Daten unterschiedlichen Ursprungs so aufeinander abzustim- men, dass sie gemeinsam visualisiert werden können. Ein Gestaltungsfall, der diese Fähigkeit erfordert, ist beispielsweise die Rekontextualisierung gescannter antiker Skulpturen vor dem Hintergrund einer abstrahierten Architekturdarstellung – wel- che wir, wie später erläutert wird – als visualisiertes ‚unscharfes Wissen‘ verstehen (Abb. 1). Ebenso ist die Rückführung virtueller, computergenerierter Objekte in den physischen Raum ein Teilbereich des Visuali- sierens. Wieder steht nicht die Technik im Vordergrund; zwar müssen die Objekte an die Spezifika, vor allem die Statik des Materials des 3D-Druckens angepasst werden, aber auch hier ist die eigentliche Herausforderung die Gestaltung. Manche Fragen sind dabei nicht rein technisch zu beantworten, wenn es etwa gilt, Öffnungen und Pfeiler durch ein Relief zu ersetzten, wenn diese nicht mehr offen beziehungsweise freistehend wiedergege- ben werden können und trotzdem das Bild ihrer ursprünglichen Form vermittelt werden soll. Projizieren Nach dem Erstellen der Geometrie, also dem Modellieren und dem Scannen dreidimensionaler Objekte, ist der zweite Schritt zur Visualisierung, wenn nicht dreidimensional gedruckt wer- den soll, die Projektion der Daten in ein statisches oder beweg- tes Bild. Ohnehin werden die Daten meistens in der Form ihrer Projektion wahrgenommen, genauer gesagt im Arbeitsfenster des CAD-Programms. Der erst darauf folgende Teilschritt der Visualisierung wird häufig unterschätzt, weil bereits das Halbzeug ‚dreidimensionales Modell‘ als das endgültige Ergebnis einer Visualisierung oder Rekonstruktion angesehen wird, eine Wahrnehmungsweise, die recht häufig genau so beabsichtigt ist. Tatsächlich ist das Modell aber nur der halbe Weg hin zum Ziel der Erzeugung einer räumlichen Vision. Erst die Projektion 261 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Abb. 1: Skulpturengruppe Ludovisi im Athenaheiligtum von Pergamon. Forschungsprojekt am Lehrstuhl Darstellungslehre, Dominik Lengyel, BTU Cottbus-Senftenberg, gefördert von der DFG im Berliner Exzellenzclusters TOPOI sowie vom BMBF im Berliner Skulpturennetzwerk 262 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE als Komplementär zum virtuellen Modell überführt eben dieses in eine betrachtbare Erscheinungsform. Die Bedeutung, die wir die- ser zweiten Kernkompetenz des Visualisierens, dem bewussten fotografischen Komponieren beimessen, hat uns veranlasst, nicht mehr bloß von ‚Projektion‘ zu sprechen, sondern von „virtueller Fotografie“ 2 im Sinne eines bewussten Gestaltungsvorgangs. Praktizieren Wirksame Erkenntnisse über Zusammenhänge der Gestaltung gewinnt man allerdings erst in der praktischen Anwendung. Deshalb ist die oben beschriebene intuitive Rezeption zwar Voraussetzung für erfolgreiches Gestalten, aber nicht hinrei- chend. Üben und Vermitteln lässt sich das Gestalten – auch als Visualisierungen – in zwei Richtungen: in die Breite und in die Tiefe. Beides ist gleichermaßen wichtig für eigenständige Gestaltungsprojekte, der Weg in die Tiefe ist jedoch für Studie- rende mühsamer. Gerade deshalb liegt der Schwerpunkt unserer Lehre auf ‚Vertiefung‘, das heißt, auf dem ergeb- nisoffenen Erforschen gestalterischer Lösungsvarianten unter streng definierten Bedingungen. So entsteht die Tiefe der Auseinandersetzung in erster Linie durch Variation von Vorgegebenem in eng gesetzten Grenzen. Dies lässt sich bei- spielsweise erreichen, indem eine fotografische Szene zunächst imitiert und dann aus einer anderen Perspektive betrachtet vari- iert werden soll. Durch die geforderte Herstellung einer Beziehung zwischen Original und Variation sind der zulässigen Abweichung, man könnte genauso sagen, dem Handlungskorridor, bereits sehr enge Grenzen gesetzt. 2 Dominik Lengyel, Catherine Toulouse: Die Bauphasen des Kölner Domes und seiner Vor- gängerbauten. Gestaltung zwischen Architek- tur und Diagrammatik. In: Dietrich Boschung, Julian Jachmann (Hg.): Diagrammatik der Architektur. Paderborn 2013, S. 327–352. 263 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Entwicklung der Aufgaben Unser Curriculum der Lehre der Visualisierung bildet die genann- ten und aus unserer Sicht entscheidenden Kompetenzen in steigender Komplexität heraus. Je nach Aufgabe werden dabei die passenden Methoden und die für sie geeigneten Techniken vermittelt. Am Beginn steht immer die visuelle Reflexion einer vorgefundenen architektonischen Gestaltung. Grundlage kann ein historisches Beispiel der Architekturdarstellung sein, das die Einübung von Visualisierung mit einfachen technischen Mitteln erlaubt, wie zum Beispiel das in Karl Friedrich Schinkels Sammlung Architektonischer Entwürfe 1838 erstmals veröf- fentlichte Blatt mit Perspektive, Fassadendetail, Grundriss und Lageplan für das Palais am Pariser Platz in Berlin, also die Darstellung eines Entwurfskonzepts mit rein zeichnerischen Mitteln auf einem einzigen Blatt Papier. 3 Die Auseinandersetzung der Studierenden mit realisierten Werken der Baukunst fördert die Reflexion einer durch das his- torische Beispiel vorgegebenen Gestaltungssprache und deren Übersetzung in eine eigene Darstellungsform. Die Grenzen des Spielraums der in eine Visualisierung umzusetzenden Gestaltung sind damit also eindeutig definiert, und trotzdem kann sich die individuelle Ausformulierung der Aufgabe entfalten. Nebenbei werden die technischen Grundlagen für Visualisierungen gelegt, wenn ein vorgegebenes architektonisches Objekt in ein virtuelles Modell überführt wird (Abb. 2). Einen anderen Einstieg in ein Semesterprojekt bietet hinge- gen das virtuelle plastische Modellieren etwa nach Vorbildern wie den Kunstformen der Natur von Ernst Haeckel.  4 Neben der intensiven Auseinandersetzung mit digitalen Werkzeugen und Methoden werden hierbei geometrische Strukturen analysiert, 3 Hier nachgewiesen in folgender Fassung: turmuseum Technische Universität Berlin. URL: Karl Friedrich Schinkel: Sammlung Architekto- https://architekturmuseum.ub.tu-berlin.de/ nischer Entwürfe. Berlin 1858, Tafel 158: index.php?p=79&POS=20 (25. Januar 2018). Palais Prinz Wilhelm am Pariser Platz, Berlin. Perspektivische Ansicht, Fassadendetail, 4 Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur. Grundriss, Lageplan. Druck: Stich auf Papier. Leipzig 11899. 54,3 x 41,9 cm. Inv. Nr. SAE 1858,158. Architek- 264 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE Abb. 2: Architekturanalyse. Studienarbeiten am Lehrstuhl Darstellungslehre, Dominik Lengyel, BTU Cottbus-Senftenberg 265 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Abb. 3: Objekt nach Ernst Haeckel, Kunstformen der Natur, 1899. Studienarbeiten am Lehrstuhl Darstellungslehre, Dominik Lengyel, BTU Cottbus-Senftenberg 266 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE imitiert und anschließend als Gestaltungsaufgabe in neuer Konstellation miteinander kombiniert. Im Ergebnis entstehen kleine, etwa handgroße Artefakte, die technische und gestalteri- sche Grundkompetenzen erkennen lassen (Abb. 3). Im Laufe der Semester nimmt die Komplexität der Aus- einandersetzung zu. Je nachdem, welcher Schwerpunkt zu Anfang gesetzt wurde, erhalten nun entweder die eigen- ständige Gestaltung des Objektes oder das Einbeziehen des architektonischen Kontextes ein höheres Gewicht. In der Architekturfotografie als Gestaltungsreferenz steht die Bildkomposition im Vordergrund. Auf dieser Grundlage sollen dann über das Mittel der Perspektive beispielsweise hypotheti- sche Stadträume entworfen werden. Reflektiert werden mit die- ser Aufgabenstellung die fotografischen Aspekte ‚Komposition‘, ‚Beleuchtung‘, ‚Belichtung‘ und ‚Brennweite‘ sowie die natürliche Augenhöhe und die senkrechte Bildebene. Gleichzeitig werden Begriffe wie ‚Kontext‘, ‚Tiefenstaffelung‘, ‚Detaillierungsgrad‘ und ‚Atmosphäre‘ diskutiert. In einem ersten Schritt wird das virtuelle Modell als Linienzeichnung projiziert. Die Qualität der Linienzeichnung wird an den Maßstäben einer Handzeichnung gemessen. Erst im zweiten Schritt wird das Modell schattiert, allerdings ausschließlich mit reinen Farbflächen, also ohne Texturen. Durch diese Differenzierung der Visualisierung in ihre einzelnen Komponenten gewinnt die Darstellung stets einzelne Bildaussagen hinzu, ohne dass eine der Techniken, beispiels- weise die Schattierung, die Schwächen ihrer vorangegange- nen Schicht, in diesem Beispiel die Linienzeichnung, verde- cken könnte (Abb.  4). Dies ist sehr häufig dann der Fall, wenn Computermodelle zu früh und zu unreflektiert mit Materialtexturen und Lichteffekten ausgestattet werden. Dem ungeübten Auge des noch lernenden Architekturstudierenden etwa fällt es dann schwerer, eventuelle Schwächen der eigenen Visualisierung selbst zu erkennen. Anders verhält es sich, wenn die Aufgabenstellung eine Fotomontage beinhaltet. Hier soll die eigenständig entwickelte Raumgestaltung mit einem gegebenen architektonischen Kontext verbunden werden. Durch die Wahl des Ausschnitts 267 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Abb. 4: Stadtraumvision. Studienarbeiten am Lehrstuhl Darstellungslehre, Dominik Lengyel, BTU Cottbus-Senftenberg 268 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE Abb. 5: Fotomontage. Studienarbeiten am Lehrstuhl Darstellungslehre, Dominik Lengyel, BTU Cottbus-Senftenberg 269 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT kann zwar der ‚Einfluss‘ der vorgegebenen Fotografie noch in gewissem Maß gesteuert werden; Licht und Perspektivität aber müssen sich zwingend an der Vorgabe orientieren. Im Dialog zwischen realer und virtueller Welt wird hierdurch ein völlig neuer Anspruch an die Visualisierung gestellt – vor allem derjenige einer angemessenen Abstraktion. Zu beantworten ist mit dieser Gestaltungsaufgabe letztlich die Frage, wie detailliert ein virtuel- les Modell ausgeführt sein muss, um gemeinsam mit dem Foto ein überzeugendes, geschlossenes Bild einer architektonischen Vision vermitteln zu können (Abb. 5). Einen wieder anderen Ansatz verfolgt das Erzeugen einer sug- gestiven Raumwirkung nach malerischen Vorbildern. Giovanni Battista Piranesis teilweise geometrisch unmögliche „Carceri d‘invenzione“  5 verkörpern auf ideale Weise die Suggestivkraft von Raumwirkung, ohne dass Betrachtende sich unmittelbar mit der Konstruktion des Raumes beschäftigen müssten. Die auf diese Weise inspirierten Raumvisionen der Studierenden ver- suchen daher gar nicht erst, Architektur als zweckgebundene Nutzbauten wiederzugeben, sondern Raumwirkung allein mit den Mitteln der Bildgestaltung zu erzielen. Und wenn Architektur letztlich immer mehr ist, als nur ‚Bauen‘ oder ‚Gebäude‘, sind unsere Bilder, anders als diejenigen Piranesis, keine zeichneri- schen, sondern originär architektonische Visionen (Abb. 6). Wie deutlich sich eine Inspirationsquelle auf neu erzeugte, architektonische Visionen auswirken kann, zeigt ein anderes Beispiel: Thomas Demands Fotografien etwa sollen zwar ebenfalls zu eigenen Raumvisionen inspirieren, doch gleich- zeitig einen gewünschten Detaillierungsgrad vorgeben. Das Entscheidende auf dem Weg zur architektonischen Wirkung dieser Visualisierungen – bei Demand sind es reale Fotografien von physischen Papier-modellen – ist es, die geometrische 5 Eine der jüngsten Publikationen hierzu ist: David Klemm, Hamburger Kunsthalle (Hg.): Piranesi. Carceri. Der Bestand des Kupfer- stichkabinetts der Hamburger Kunsthalle. Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle. Petersberg 2016. 270 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE Abb. 6: Raumvision nach Giovanni Battista Piranesi. Studienarbeiten am Lehrstuhl Darstel- lungslehre, Dominik Lengyel, BTU Cottbus-Senftenberg 271 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Abb. 7: Raumvision nach Thomas Demand. Studienarbeiten am Lehrstuhl Darstellungslehre, Dominik Lengyel, BTU Cottbus-Senftenberg 272 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE Abstraktion des virtuellen Modells mit der Komposition der vir- tuellen Fotografie zu verbinden. So wird ganz nebenbei beim Visualisieren eine wichtige architektonische Gestaltungsmethode eingeübt, nämlich ausgewählte Teilaspekte klar zu definieren, während andere Aspekte völlig offen bleiben dürfen. Abstraktion wird hierdurch als Gestaltungsmethode erkannt (Abb. 7). Wenn nun der reale Raum zwar die Hülle bildet, seine archi- tektonische Nutzung jedoch unbeachtet bleiben soll, findet die Auseinandersetzung mit Raum wieder auf einer anderen Ebene statt. War zum Beispiel ein für die Visualisierungsübung vorgege- benes Gebäude bereits einer Umwandlung unterworfen, wie bei- spielsweise das Cottbusser Museum Dieselkraftwerk, das vom Industriebau zum Kunsthaus transformiert wurde  6, erleichtert dieser Umstand den ungezwungenen, neuen Zugang zur Lösung der Gestaltungsaufgabe; Studierende sind dann freier in ihrer Interpretation der vorgegebenen Gebäudehülle (Abb. 8). Ein Effekt solcher Semesteraufgaben ist, dass sich die Grenzen zwischen dem Gestalten ‚der‘ Perspektive und dem Gestalten ‚in der‘ Perspektive zu verwischen beginnen, wodurch die Potentiale der Perspektive als Entwurfsumgebung erst deutlich werden. Gestalten wird durch die perspektivische Denkweise räumlicher, und entsprechend kleiner wird die Gefahr, dass wie so oft nur im Grundriss gedacht und entworfen wird. Ziel unserer Vermittlung von Visualisierung ist an der Stelle, dass die perspektivische Wirkung als integraler Bestandteil von Architektur verinnerlicht wird und im Ergebnis das Entwerfen in der Perspektive stattfindet. Die Wechselbeziehung zwischen architektonischem Konzept und dessen Visualisierung ist dann selbstverständlich gegeben – wir nennen diese Entwurfsmethode „Perspektiven gestalten“ 7. Die studentische Mitarbeit an Forschungsprojekten, die von Visualisierungen handeln, erlaubt innerhalb und außerhalb des 6 Die Adaption des Industriebaus zum 7 Dominik Lengyel, Catherine Toulouse (Hg.): Museum erfolgte durch Anderhalten Architek- Perspektiven gestalten. BTU Cottbus 2008. ten Berlin zwischen 2004 und 2008. Vgl. Falk Jaeger, Ursula Böhmer (Fotografie): Anderhal- ten Architekten. Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus. Berlin 2008. 273 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Lehrkontextes die intensivste Form der Auseinandersetzung mit einem Gegenstand, nicht nur weil die Anforderungen dabei deutlich erhöht sind, sondern vor allem, weil die Ergebnisse der Studierenden – auch in deren Selbstwahrnehmung – in einer erweiterten Öffentlichkeit rezipiert und reflektiert werden (Abb. 9). Darstellung von Unschärfe Aus diesem Grund haben wir die Methode der „Darstellung von Unschärfe“ sowohl innerhalb von Forschungsprojekten als auch in begleitenden Seminaren entwickelt. Bei dieser Methode wird anstelle einer Rekonstruktion von Architektur, sei es bildme- dial oder konstruktiv, die hypothetische Entwurfsidee, mithin also die architektonische Struktur, simuliert. Ziel ist die größt- mögliche Treue zur wissenschaftlichen Hypothese, welche die am Forschungsprojekt beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Archäologie und Bauforschung entwickelt haben, beispielsweise aus dem Berliner Exzellenzcluster TOPOI und dem vom BMBF geförderten Berliner Skulpturennetzwerk im Forschungsprojekt der Visualisierung des Stadtbergs von Pergamon. 8 Abstraktion Den größten Anteil an der Übersetzung ‚unscharfer‘ Hypothesen in Bilder nimmt die geometrische Abstraktion ein, die direkt der ‚versprachlichten‘ Abstraktion der zugrunde liegenden verba- len Hypothese entspricht. Und damit bleibt nicht nur die wis- senschaftliche Hypothese in ihren wesentlichen Bestandteilen erhalten, sondern diese Visualisierungsübung stärkt eine ent- scheidende Entwurfskompetenz der werdenden Architektinnen 8 Eric Laufer, Dominik Lengyel, Felix Pirson u. a.: Die Wiederentstehung Pergamons als virtuelles Stadtmodell. In: Ralf Grüßinger, Volker Kästner, Andreas Scholl (Hg.): Pergamon. Pan- orama der antiken Metropole. Ausstellungska- talog Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. Petersberg 22012, S. 82–86. 274 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE Abb. 8: Raumtransformation Museum Dieselkraftwerk Cottbus. Studienarbeiten am Lehrstuhl Darstellungslehre, Dominik Lengyel, BTU Cottbus-Senftenberg 275 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Abb. 9: Platz am Sande in Lüneburg. Forschungsprojekt am Lehrstuhl Darstellungslehre, Dominik Lengyel, BTU Cottbus-Senftenberg. Das Forschungsprojekt wurde vom Museum Lüneburg gefördert 276 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE und Architekten: In der Abstraktion nämlich erscheint ein histo- risches Architekturbeispiel gleichfalls enthistorisiert, womit sich vor allem kompositorische Qualitäten – jenseits ihrer historischen Bestimmung – offenbaren können. So zeigt sich die ‚hypothe- tische‘ Entwurfsidee in ihrer zeitlosen Qualität als intellektuelle Leistung eines architektonischen Konzepts. Über die Abstraktion, hier wörtlich über das ‚Wegziehen‘ der histo- rischen Attribute und einstigen Nutzungen eines Baus, kann eine Vergleichs- oder Inspirationsebene für neue Planungen geschaf- fen werden. Beispielhaft seien hier die städtebaulichen Anlagen auf dem Stadtberg von Pergamon genannt, die – unterstützt durch ihre topographische Lage auf einer Erhebung mit steil abfallendem Gelände – eine einzigartige Stadtlandschaft bilden. Referenz Bildende Kunst An dieser Stelle wird die Bedeutung der Abstraktion für unsere Lehre noch einmal deutlich. Ausgangspunkt ist die auf die Spitze getriebene Umkehrung von Ursache und Wirkung. In der Abstraktion definiert primär nicht das Objekt selbst seine Bedeutung, sondern das Subjekt beziehungsweise dessen Vorstellungskraft. Als ein Beispiel sei hier „Das Schwarze Quadrat auf weissem Grund“  9 Kasimir Malewitschs von 1914/15 genannt, dessen formale Einfachheit der umgekehrt unbe- grenzten Interpretationsoffenheit gegenübersteht – voraus- gesetzt allerdings, und das ist eine Fähigkeit, die zu vermitteln Ziel der Architekturausbildung sein muss – Betrachterinnen und Betrachter selbst offen sind in Wahrnehmung und Reflexion. Ad Reinhardt, der das schwarze Quadrat um eine kleine Nuance nun mit einem seiner „Abstract Paintings“ von 1961 10 erweitert zitiert, grenzt die Bildende Kunst deutlich von anderen Kunstgattungen 9 Vgl. zu diesem zentralen Werk des Supre- 10 Fassung von 1961 im Sammlungsbestand matismus z. B. Jeannot Simmen: Kasimir Ma- des Städel Museums in Frankfurt a. M. Seit lewitsch. Das schwarze Quadrat. Vom Anti-Bild 2013 Dauerleihgabe der Adolf-Luther-Stiftung. zur Ikone der Moderne. Frankfurt a. M. 1998. Öl auf Leinwand, 157,5 x 157,5 cm. Inventar- nummer LG 118. Zu sehen in der digitalen Sammlung des Museums. URL: https://samm- lung.staedelmuseum.de/de/werk/abstract-pain- ting (23. Januar 2018). 277 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT etwa der Architektur ab, wenn er schreibt: „Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles andere“  11. Die Bedeutung der Kunst für das Verständnis von der Beziehung zwischen Abstraktion und Interpretation jedoch gilt ungebrochen für beide Disziplinen. Die Unterscheidung zweckbefreiter Kunst von definier- ten Erfordernissen dienender Architektur ist hier wesentlich. Besonders Kunst, die räumlich agiert, bewegt sich nahe an der Architektur, so zum Beispiel die Installationen von Donald Judd oder Richard Serra. Sie zeigen eindrucksvoll, dass architektoni- sche Raumwirkung losgelöst vom Verwendungszweck entstehen kann und umgekehrt, Architektur also mehr ist, als nur die bauli- che Erfüllung eines Zwecks. Dass die reduzierte Formensprache abstrakter Darstellungen keineswegs als Mangel verstanden sein muss, sondern als beflü- gelnde Qualität, beweist das künstlerische Werk von Gerhard Merz, wenn dieser eine seiner raumgreifenden Skulpturen wie folgt beschriftet: „Macht die Luft vor Klarheit erzittern“ 12. Genau so lassen sich auch Hiroshi Sugimotos Langzeitbelichtungen von Kinoleinwänden verstehen, die als suggestiv strahlende Rechtecke ihr Umfeld ausleuchten. Die Flächigkeit von Foto- grafien erweist sich nicht nur als hilfreiches Vehikel bei der Übersetzung räumlicher Strukturen in bildliche Visualisierungen, sie bringt in die letzteren den Spannungsbogen von dokumen- tierender zu interpretierender Absicht ein. So stellt sich bei Fotografien Karl Blossfeldts 13 die Frage, was das Bild primär the- matisiert, die dargestellte Plastizität als Abstraktum oder die kon- krete Pflanze, die der Aufnahme Modell stand – das ‚Schattenspiel‘ oder die Biologie? Entscheidend bleibt bei der Vermittlung und Anwendung von Abstraktion in der Architekturausbildung immer der Bezug zur räumlichen Vision. Daher ist laufend zu prüfen, unter welchen Bedingungen oder bis zu welchem Grad abstrakte 11 Thomas Kellein (Hg.): Ad Reinhardt. Schrif- 13 Zum ersten Mal erschienen als: Karl Bloss- ten und Gespräche. München 1998, S. 68. feldt: Urformen der Kunst. Photographische Pflanzenbilder. Hg. v. Karl Nierendof. Berlin 12 Felix Zdenek (Hg.): Gerhard Merz – Archi- 1928. pittura. Ausstellungskatalog Deichtorhallen Hamburg. Stuttgart 1992, S. 43. 278 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE Darstellungen anschaulich architektonische Ideen verdeutlichen können. Architekturmodellen scheint das stets zu gelingen, und vermutlich ist es der tradierten Wahrnehmung zu danken, dass beispielsweise das Modell des Torhauses (1983/84) der Messe Frankfurt a. M. von Oswald Mathias Ungers  14 ein Gebäude re- präsentiert, selbst wenn es aus homogenem weißem Material besteht und keinerlei Öffnungen aufweist. Virtuelle Fotografie Ganz anders, nämlich so konkret wie möglich, geht die ‚virtu- elle Fotografie‘ vor. Ihr kommt die Aufgabe zu, die Abstraktion der Geometrie zu kompensieren, sodass trotz Abstraktion ein Raumeindruck entstehen kann, der in der Wahrnehmung der Betrachtenden, genauer in deren Vorstellungskraft, sich zu Architektur konkretisiert. Die Bedeutung der Realitätsnähe der ‚virtuellen Fotografie‘ steigt umso mehr, je abstrakter die abge- bildete Geometrie ausgefallen ist. Die möglichst intuitive und imaginierende Rück-Übersetzung der Abbildung in Architektur ist nur das eine, denn ebenso wichtig ist es, dass die individuelle Interpretation sich trotz aller Freiheit so nah wie möglich an der zu vermittelnden Vision orientiert – also einer archäologischen Hypothese oder einer visionären Planung. Der Begriff ‚virtuelle Fotografie‘ soll hier nicht nur die möglichst realistische Wiedergabe abstrakter Geometrie suggerieren, son- dern ebenso auf die Bedeutung tradierter Sehgewohnheiten ver- weisen. Das betrifft die wichtigsten geometrischen Parameter Augenhöhe und Bildebene ebenso wie den Umstand, dass es die traditionelle Fotografie ist, die es ermöglicht, monochrome Darstellungen in der allgemeinen Wahrnehmung als völlig rea- listisch gelten zu lassen. Das Schwarzweißfoto ist so geläufig, dass in der Visualisierung Bilder aus Graustufen wie selbstver- ständlich angenommen werden, ein Umstand, der gerade in der Visualisierung antiker Architektur enorm hilfreich ist. 14 Vgl. Darstellung in: Hamburger Kunsthalle, Frank Barth, Anja Sieber-Albers (Hg.): O. M. Ungers – Architekt. Ausstellungskatalog Ham- burger Kunsthalle. Stuttgart 1994, S. 23. 279 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Farbe und Schwarzweiß Polychromie ist ein in der öffentlichen Wahrnehmung anti- ker Architektur ambivalentes Phänomen. Obwohl bereits im 19. Jahrhundert widerlegt, kann sich die kurz zuvor verbreitete Vorstellung der edlen weißen Antike weiterhin halten. Nebenbei lebt – unterlegt von dem ebenso längst widerlegten angeblichen ‚Weiß‘ eines ‚Bauhaus-Stils‘ – die monochrome Gestaltung von Architektur in einer beunruhigend großen Zahl studen- tischer Entwurfsarbeiten weiter, sodass die Differenzierung zwischen Monochromie und Polychromie ein weiterer für die Ausbildung der Kompetenz Entwerfen wichtiger Bestandteil der Visualisierung ist. In der Visualisierung von Hypothesen über antike Architektur überwiegt dagegen die ‚Sicherheit‘ der Geometrie gegenüber der ‚Unsicherheit‘ der Polychromie deutlich. Dabei ist unstrittig, dass die Wände vielfarbig gestaltet waren, nur ist in den meis- ten Fällen völlig unklar, welche Motive abgebildet und welche Farben verwendet worden sind. Nun lassen sich solche moti- vischen Wandgemälde weder imitieren noch generisch simu- lieren, ohne dass sie willkürlich wirken würden. Ebenso ist es aus wissenschaftlicher Sicht unzulässig, etwa ein beliebiges Gemälde aus einem fremden Kontext einfach zu translozieren, etwa von Pompeji nach Pergamon. Die Entscheidung, in solchen Visualisierungen letztlich auf eine Darstellung von Polychromie oder malerischem Dekor zu verzichten, ist insofern unaus- weichlich. Und erst die Visualisierung stellt sicher, dass die dar- gestellten Elemente der Architektur überhaupt keine Aussage zur Farbigkeit treffen müssen, dass sie als ‚farblos‘ und nicht etwa als weiß interpretiert werden können. Auch hier liefert die Fotografie eine Hilfestellung, indem sie das Schwarzweiß-Bild als einen Abbildungsmodus etablierte. Visualisierungen kön- nen somit auf das längst ‚schwarzweiß‘ geschulte Auge für eine Geometrie ohne Aussage zur Farbigkeit zurückgreifen. 280 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE Blauer Himmel Dies bedeutet vor allem, kein einziges Bildelement farbig zu zei- gen, nicht einmal den Himmel, der fraglos blau sein könnte. Ein solcher würde nämlich ein darstellerisches ‚Missverständnis‘ provozieren, denn vor dem Hintergrund eines blauen Himmels werden gerade abstrahierte Gebäude so intuitiv wie unver- meidbar als weiße Objekte gelesen. Im Fall antiker Bauten und in vielen anderen ‚polychromen‘ Beispielen wäre das eindeutig falsch. Umgekehrt ist der nicht blau visualisierte Himmel in der Schwarzweißfotografie keineswegs grau, er kann durch einen Helligkeitslauf sowohl dramatisch als auch in sich ruhend erschei- nen und durch den bewussten Einsatz von Schlagschatten und Bildkontrast durchaus ‚tiefblau‘ wirken, nur ist er es objektiv eben nicht. Visualisierungen als Schwarzweißabbildungen auszufüh- ren, ist eine Grundsatzentscheidung mit deutlichem Einfluss auf das 3D-Modellieren, für das die Oberflächeneigenschaften der Geometrie dann entsprechend angepasst werden müssen. Augenhöhe und Bildebene Streng fotografisch sind hingegen solche Parameter der ‚virtuel- len Fotografie‘ zu verstehen, die sich auf die Komposition vari- abler Größen beziehen, wie ‚Licht‘, ‚Standort‘, ‚Blickrichtung‘ und ‚Blickwinkel‘. Ziel der fotografischen Komposition ist es, neben der gewünschten Aussage und Suggestivkraft, die Betrachtenden sowohl über die wissenschaftliche Hypothese in Kenntnis zu setzen als auch in ihren Bann zu ziehen sowie möglichst eindeutig und unverfälscht die architektonische Vision zu verdeutlichen. Während viele fotografische Parameter eher subtil wirken, lassen sich zwei Größen definieren, deren klare Umsetzung die Interpretation beträchtlich unterstützen: die eindeutige Augenhöhe der Betrachtenden und die ein- deutige Lage der Bildebene. Die Augenhöhe stellt die richtige Interpretation der Größenverhältnisse, die Lage der Bildebene dagegen die Ausrichtung der Objektkanten sicher. Konkret sorgt die Augenhöhe dafür, dass verlässlich festgestellt werden 281 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT kann, ob ein Objekt sich oberhalb oder unterhalb der Sehachse befindet. Die Lage der Bildebene sorgt dafür, dass senkrechte Gebäudekanten senkrecht wiedergegeben werden, und nur tatsächlich geneigte Wände als solche erscheinen. Das ist deshalb bedeutend, weil in der perspektivischen Projektion sowohl das Gleichgewichtsorgan als auch die Bewegung der Betrachtenden im Raum als Korrektiv der physiologisch bedingt hemisphärischen Projektion auf der Netzhaut entfallen. Während im realen Raum der Gleichgewichtssinn und die Physiologie Fehlinterpretationen zu verhindern vermögen, ist diese Differen- zierung in Perspektivdarstellungen nicht ohne weiteres zu leis- ten. Architektonische Fehlinterpretationen können dann die Folge sein, basierend auf falschen Größenwahrnehmungen auf der einen und falschen Eindrücken über die eventuell ver- meintliche oder einfach übersehene Inklination der Wände auf der anderen Seite. Wie bedeutend bereits eine leichte Neigung der Wände in der Architektur sein kann, zeigt eindrucksvoll das Nebeneinander von Pracht- und Profanbauten in der marokka- nischen Welterbe-Stadt Aït-Benhaddou. Hier wird nur bei senk- rechter Bildebene sofort deutlich, dass die Neigung den ent- scheidenden Unterschied zwischen Kasbahs und einfachen Wohnbauten ausmacht, und dass dieser nicht nur in der klei- nen Differenz der Gradzahl liegt, sondern im substantiell unter- schiedlichen Charakter der Architektur, die zwar beide Bautypen als wehrhaft, dies aber in unterschiedlicher Deutlichkeit, aus- weist. Bedeutungen werden manchmal auch durch nur subtile Unterscheidbarkeit vermittelt. Handhabung der virtuellen Kamera Auch wenn Augenhöhe und Lage der Bildebene triviale ‚Instrumente‘ zu sein scheinen, haben diese beiden Parameter einen enormen Einfluss auf die objektive Wiedergabetreue und auf die subtile Wirkung von Architektur in Fotografien und Perspektiven. Und selbst wenn die fotografische Komposition der anspruchsvollste Teil der gestalterischen Aufgabe des Fotografierens ist, lassen sich zu Augenhöhe und Bildebene klare 282 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE methodische Vorgehensweisen formulieren: Für die Augenhöhe bedeutet dies, sie entweder eindeutig auf einen physisch mögli- chen, historisch belegten Blickpunkt festzulegen, oder, ebenso eindeutig, sie in der Luft liegend anzunehmen. Letztere Annahme wäre der ‚ahistorische‘ Blick einer Vogelperspektive, deren ein- deutig nicht als Raumvision zu interpretierende Bildaussage noch dadurch unterstrichen werden kann, dass sie nicht einmal mehr perspektivisch, sondern als Parallelprojektion eben axono- metrisch ausgeführt wird (Abb. 10). Bezogen auf die Bildebene besteht eine Möglichkeit darin, diese entweder eindeutig senkrecht anzuordnen oder, abhängig von der dargestellten Situation, eindeutig geneigt. Letzteres kann angemessen sein, wenn die Wirkung eines Gebäudes auf seiner Steillage beruht und auf diese Weise Wehrhaftigkeit ausgedrückt werden soll wie bei einer Festung auf einem Felsvorsprung. Bei extrem ausgeprägter Neigung der Bildebene kann die Wahrnehmung so sehr irritiert werden, dass Vertikale und Horizontale nicht mehr eindeutig erkannt werden können. Hier hilft es, wie auf einer Fotografie des Chicagoer Seagram Buildings von Julius Shulman (1958) 15 zu sehen, die Kameraachse zu rol- len, also mit der Blickrichtung als Rotationsachse zu drehen, damit die Gebäudefassade in der perspektivischen Projektion nicht als begehbare Lauffläche erscheint. In beiden Fällen geht es also ausdrücklich nicht um eine Beschränkung der Möglichkeiten der Bildaussage, sondern um die Herstellung einer Eindeutigkeit, die Betrachtende vor Fehlinterpretationen bewahrt. Folgt die Projektion des Modells also den Regeln der Architekturfotografie, so ermöglicht sie eine sach- gerechte Beurteilung der dargestellten Architektur unter größt- möglicher Kompensation der weggefallenen Dreidimensionalität der visuellen Wahrnehmung und der ebenfalls entfallenen Dynamik der Bewegung der Betrachtenden im Raum. 15 Die Aufnahme entstand 1958, sie ist publi- ziert z. B. in: Joseph Rosa (Hg.): A Constructed View. The Architectural Photography of Julius Shulman. New York 1994, Abb. 24, S. 33. 283 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT Abb. 10: Sasanidische Palastfassade Taq-e Kisra in Ktesiphon. Forschungsprojekt am Lehr- stuhl Darstellungslehre, Dominik Lengyel, BTU Cottbus-Senftenberg, gefördert von der DFG im Berliner Exzellenzclusters TOPOI 284 DOMINIK LENGYEL UND CATHERINE TOULOUSE Im Vordergrund der ‚virtuellen Fotografie‘ stehen also die Raumwirkung, die Plastizität und die Dreidimensionalität im Ausgleich zur realen stereoskopischen und dynamischen Raumwahrnehmung. Die fotografische Sensibilisierung der Studierenden ist damit ein integraler Bestandteil in der Lehre der Architekturvisualisierung und ein komplementäres Gegenstück zur Gestaltung der Form von Objekten und Gebäuden. Fazit Architekturvisualisierung ist die visuelle Vermittlung architekto- nischer Ideen. Die Spannweite vom Abstrakten zum Konkreten bedingt die große Fülle an Ausdrucksweisen, die zu erlernen sind. Techniken und Methoden bilden zwar das Rückgrat, an der intensiven Auseinandersetzung mit dem unermesslichen Feld der Gestaltung jedoch führt kein Weg vorbei. Daher ist der intellek- tuelle wie sensible Umgang mit Sehgewohnheiten und kulturel- len Traditionen unerlässlich. Die Referenz Bildende Kunst liefert dazu vielschichtige Grundbausteine wie die Wertschätzung der Abstraktion und die Erkenntnis über die Differenzierung zwischen ‚Gestaltungshöhe‘ und ‚Gestaltungspräferenz‘. Entscheidend ist es, eine klare Vorstellung vom vermittelnden Medium zu erhalten und das enge Zusammenspiel zwischen virtuellem Modell und virtueller Fotografie im Fall dreidimensionaler Inhalte zu begrei- fen. Am Ende steht die Erkenntnis, dass jedes einzelne Erzeugnis und Werk nicht dem Zufall überlassen werden darf, sondern einer klaren gestalterischen Absicht entspringen muss, um sich in ver- antwortungsvoller Weise als Architektin und Architekt über das Medium Visualisierung mitzuteilen. 285 VISUALISIERUNG IN DER ARCHITEKTURLEHRE → INHALT 286 INGA GANZER INGA GANZER Handwerk und Sehschule Zulassungsbedingungen und Grundlagenstudium an der Burg Giebichenstein – ein Erfahrungsbericht Die Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle wählt Studien- anfängerinnen und -anfänger nach strengen Zulassungsbedin- gungen aus: Gefordert sind Handwerksvorpraktikum, künstlerische Mappe und das Bestehen der dreitägigen Eignungsprüfung. Die Studierenden der verschiedenen Designstudiengänge absolvier- ten nochbis zum Jahr 2005 in einem zweijährigen, gemeinsamen Grundstudium den Fächerkanon der Grundlagen der Gestaltung. Im Rahmen des Bologna-Prozesses wurden nun die Bachelorstudien Design und Innenarchitektur auf vier Jahre festgesetzt, um weiter- hin die Grundlagenfächer als essentiellen Bestandteil der Gestal- tungsausbildung umfassend und mit hohen Qualitätsstandards zu lehren. Der Erfahrungsbericht der Autorin beschreibt die ehe- dem zeitintensive und besonders handwerklich ausgerichtete Gestaltungslehre an der Burg vor der Umstrukturierung und bricht eine Lanze für ihren Wert auch im digitalen Zeitalter. Die Burg „[...] es geht darum, einen, der gestalten will, sehend zu machen.“ 1 Als Gründungsjahr der heutigen Burg Giebichenstein Kunst- hochschule Halle gilt das Jahr 1915. In diesem Jahr wurde Paul Thiersch Direktor der damaligen Handwerkerschule der Stadt 1 Rudi Högner zitiert in: Kai Buchholz, Jus- tus Theinert: Designlehren. Wege deutscher Gestaltungsausbildung. Unter Mitarbeit von Silke Ihden-Rothkirch. Band 1. Stuttgart 2007, S. 150. 287 HANDWERK UND SEHSCHULE → INHALT Halle und wandelte in den folgenden Jahren die Einrichtung zu einer zeitgemäßen und praxisorientierten Kunstgewerbeschule um, zu der auch ausbildende und produzierende Werkstätten gehörten. Die ‚Burg‘, wie die Schule in der Regel verkürzt genannt wird, ist somit älter als das Weimarer Bauhaus. Sie hat ihre Ursprünge wie viele andere ähnliche Institutionen in den Gewerbereformen der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts: Die Handwerkerschule ging aus der Zusammenlegung der Provinzial- Gewerbeschule und der Gewerblichen Zeichenschule der Stadt Halle an der Saale hervor. Die wechselvolle Geschichte der Ausbildungsstätte zeigt sich auch in deren vielfach geänderten Benennungen wie ‚Handwerkerschule‘, ‚Kunstgewerbeschule‘, ‚Meisterschule‘, ‚Kunstschule und Werkstätten‘, ‚Hochschule für Industrielle Formgestaltung‘, ‚Hochschule für Kunst und Design‘ und ‚Kunsthochschule‘. 2 Der Campus der Einrichtung verteilt sich heute auf mehrere Gebäude in der Stadt, nur Teile des Fachbereichs Kunst befinden sich auf dem Namen gebenden alten Burggelände hoch über der Saale. Die Autorin hat an der Burg Giebichenstein in den Jahren von 1997 bis 2003 Innenarchitektur studiert und legt hier einen persönlichen Erfahrungsbericht zum Grundlagen- und Innenarchitekturstudium dieser Schule vor. Diese Form ermöglicht es, den tatsächlichen Ablauf der Lehre an einer ausgewählten Institution und ihre individuelle Wirkung abseits von theoretischen Konzepten zu beschreiben und deren langfristigen Wert auch für die spätere Berufspraxis zu beleuchten. Der Text ist ein Plädoyer dafür, dass ein Studium in gestaltenden Berufen vor allem eine Ausbildung über die all- gemeingültigen Grundlagen von Gestaltung sein sollte und dass zur Verinnerlichung der Prinzipien handwerkliche und prak- tisch-künstlerische Erfahrung sowie Zeit und Wiederholung – gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung – eine bedeu- tende Rolle spielen. 2 Für einen ersten Überblick über die Geschichte der Kunsthochschule eignet sich der gut aufgearbeitete geschichtliche Abriss auf der Webseite. URL: http://www.burg-halle. de/hochschule/hochschulkultur/geschichte/ (20. Juli 2017). 288 INGA GANZER Zulassungsbedingungen Die Burg Giebichenstein ist für ihre strengen Zulassungs- bedingungen bekannt: Zur Allgemeinen Hochschulreife und der Einreichung einer Mappe mit Arbeitsproben kommt das dreitä- gige und in zwei Stufen durchgeführte Feststellungsverfahren zum Nachweis der künstlerisch-gestalterischen Eignung hinzu: Diese Eignungsprüfung besteht aus Zeichen- und Farbübungen, Tests zum räumlichen Sehen und zum Statikverständnis, plas- tischen Aufgaben, Konstruktionsübungen und persönlichen Gesprächen. Auf diese Weise soll gewährleistet werden, dass nur künstlerisch und praktisch vorgebildete Studierende aufgenom- men werden. Die hohen Anforderungen an die Qualität der ein- zureichenden Mappe legen eine bereits mehrjährige Beschäfti- gung mit dem Naturstudium, etwa in einem Zeichenkurs, nahe. Eine Besonderheit ist das heute noch immer geforderte, in der Regel sechs Monate lange Handwerkspraktikum, das vor Studienbeginn absolviert werden muss 3; zur Studienzeit der Autorin waren dafür sogar zwölf Monate angesetzt. Stu- dienanfängerinnen und -anfänger mit einer bereits abgeschlos- senen Berufsausbildung, etwa als Werkzeugmacher, Tischlerin, Töpfer, Porzellanmalerin oder Bauzeichner, waren keine Sel- tenheit an der Burg. Wie wichtig die künstlerische Eignung und das praktische Verständnis für die Institution ist, zeigt sich in der Möglichkeit, bei außerordentlichen Fähigkeiten auch ohne Abitur zugelassen zu werden. Fächer der Grundlagen Das Grundlagenstudium der Burg hat in vielen Punkten Ähnlichkeit mit dem Bauhaus-Vorkurs. Dies lässt sich vermutlich mit der gemeinsamen Entstehungszeit beider Schulen und deren jewei- ligen Wurzeln in der Kunstgewerbereform begründen sowie auf 3 Vgl. die Informationen für Studienbewer- berinnen und -bewerber. URL: http://www. burg-halle.de/hochschule/studium/faq-zur-stu- dienbewerbung/ (17. Oktober 2017). 289 HANDWERK UND SEHSCHULE → INHALT den Einfluss des Bauhaus-Personals zurückführen, das beispiels- weise zu Beginn der Dessauer Phase dieser Ausbildungsanstalt, auch zur Burg wechselte und den Grundcharakter der Schule – das Zusammenspiel von Handwerk und Kunst – mit prägte. Das noch Ende der 1990er Jahre im Fachbereich Design gelehrte Grundlagenkonzept beruhte unter anderem auf einem vom Pädagogen und Maler Lothar Zitzmann (1924–1977) in den 1950er Jahren entwickelten Lehrsystem, das Ideen der Bauhaus-Vorlehre aufgriff und „auf den Werkkunstcharakter der Burg Giebichenstein zugeschnitten war. Raum, Körper, Fläche und Raumkörper bil- deten bei ihm eine organische Einheit des visuell Erfassbaren. Kunsthandwerk und Industrieproduktion sollten auch hier keine Gegensätze sein. Eine kluge Entscheidung, die bis heute die besondere Qualität der Burg ausmacht.“ 4 Alle Studierenden der verschiedenen Designstudiengänge absolvierten gemeinsam in gemischt zusammengesetzten Klassenverbänden die Fächer für Grundlagen der Gestaltung: Dazu zählten Naturstudium, Kompositionslehre, Plastik, Inter- aktives Gestalten, Schrift/Typografie und Farbe-Licht-Raum. Charakteristisch war die zeitintensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen. In den ersten vier Semestern des fünf- jährigen Diplomstudiums gab es nur begleitende und einfüh- rende Aufgaben in den Fachstudiengängen; die Grundlagen in gestalterischer Praxis sowie Theorievorlesungen 5 nahmen den größten Teil des Stundenplans ein. Erst im dritten Studienjahr (in dem heute in manchen Designstudiengängen bereits der Bachelor abgeschlossen wird) verlagerte sich der Schwerpunkt in Richtung des gewählten Fachgebiets. Die (Innen-)Architektur 4 Kai Buchholz, Justus Theinert: Designleh- Lothar Zitzmann, Benno Schulz: Grundlagen ren – Wege deutscher Gestaltungsausbildung. visueller Gestaltung. Dokumente zur visuell-ge- In: Querschnitt. Beiträge aus Forschung und stalterischen Grundlagenausbildung. Halle a.d. Entwicklung, hg. v. der Hochschule Darmstadt, Saale 1990. Vgl. auch Buchholz, Theinert 2007 Sonderdruck, Ausgabe 23, März 2009, S. 5. Die (Anm. 1), S. 155. Autoren verweisen in Bezug auf das Lehrsys- tem von Lothar Zitzmann auf Lothar Zitzmann: 5 Auch in den Theoriefächern bot und bietet Gedanken zur allgemeinen Grundlehre der die Burg Giebichenstein allen Designstudien- Gestaltung. Aus der Lehrmethode der Hoch- gängen ein breites Spektrum: Kunst-, Design- schule für industrielle Formgestaltung, Halle. und Architekturgeschichte, Designtheorie, In: form+zweck 2 (1968), S. 20–34; Ästhetik, Psychologie und Philosophie. 290 INGA GANZER Abb. 1: Inga Ganzer, Grundlagenübung Kompositionslehre bei Dorothea Fuhrmann, 1997, Bleistift, Kohle, Kreide auf Papier, Privatarchiv, Foto: Inga Ganzer mit ihrem abweichenden Ingenieursabschluss (vgl. unten) wurde hier genauso behandelt wie die anderen Designstudiengänge Industriedesign, Spielmitteldesign, Keramikdesign, Modedesign und Textildesign. 6 Naturstudium und Kompositionslehre wurden in jeder der gemisch- ten Klassen von derselben Lehrkraft – bei der hohen Anzahl der Stunden kann man durchaus von einer Art ‚Klassenlehrer‘ spre- chen – zeitlich parallel laufend und konzeptionell aufeinander 6 Bildende Kunst, aber auch angewandte Formgestaltung entzogen. Austausch und Anre- Kunst wie Schmuckgestaltung, Buchkunst und gungen finden aber innerhalb der Schule durch künstlerische Keramik sowie Kommunikations- Jahresausstellung, persönliche Kontakte und design wurden und werden von den Design- auch Kooperationsprojekte statt. Vgl. Buchholz, studiengängen separiert gelehrt und somit in Theinert 2007 (Anm. 1), S. 193f., darin Anmer- gewisser Weise den Zwängen der industriellen kungen zur Entwicklung in den 1960er Jahren. 291 HANDWERK UND SEHSCHULE → INHALT bezogen unterrichtet. So wurden mehrere Wochen lang zunächst ‚richtungslose‘ Formen und ihre Anordnung auf dem Blatt stu- diert: Im Naturstudium Früchte und Gemüse, in Kompositionslehre Kreise in verschiedenen Zeichen- und Collagetechniken (Abb.  1 und 2). Dabei vermittelte man Gestaltungsprinzipien wie das Figur-Grund-Verhältnis oder den Ausdruck von Bewegung und Ruhe. Es folgte in gleicher Weise die zeichnerische Erkundung ‚gerichteter Formen‘, wie Pflanzenstengel und Backsteine, bezie- hungsweise das Einüben symmetrischer Streifen- und wohlgeord- neter Rechteckkompositionen (Abb. 3). Im Abschnitt zu ‚bewegten Formen‘ wurden Faltenwürfe gezeichnet, freie malerische Grafiken entstanden. Fortan steigerte sich die Komplexität der Aufgaben, Prinzipien wie ‚Reihung‘ und ‚Spiegelung‘ wurden untersucht und das Naturstudium am lebenden Mensch und am Tier wurde betrieben. Im Hauptstudium waren dann fortgeschrittene Kom- positionslehre und Aktzeichnen begleitende Pflichtfächer. Im Folgenden sind die Grundlagenprogramme, die über zwei bis Abb. 2: Inga Ganzer, Grundlagenübung Kompositionslehre bei Dorothea Fuhrmann, 1997, verschiedene Materialien und Collagetechnik auf Papier, Privatarchiv, Foto: Inga Ganzer 292 INGA GANZER Abb. 3: Inga Ganzer, Grundlagenübung Kompositionslehre bei Dorothea Fuhrmann, 1997, Temperafarbe auf Papier, teils collagiert, Privatarchiv drei Semester verpflichtend gelehrt wurden, beschrieben. Darauf aufbauend konnten die Studierenden diese Fächer im Sinne der ‚Wahlpflicht‘ weiter belegen. Das Fach ‚Schrift‘ lehrte den Aufbau von Buchstabenformen und deren Zusammenspiel in Wörtern und Texten. Die Studierenden zeichneten zunächst eine serifenlose, lineare Antiqua mit Bleistift und Lineal, die runden Formen wurden freihändig angelegt. Sie lernten auf diese Weise, wie Linien und Innenräume zusammen- wirken und wie runde Formen ‚ausgespannt‘ werden sollen. In der Folge wurde das Alphabet mit einer bestimmten Balkenstärke neu aufgesetzt. Nun kamen der Tuschestift, Pinsel und Tempera ins Spiel – schwarz für die Buchstaben, weiß für Korrekturen (Abb.  4). Das Auge wurde im Zehntelmillimeterbereich für opti- sche Täuschungen geschult, denn ein waagerechter Balken hat optisch eine andere Stärke als ein senkrechter, und die optische Mitte liegt nicht auf der geometrischen. Beim Wortanordnen perfektionierte man dieses Sehen: Buchstaben müssen in der 293 HANDWERK UND SEHSCHULE → INHALT Reihung innerhalb eines Wortes verschiedene Abstände haben, um optisch gleichmäßig zu erscheinen. Später erkundeten die Studierenden zeichnerisch abgewandelte Schriftschnitte und ver- schiedene Arten von Serifen. In der fakultativen Erweiterung wur- den Übungen zum Logoentwurf und das Schreiben historischer Abb. 4: Inga Ganzer, Grundlagenübung Buchstabenzeichnen bei Hannelore Heise, 1997, Temperafarbe auf Papier, Privatarchiv, Foto: Inga Ganzer 294 INGA GANZER Abb. 5: Inga Ganzer, Grundlagenübung Plastik zum Thema „Drehung“ bei Wolfgang Dreysse, Ton gebrannt, 1998. Bildnachweis: Inga Ganzer, Grundlagenübung Plastik zum Thema „Drehung“ bei Wolfgang Dreysse, 1998, Ton gebrannt, Privatarchiv, Foto: Inga Ganzer 295 HANDWERK UND SEHSCHULE → INHALT Schriften mit der Feder angeboten, bei denen auch optische Phänomene im Textspiegel berücksichtigt werden mussten. Das Fach ‚Typografie‘ wurde sogar begleitend von einem zweiten Dozenten gelehrt. Er hielt Vorlesungen zur Typografiegeschichte, ließ Buchstabenformen in der Alltagswelt erforschen und beglei- tete die Erstellung eines frei erfundenen Alphabets. Auch dies war verpflichtend für alle Designstudiengänge. Dabei ging es in bei- den Teilfächern nicht nur um Schriften und Typografie im enge- ren Sinn. Vielmehr vermittelten die Übungen ein Verständnis für Typologien, für gestalterische Konsistenz, etwa in Produktserien, sowie den Blick für das Detail und das Zusammenspiel von positi- ven Formen und negativen Zwischenräumen. Im Fach ‚Plastik‘ – ebenso für das Design obligatorisch – wurden zunächst vasenähnliche und später skulpturale Tonobjekte von Hand gezeichnet und aufgebaut. Es sollte mit diesen Übungen erkundet werden, wie zwei verschiedenförmige Körper (etwa Zylinder und Kugel) miteinander harmonisch verschmelzen können. Dabei wurden auch hier Sehprinzipien, Proportionen, Linienführung sowie Formcharakteristika (konkav/konvex) erläu- tert und geübt, lauter Merkmale und Eigenschaften, die nicht nur auf Gefäße, sondern auch auf andere Produkte bezogen werden können (Abb.  5). Im weiterführenden Wahlpflichtsemester dieses Faches innerhalb des Grundstudiums wurden Porträtbüsten vom lebenden Modell gefertigt. Im Fach ‚Material/Form/Objekt‘ näherte man sich dem Umgang mit unterschiedlichen Materialien auf thematisch-konzeptionellem Weg. Die Aufgabenstellung forderte beispielsweise, ein Muster in gleichem Format und gleicher Größe sechs Mal in verschiedenen Ausgangsstoffen umzusetzen. Ein anderes Mal sollte mittels einer plastisch zu fertigenden Ziffer eine bestimmte, selbst gewählte Eigenschaft (‚mächtig‘, ‚behäbig‘, ‚hausbacken‘) zum Ausdruck gebracht werden, nämlich durch die Wahl der Form, des Materials und der Verarbeitung des Materials. In diesem Fach erlernte man auf spielerische Weise konzeptionelles Herangehen, den Umgang mit Ausdrucksmitteln und die sowohl gestalterisch durchdachte als auch handwerkliche Umsetzung. Letztere wurde in den späteren Wahlpflichtsemestern des Faches bis zur Perfektion getrieben. Mit 296 INGA GANZER Papier, Karton und Gips erstellten die Studierenden unter höchs- ten Anforderungen an die handwerkliche Präzision Formstudien zur Umsetzung räumlicher Körper, Gestaltungsprinzipien und Kurvenkombinationen (Abb. 6). Das Fach ‚Farbe/Licht/Raum‘ beschäftigte sich mit dem Zusammenspiel von Farbtönen und ihren Abstufungen. In lang- wierigen Übungen wurden quadratische Bildformate mit wie- derum quadratischen Formen gefüllt, um zu verstehen, wie Farben dominieren oder sich unterordnen können und wie mit deren Einsatz flächige oder räumliche Wirkungen erzielt wer- den (Abb.  7). Eine der Aufgaben bestand darin, eine zurückhal- tende Hintergrundfarbe zu wählen und darauf verschieden große Quadrate in unterschiedlichen Farbtönen anzuordnen, wobei in der Regel die Quadrate in dominanten Farben in geringerer Anzahl und Größe verwendet wurden – wie wenige Möhrenstücke in der vom Lehrer als Bildmetapher gemeinten harmonisch-schmack- haften Gemüsesuppe der ‚Gestaltung‘. Dabei durfte in keinem Fall der Hintergrundton überdeutlich zwischen den aufgesetzten Quadraten hervortreten. Dann hieß es: „Sieh‘ mal, wie es gittert!“ Ein geflügeltes Wort, das viele Absolventinnen und Absolventen des Faches aus dieser Periode wohl bis heute begleitet. Die Ergebnisse der verschiedenen Übungen hatten frappierende Ähnlichkeit mit den Beispielen des Bauhaus-Meisters Johannes Itten in Kunst der Farbe 7. Die Autorin erinnert sich jedoch nicht bewusst daran, dass die theoretischen Ausführungen Ittens Teil des Unterrichts und Hintergrund der Übungen gewesen wären. In einem freieren Raumprojekt innerhalb des Faches Farbe- Licht-Raum wurden später farbige Skulpturen gefertigt und ihre Wechselwirkungen mit Raum und Licht beobachtet. Zu den Grundlagen gehörte weiterhin das Fach ‚Interaktives Gestalten‘, das die Arbeit in einer Gruppe und die Wechselwirkung zwischen Objekt und Nutzerinnen und Nutzern als Thema ver- folgte; geschult wurde wiederum anhand von spielerischen, 7 Vgl. Johannes Itten: Kunst der Farbe. Übung in diesem Fach sollten farbige Quadrate Subjektives Erleben und objektives Erkennen mit möglichst flächiger Wirkung auf das Blatt als Wege zur Kunst. Gekürzte Studienausgabe. gebracht werden. Leipzig 2001, S. 35, 39, 61. Für die erste 297 HANDWERK UND SEHSCHULE → INHALT Abb. 6: Harald Pofahl, Übung zu Formentwicklung und Formtransfer, Thema „Prozess“, im Fach Material Form Objekt bei Kathrin Grahl, Gips und Karton, 2007. Foto: Justus Richter manchmal exzentrisch-absurd anmutenden Aufgabenstellungen. Zudem erprobten die Studierenden im Fach ‚Präsentation‘, wie Themen dramaturgisch folgerichtig, kompakt, verständlich und ansprechend mit analogen und digitalen Medien vermittelt werden können. Auch hier wurden eher fachunspezifische Gegenstände aufgegriffen, die die Studierenden nach ihren eigenen Interessen bestimmen konnten. Pädagogisch absichtsvoll ging es in einer Aufgabe um ein zu beschreibendes Objekt (als Beispiel ‚Fachwerk‘ oder ‚Bikini‘), in der zweiten Aufgabe um einen Prozess (um das Stricken oder das Brühen von Tee) (Abb. 8). Die Arbeit erfolgte in fachübergreifenden Gruppen, und die Medien zur Präsentation konnten ebenfalls nach den jeweiligen Präferenzen und Fähigkeiten der Studierenden gewählt werden: Collage, Poster und Modell waren dazu die erprobten analogen Arbeitstechniken und Ausdrucksmedien, hinzu kam die vor dem Jahr 2000 noch relativ neue, aber bald gern genutzte Form der Bildschirmpräsentation. Die Themen wurden von den Studierenden immer engagiert und eigenständig aufgearbeitet und mit Techniken vom Buchbinden 298 INGA GANZER Abb. 7: Juliane Moldrzyk, Grundlagenübung Farbe/Licht/Raum bei Ludwig Ehrler und Werner von Strauch, Tempera auf Papier, 1998. Privatarchiv, Foto: Juliane Moldrzyk bis zur Fotoentwicklung (es gab noch eine Dunkelkammer auf dem Campus!) umgesetzt. In einem erweiterten Kurs wurde in dieser Zeit sogar Trickfilmbearbeitung angeboten, wofür man Nachtarbeit und mehrfache Zugfahrten nach Weimar in das Büro des Dozenten als selbstverständlich in Kauf nahm. Im Gegenzug konnte man immer wieder auf die Expertise des Dozenten als Beratung und Begleitung auch bei Projekten in den Fachstudiengängen, also beispielsweise in der Innenarchitektur, zurückgreifen. 8 8 Die Ergebnisse und das weiter entwickelte Präsentation von Designprojekten. Wann erzäh- Lehrkonzept des Faches wurden aufbereitet in le und zeige ich was wie wem? Weimar 2001. der Broschüre: Andreas Papenfuss (Hg.): 299 HANDWERK UND SEHSCHULE → INHALT Das fachferne Experimentieren in allen Grundlagenkursen, auch und besonders im Austausch mit den Kommilitoninnen und Kommilitonen aus den anderen Studiengängen, erwei- terte den Horizont und befreite von allzu engen fachspezifischen Fahrgleisen. Auf der anderen Seite erlernte man Grundprinzipien und ‚Merksätze‘, die im jeweils eigenen Entwurfsfach dann immer wieder von Nutzen waren. Innenarchitektur zwischen analog und digital Paul Thiersch richtete bereits 1915 eine Klasse für Architektur und Raumausstattung an der Burg Giebichenstein ein. Mit Ausnahme der Zeit des Naziregimes gab es stets Klassen und Abteilungen für Architektur und Raumgestaltung in Halle, wenn auch mit wechselnden Schwerpunkten und Ausrichtungen, wie etwa Möbel- und Ausbaugestaltung sowie Arbeitsumweltgestaltung in den 1960er und 1970er Jahren. 9 In dem hier behandelten Zeitraum hieß der Studiengang dann ‚Innenarchitektur‘, was nahezu programmatisch zu verstehen ist: Ende der 1990er Jahre wurde damit ein Prozess abgeschlos- sen, der es mit sich brachte, dass anstelle des Abschlusses ‚Diplom-Designer‘ den Innenarchitekturstudierenden der Titel ‚Diplom-Ingenieur der Fachrichtung Innenarchitektur‘ verlie- hen werden konnte. Der Abschluss sollte deutlich aufgewer- tet und mit Blick auf die freien Berufe dem Architekten gleich- gestellt werden. Die Studieninhalte erhielten zusätzlich eine technische Ausrichtung, Baukonstruktion, Statik, Technische Gebäudeausrüstung und Bauphysik waren Teil des Lehrplans. Dennoch blieb es im Zusammenhang mit den Grundlagenfächern bei einer gestalterisch-künstlerischen Gesamtausrichtung, in der das Konzeptionelle und Experimentelle Vorrang behielt aber mit praktischen Aspekten verknüpft blieb. Hinzu kam die Möglichkeit, Möbel und Modelle in der angegliederten, profes- sionell ausgestatteten Tischlerwerkstatt unter Anleitung von 9 Vgl. zur Geschichte der Hochschule URL: http://www.burg-halle.de/hochschule/hoch- schulkultur/geschichte/ (20. Juli 2017). 300 INGA GANZER Fachkräften zu fertigen. Teilweise waren für die Kunststoff- und Metallbearbeitung auch Werkstätten anderer Fachgebiete nutzbar. 10 Insbesondere bei solchen Entwurfsprojekten und Abschlussarbeiten, die der Aufgabenstellung nach im Grunde in Prototypen für Möbelprodukte mündeten, hatten die End- ergebnisse in der Regel eine sehr hohe Fertigungsqualität. Eine weitere Herausforderung stellten die sogenannten ‚neuen Medien‘, also computerbasierte Entwurfswerkzeuge und Dar- stellungsmethoden, dar. Im Studienjahrgang ab 1997 wur- den erstmals CAD-Zeichenprogramme im Hauptstudium als Standard angewandt; im erst 1996 errichteten Medienzentrum der Kunsthochschule fanden nun Kurse zur Bildbearbeitung und zur Nutzung von Layout-Programmen statt. Begleitet wurde dieser Prozess von einer leidenschaftlichen Debatte um die Ausrichtung der Schule am Bildungsmarkt. Welche Rolle soll- ten digitale Werkzeuge vor dem Hintergrund der handwerk- lich-gestalterischen Tradition der ‚alten Schule‘ einnehmen? Nicht unerheblich für diese zeitweise dogmatisch anmutende Meinungsbildung innerhalb der Diskussionen war der parallel stattfindende Lehrkräftewechsel aus Altersgründen. Im Zuge der Umstellung auf das Bachelor- und Mastersystem mussten ab 2005 nun die oben beschriebenen Grundlagen- angebote deutlich eingeschränkt werden. Einige Kunsthoch- schulen, auch die Burg, haben darauf reagiert, in dem sie das Bachelorstudium auf acht Semester und das Masterstudium auf zwei Semester anlegten, um die als nach wie vor essenzi- ell verstandene Grundlehre nicht weiter kürzen zu müssen. Die ausgedehnte Grundlagenausbildung bedeutete im Übrigen nicht, dass die innenarchitektonische Entwurfslehre auf lediglich for- mal-ästhetische Designaspekte (ab)zielte. Im Hauptstudium wurden in der Regel vier Entwurfsprojekte zur Wahl geboten, die die Studierenden jahrgangsübergreifend belegten. Dies hatte den Vorteil, dass man von den Erfahrungen und Kenntnissen 10 Im Gegensatz zu anderen Schulen waren Personen ab, ob man fachfremde Werkstätten, die Werkstätten den Studiengängen zuge- insbesondere im Fachbereich Kunst, nutzen ordnet, und es hing eher von persönlichen konnte. Kontakten und der Tagesform der zuständigen 301 HANDWERK UND SEHSCHULE → INHALT Abb. 8: Holger Beisitzer, Daniela Hirsch, Inga Ganzer, Fotoserie „Tee brühen“, Übung im Fach „Präsentation“ bei Andreas Papenfuß, Fotopapier, gefärbt, 1998, Privatarchiv der höheren Semester profitieren konnte. Die Altersmischung innerhalb der Studienjahre war ohnehin gegeben. Dies beför- derte den Austausch untereinander, hinzu kam die intensive Entwurfsbearbeitung durch das tägliche gemeinsame Arbeiten in den Projekträumen der Burg. Die einzelnen Entwurfsangebote erstreckten sich vom Möbelentwurf über das Bauen im denkmal- geschützten Bestand bis hin zu thematischen Ausbauprojekten oder sogar zur Lösung kleinerer Architekturaufgaben. Jeder der damals tätigen vier Professoren beziehungsweise Dozenten prägte die Lehre auf jeweils eigene Weise und mit seinem ganz persönlichen Hintergrund, der eine etwa mit italienischer Erfahrung und dem Blick für gute Ausbaudetails, der andere mit sozialen Aspekten und der damals noch eher ungewöhnlich strengen Forderung nach Barrierefreiheit, ein dritter mit poeti- schen Aufgabenstellungen und einem Sinn für Kunst und redu- zierte Plandarstellungen. Im Fach Grundlagen des Entwerfens kamen zudem verschiedene Entwurfsmethoden mit deren unter- schiedlichen Herangehensweisen zur Sprache. Nach einer Studienreform, die das Jahr der Diplomarbeit noch- mals in zwei Entwürfe unterteilte, hatte man am Ende des Studiums sechs große Planungsaufgaben und mehrere kleinere Entwürfe aus dem Grundstudium und den technischen Fächern absolviert. 302 INGA GANZER Der Wert einer Gestaltungsausbildung: Erfahrung und Kritik Gemeinhin beruht die Qualität der Gestaltungslehre nicht allein auf einem inhaltlichen oder pädagogischen Konzept, genauso abhängig ist sie vom Engagement der Lehrenden wie vom Potenzial der Studierenden. So konnten auch an der Burg nicht alle Lehrenden immer gleich den tieferen Sinn der Grundlagenübungen vermitteln, genauso wenig vermoch- ten die Studierenden sofort den Wert einer fachfremden Aufgabenstellung für den eigenen Werdegang zu erkennen. Einige Lehrende der alten Schule erschienen teilweise verhaftet in den scheinbar jahrzehntelang bewährten und wenig reflektier- ten sowie oft nicht theoretisch hinterlegten Fleißübungen, wäh- rend manche der neuen Lehrkräfte um das Jahr 2000 durchaus frischen Wind und zeitgemäße Methoden – etwa Elemente aus Wissenschaft, neue Medien oder beruflichen Praxisbezug – ein- brachten. Mit Rückbezug zur Geschichte der Grundlagenlehre an deutschen Ausbildungsstätten erklären Kai Buchholz und Justus Theinert die Fortführung der immer gleichen Aufgaben folgen- dermaßen: „Bei der Neubesetzung von Grundlagenstellen nach dem Zweiten Weltkrieg bevorzugte man Bauhaus-Absolventen, da sie als politisch unbelastet galten und eine gründlich syste- matische Lehre genossen hatten. Die meisten von ihnen erwie- sen sich jedoch als epigonal: Sie waren oft gar nicht in der Lage, die Lehre auszuführen, geschweige denn zu hinterfragen. So ver- breitete sich fast flächendeckend eine unverstandene und starr formalisierte Vorlehre, die stur abgearbeitet und nicht kreativ weiterentwickelt wurde.“ 11 Hierzu sei ein kleiner Exkurs gestattet: Peter Greenberg 12, Associate Professor of Interior Design am Wentworth Institute of Technology Boston, bestätigt aus amerikanischer Sicht diesen 11 Buchholz, Theinert 2009 (Anm. 4), S. 5. 12 Die Autorin dankt Peter Greenberg für die hilfreichen Hinweise und den anregenden Austausch im persönlichen Gespräch am 29. Juni 2016 und per Email im September und Oktober 2017. 303 HANDWERK UND SEHSCHULE → INHALT Eindruck: Alexander Kostellow und Rowena Reed Kostellow ent- wickelten und lehrten hier beispielsweise in den 1930er Jahren einen Grundlagenkurs für Design, der Elemente aus dem Bauhaus-Vorkurs aufnahm, und der unter anderem Formstudien in Papier, Gips und Ton, mit Themen wie ‚Verschmelzung‘, ‚Adaption‘ oder ‚organische Formen‘ berücksichtigte. Absolventinnen und Absolventen dieses Kurses, vornehmlich am Pratt Institute in New York, verbreiteten diese Lehre dann weiter. Gail Greet Hannah erläutert die Aufgaben dieses Kurses, die Rowena Reed Kostellow über 50 Jahre lehrte, in ihrem Buch Elements of Design 13 genauer. Und laut Peter Greenberg wurde dieses Buch noch vor etwa fünf Jahren im Studiengang Interior Design am Wentworth Institute of Technology als Lehrbuch verwendet, und bis heute finden sich Aufgaben in Anlehnung an diesen Grundlagenkurs an amerikani- schen Instituten. 14 Peter Greenberg, befragt nach einer Einschätzung dieser ‚Tradition‘, kritisiert an der unreflektierten Weiterführung dieser Lehre vor allem das Priorisieren der Abstraktion anhand nur einiger ausgewählter Materialien, die Beschränkung auf wenige wichtige Formen und Kurvenarten sowie den Anspruch der Universalität dieser Lehre. 15 Er fordert, dass die Studierenden sich mehr mit den Materialien der Realität und deren tatsächlichen technischen Verbindungsarten und ihren Ausdrucksmöglichkeiten auseinan- dersetzen – eine Option, die an der Burg Giebichenstein aufgrund der vorhandenen Werkstätten möglich war und ist. In Bezug auf die Lehre zur Innenarchitektur weist Greenberg zudem darauf hin, 13 Gail Greet Hannah: Elements of Design: Ro- (Anm. 1), unterstreichen zudem die Parallelen wena Reed Kostellow and the Structure of Visual innerhalb der deutschen Ausbildungsland- Relationships (Design Briefs). New York 2002. schaft. 14 Die beschriebene Verbreitung der Elemente 15 Diese Aussage deckt sich mit den Erfahrun- des Bauhaus-Vorkurses erklärt erstaunliche gen der Autorin, die während drei Semestern Parallelen zwischen den Studienarbeiten der mit insgesamt mehr als 30 Studierenden des verschiedenen Hochschulen in Deutschland Wentworth Institute of Technology, kaum eine und den USA. Während der Hospitation im Handvoll mit handwerklicher Vorerfahrung ken- Rahmen eines Lehrauftrages am Wentworth nen lernte. So hatten einige Studierende sogar Institute of Technology in Boston im März 2013 Schwierigkeiten, die abstrahierenden Grund- erlebte die Autorin selbst, wie stark die dortigen lagenübungen ausdrucksstark auszuführen, Grundlagenkurse den Aufgaben an der Burg da sie damit rangen, zunächst überhaupt das Giebichenstein ähnelten. Die Ausführungen Material zu beherrschen oder die Umsetzung und Abbildungen in Buchholz, Theinert 2007 der Aufgabe vorab konzeptionell zu planen. 304 INGA GANZER dass bestimmte Formübungen Raum als Objekt und weniger als ein ‚Gefäß‘ vermitteln und ursprünglich für das Produktdesign entwickelt wurden, so dass für raumbildende Studiengänge teils andere Aspekte gelehrt werden sollten. Trotz dieser kritischen Reflektion betont auch er die hohe Relevanz des ‚Machens‘ mit der Hand – ob beim Zeichnen oder Bauen: „I agreed that among the fundamental skills a young Interior Designer should have is mastery of line – but not based on a formula, but based on the control of a tool – an extension of the hand – like a pencil. […] While I still believe that mastering a tool like a pencil is funda- mental, I actually feel stronger that the foundation of interior and architectural education does not lay in drawing – in representa- tion – but in construction – or making. Teaching a young student about material and craft and how materials fit together is actually more important than teaching them how to draw. We need them to be able to communicate through drawing, but that is not the fundamental skill. It is what to draw.“ 16 Die Relevanz von Greenbergs Forderung wird umso deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass das Interior Design Department in Wentworth aus finanziellen Gründen keinerlei Werkstätten anbie- ten kann. 17 Vor dem Hintergrund des in den letzten Jahren zuneh- mend geführten Diskurses über die Bedeutung des Handwerks und der Handarbeit insbesondere in der Designausbildung 18 stellt sich also die Frage, inwieweit vor allem die Arbeit mit den Händen und das Vermitteln von gestalterischen Grundelementen im Sinne einer ‚Sehschule‘ auch im digitalen Zeitalter von Bedeutung sind. Dabei soll hier deutlich gemacht werden, dass gerade die Auge- Hand-Koordination eine wichtige Basis für das Verankern von 16 Peter Greenberg in einer Email an die 18 Vgl. z. B. Bayerischer Kunstgewerbeverein Autorin, 27. September 2017 [Hervorhebung im e.V. (Hg.): Handwerk – Denkschule der Evolu- Original]. tion. Quo vadis, Kunsthandwerk im digitalen Zeitalter? Eine Veranstaltung des Bayrischen 17 Die größeren Abteilungen ‚Architecture‘ Kunstgewerbevereins, des Münchner Stadt- und ‚Engineering‘ dagegen haben Werkstätten. museums und der Danner-Stiftung. Nr. 70 der Dem ‚Interior Design‘ stehen allerdings feste Schriftenreihe des Bayrischen Kunstgewer- Studioarbeitsplätze zur Verfügung und es wird bevereins e.V. München 2016; Arbeitsgemein- großer Wert auf Modellbau gelegt. Peter Green- schaft des Kunsthandwerks Hamburg e.V., berg an die Autorin, Email vom 30. Oktober Isabelle Hofmann (Hg.): Kunsthandwerk 4.0. 2017. München, Hamburg 2016. 305 HANDWERK UND SEHSCHULE → INHALT Wissen ist und bleibt. Abgesehen von Erkenntnissen aus der Gehirnforschung 19 muss sich die Designlehre vermehrt die Frage stellen, wie sich die Grundlagen für ‚gute Gestaltung‘ in der Kürze eines Bachelorabschlusses überhaupt vermitteln lassen. In der aktuellen Innenarchitekturlehre, insbesondere an Schulen, die die Bewerberinnen und Bewerber weniger streng oder gar nicht aus- wählen, ist zu erleben, dass Studierende gar nicht das Vokabular von geometrischen Grundformen und Körpern beherrschen, um Gebäude und Objekte zu beschreiben. Sie besitzen kaum oder keinerlei handwerkliche Erfahrungen und kein statisches Verständnis, um Konstruktionen für Raum- und Möbelentwürfe auch nur ansatzweise zu konzipieren. Auch das Abiturwissen aus Kunst, Geschichte, auch Mathematik und Geometrie oder gar dem Deutschunterricht ist oft nicht ausreichend vorhanden oder nicht mehr abrufbar. Der Autorin möchte an dieser Stelle beto- nen, dass die zum Beispiel an der Burg Giebichenstein geforder- ten Zulassungsbedingungen bereits als ein erster essentieller Teil der Ausbildung zu werten sind. Die Defizite, die aus fehlen- der Vorbildung resultieren, sind mit einem reinen Projektstudium in einem dreijährigen Bachelorkurs schlicht nicht zu kompensie- ren. Hinzu kommt, dass oft Werkstatträume oder Studios feh- len, welche beim Ausprobieren gestaltender Techniken ruhig ‚Patina‘ ansetzen dürfen, und worin praktische Erfahrungen mit Baumaterialien und Werkzeugen gemacht oder Entwürfe im Maßstab 1:1 umgesetzt werden könnten. Nur ansatzweise lassen sich bei Konsultationen einzelner Studierender, oder sehr ver- kürzt in Tagesworkshops, die Grundprinzipien des Gestaltens, etwa der Goldene Schnitt, farbpsychologische Wirkungen oder tektonische Ausdruckselemente vermitteln. Meist gehen diese Hinweise in unreflektierten, geschmacklichen Präferenzen oder bei der Verwertung von trendorientierten, bildlichen Anregungen aus der Weite des Internets unter. Konzeptionell begründete 19 Im Kontext des Diskurses zur Zukunft des Kunsthandwerks vgl. Nicolaus König: Hirn und Hand – ein Lernprozess. Aspekte aus der Sicht des Neurologen. In: Handwerk – Denkschule der Evolution 2016 (Anm. 18), S. 95–115. 306 INGA GANZER gestalterische Entscheidungen entstehen so nur selten. Im Vergleich zum oben beschriebenen und mit einer intensiven ‚analogen‘ Grundlehre begonnenen Diplomabschluss an der Burg fehlen am Ende des Studiums heute nicht nur die gestal- terischen Kompetenzen, sondern man sucht selbst nach den eigentlich als Zulassungsvoraussetzung geforderten Fähigkeiten vergebens. Was spräche also gegen einen neuen Vorkurs, eine Art Studium generale, das die Designanwärterinnen und -anwär- ter zunächst fachunspezifisch handwerklich, gestalterisch und möglicherweise auch theoretisch auf das kurze Bachelorstudium einstimmt? Sicher bereitete das Innenarchitekturstudium an der Burg Giebichenstein in den genannten Jahren nicht unbedingt auf das ‚echte‘ Leben in der Praxis vor. In den Wirren der Umstellung hin zum Ingenieursstudium fielen schon einmal Kurse zu ‚Projektsteuerung‘ aus; von Baurecht und Baukosten hörte man letztlich wenig; Kooperationen mit externen Firmen oder Bauherren waren im besprochenen Zeitraum (noch) nicht üblich. Auch die Lehre in den technischen Fächern war teil- weise stark komprimiert und hätte zur besseren Vertiefung des Wissens mehr auf die Entwürfe bezogen werden können. Aber das Studium in Gänze gab den Absolventinnen und Absolventen ein gestalterisches Handwerkszeug mit, welches die zeitlos gül- tige Grundlage des Berufes ausmacht, in dem es darum geht, funktional und gestalterisch fundierte Lösungen zu entwickeln und mit den verschiedensten Mitteln in hoher Qualität optisch und gegebenenfalls haptisch aufzuarbeiten und zu präsentie- ren. Aus Sicht der Autorin gingen vor allem durch die zeitinten- sive Arbeit mit Hand und Auge Gestaltungsprinzipien ‚in Fleisch und Blut‘ über. Auch nach 20 Jahren greift man dann bei der Erstellung eines Wettbewerbsplakates intuitiv auf das Wissen aus Kompositionslehre und Schrift zurück. Gleichzeitig ist man aber auch in der Lage, mit den Ausführenden auf dem Bau hand- werkliche Lösungsvarianten zu diskutieren. Für die nötige Übung in der Praxis und das Erlernen gesetzli- cher Vorschriften sind Praktika, Weiterbildungsangebote der Berufsverbände und Kammern und die Erfahrung bei der ersten 307 HANDWERK UND SEHSCHULE → INHALT Anstellung sinnvoll, doch was sich kaum je nachholen lässt, sind der Lerneffekt der zeitintensiven, präzisen Handarbeit und die Schulung des Auges für Farbtöne, Formen, Abstände und Linien aus einer grundlegenden Gestaltungslehre! In diesem Sinn ist dieser Bericht ein Plädoyer dafür, das Studium aller Gestaltungsfächer – von Design bis Architektur – auch und vor allem als Ausbildung zu betrachten, in der es darum gehen muss, ‚Werkzeuge‘ zur gestalterisch fundierten und menschen- orientierten Entwurfsarbeit mitzugeben. Die Absolventinnen und Absolventen dieser Fächer beeinflussen schließlich später unser aller Lebenswelt. 308 KERSTIN RENZ KERSTIN RENZ Benennen heißt erkennen 50 Jahre „Bildwörterbuch der Architektur“ von Hans Koepf Das Bildwörterbuch der Architektur von Hans Koepf ist erst- mals 1968 im Alfred Kröner Verlag Stuttgart erschienen. Geschrieben für Studierende und interessierte Laien gehört das kompakte Taschenlexikon seit nunmehr 50 Jahren zu den Lehrbuchklassikern in der Architektenausbildung, es wird aber auch in den Vorlesungen zur Kunstgeschichte und Denkmalpflege empfohlen. Der Beitrag fragt nach den Hintergründen des Bucherfolges, befasst sich mit dem Kontext der Entstehung in den 1960er Jahren und stellt schließlich den Autor und sein Selbstverständnis als Hochschullehrer und Stadtbaukritiker vor. Benennen heißt erkennen – oder umgekehrt: wer keine Worte findet für die gebaute Umwelt, ist auch nicht in der Lage, sie zu verstehen. Soweit die Auffassung des Bauhistorikers und Hochschullehrers Hans Koepf (1916–1994), der über viele Jahrzehnte hinweg in Stuttgart und Wien in der Ausbildung von Architektinnen und Architekten tätig war. Bekannt ist er vor allem als Autor von Lehrbüchern für diesen Berufsstand und für fach- lich interessierte Laien, eine opulente Publikationsliste legte er selbst in Buchform vor. 1 Sein Bildwörterbuch der Architektur aus dem Stuttgarter Kröner Verlag 2 gehört seit nunmehr 50 Jahren zu den Lehrbuchklassikern in der Architekturausbildung. Hier 1 Hans Koepf: Hans Koepf Aktivitäten 2 Hans Koepf: Bildwörterbuch der Architektur. 1945–1970, Institut für Baukunst, TU Wien. Mit 1300 Abbildungen, Alfred Kröner Verlag, Wien o. J. Reihe Kröners Taschenausgabe Band 194. Stutt- gart 1968. Die Autorin dankt Günther Binding und Alfred Klemm, dem Verlagsleiter des Kröner Verlages, für die freundlichen Auskünfte. 309 BENENNEN HEISST ERKENNEN → INHALT blättern die Studierenden spätestens dann darin, wenn die Baugeschichte-Prüfung näher rückt, es wird aber auch in den Vorlesungen zur Kunstgeschichte und Denkmalpflege empfoh- len. 3 „Der Koepf“, wie das Wörterbuch auch gerne genannt wird, gehört zu den meistverkauften Architekturnachschlagewerken auf dem deutschen Buchmarkt 4 (Abb.  1). Seit seinem ersten Erscheinen im Jahr 1968, ist mittlerweile die fünfte Neuauflage auf dem Markt. 5 Erst die dritte posthum erschienene Auflage von 1999 wurde inhaltlich überarbeitet und verfügt seither über ein mehrsprachiges Glossar, dessen Autor der Kunsthistoriker Günther Binding ist. 6 Es gibt abgesehen von der Neufert’schen Bauentwurfslehre wohl kaum ein Nachschlagewerk in der Architektur, das eine derartige Verbreitung und Bekanntheit hat. Die jahrzehntelange Präsenz eines Fachbuches in der Lehre ist bemerkenswert und wirft zugleich Fragen auf, mit denen sich dieser Beitrag ausein- andersetzt. Es sind Fragen zum Kontext der Entstehung in den 1960er Jahren, zum Autor und seinem Selbstverständnis als Hochschullehrer und Architekturkritiker und letztlich auch zur Leserschaft. Wie rückt ein solches Buch in den Lehrbuchkanon ein, obwohl die Konkurrenz auf dem Buchmarkt groß ist: Um kom- pakte Darstellung bemühte illustrierte Nachschlagewerke im Fachbereich Architektur lassen sich in den letzten Jahren gut 3 Dies geht u. a. aus der Tagung Bild, Sprache 5 1. Auflage 1968, 2. unveränderte Neuauflage und Architektur. Hans Koepf und die Erziehung 1974 mit Nachdrucken in 1982 und 1985, ab der zur Anschaulichkeit hervor, die in Kooperation 3. Auflage 1999 um ein fremdsprachiges Glossar mit Elke Sohn (HFT Stuttgart), und Caroline ergänzt und inhaltlich bearbeitet von G. Binding, Jäger-Klein/Erich Lehner (TU Wien) 2016 an der 4. überarbeitete Auflage 2005, 5. erweiterte HFT Stuttgart stattfand. Auflage 2016. 4 Leistikow attestiert in seiner Rezension 6 Günther Binding (Jg. 1936) war bis 2001 einen „guten Gebrauchswert“ und empfiehlt die Professor für Kunstgeschichte und Stadterhal- Anschaffung; Dankwart Leistikow: In: Journal für tung und Direktor des Kunsthistorischen Instituts Kunstgeschichte 7 (2003), H. 3, S. 195–198, hier mit der Abteilung Architekturgeschichte an der S. 198. Universität Köln. Die Nachfolge von Hans Koepf auf dem Wiener Lehrstuhl lehnte er ab. Mit dem Titel Architektonischen Formenlehre verfasste er 1980 selbst ein Standardwerk für die Architektur- lehre; vgl. auch URL: www.guenther-binding.de/ biographie.htm (6. Oktober 2017). 310 KERSTIN RENZ Abb. 1: Titelillustration von Hans Koepf: Das Bildwörterbuch der Architektur. 1. Auflage, Stutt- gart 1968. Mit freundlicher Genehmigung des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart 311 BENENNEN HEISST ERKENNEN → INHALT verkaufen, auch wenn das Smartphone den Ratlosen manchmal die schnellere Hilfe anbietet. Die (studentische) Nachfrage nach mundgerechtem Wissen ist schon immer eine Herausforderung, die man negieren oder auf die man reagieren kann. Die Autoren und Autorinnen der ausbildungsaffinen Kompaktliteratur sind nicht selten etablierte Hochschullehrende, für die der Reiz eines solchen Buches auch darin besteht, den eigenen Namen mit einem Standardwerk zu verbinden. 7 Diese Motivation wird auch Hans Koepf nicht fremd gewesen sein, der zum Zeitpunkt des Erscheinens Lehrstuhlinhaber am damaligen Institut für Baukunst und Bauaufnahmen der TU Wien war. 8 Was ihn beim Verfassen des Bildwörterbuchs vor allem umtrieb, war die Standardisierung der Fachsprache und ihr frühes Erlernen im Architekturstudium. Sein Credo in der Lehre war die sichere Grundlagenbildung vor einer zu frühen Spezialisierung. Benennen heißt erkennen, das hieß nach Koepf aber auch: wer die Elemente und Strukturformen der Architektur nicht mehr bezeichnen konnte, der hatte ihre Grundprinzipien nicht verstan- den und lief nach seinem Standpunkt Gefahr, das ‚Falsche‘ zu bauen. Und dass allenthalben das Falsche gebaut wurde, davon war Koepf überzeugt. Dem planenden Nachwuchs in den 1950er und 1960er Jahren wollte er Struktur und Form der Architektur von der Antike bis zur Gegenwart verständlich und einprägsam vermitteln. Die Hoffnung, über das Verständnis der Historie deren Zerstörung verhindern zu können, trieb ihn angesichts der geschichtsvergessenen Verkehrs- und Stadtplanung der Nachkriegsmoderne um. Als studierter Architekt, der über ein kunsthistorisches Thema promoviert hatte, schrieb er mit dem Bildwörterbuch ein Lehrbuch zum Sprechen über die Architektur, kein Lehrbuch vom Bauen. Dabei ging er unerschütterlich davon aus, dass hinter 7 Nach wie vor greifbar: Werner Müller, Wörterbuch der Architektur, 18. Auflage 2018; Gunther Vogel: dtv-Atlas zur Baukunst. Tafeln Klaus Jan Philipp: Das Buch der Architektur, und Texte, 2 Bände. 16. Auflage, München 2015 2., akt. u. erw. Auflage 2017. (Erstauflage 1981); Wilfried Koch: Baustilkunde. Das Standardwerk zur europäischen Baukunst 8 Heute: TU Wien, Institut für Kunstgeschich- von der Antike bis zur Gegenwart. 27. Auflage, te, Bauforschung & Denkmalpflege, Fachgebiet München 2006 (Erstauflage 1982); neuerdings: Baugeschichte und Bauforschung, Leitung Marina Döring-Williams. 312 KERSTIN RENZ jedem Entwurfsvorgang ein Regularium stehe, das in Sprache und Begrifflichkeit übertragbar sein müsse, während sich die Entwurfslehrstühle und die Ingenieurwissenschaften seiner Zeit längst mit Strukturformen des Bauens auseinandersetzten, für die es noch keine feststehenden Begriffe gab. Insofern ist Koepfs Strategie der Wissensvermittlung im Bildwörterbuch auch ein Stück Disziplin- und Didaktikgeschichte der Architektur. Aufbau und Eigenarten des Bildwörterbuchs Ein Blick in die Erstausgabe von 1968 zeigt den einfachen Aufbau, der sich Leserinnen und Lesern bis heute sofort erschließt. Koepfs im Vorwort formulierte Zielsetzung der „strengen Konzentration auf das Wesentliche“, der „größt- möglichen Knappheit der Darstellungen“ und der „systemati- schen Vereinfachung der Zeichnungen“ 9 ist umgesetzt. Das „Wesentliche“ bildet sich in einem Thesaurus von rund 2.400 Stichworten ab. Zusammen mit dem Kunsthistoriker Hans Holländer 10 hatte Koepf zuvor diesen Stichwortkatalog von A wie „Aasdach“ bis Z wie „Zyklopenmauerwerk“ erstellt, der sich auf europäische Baukunst fokussiert und stilgeschichtliche und monografische Darstellungen komplett ausspart. Die Auswahl war dennoch schwer zu treffen, Koepf hielt sich hier an das Prinzip der Permanenz: tritt eine Bauform oder ein Detail über Jahrhunderte hinweg in Erscheinung, war sie es wert, lexikali- siert zu werden. Die Benutzung des Bildwörterbuchs ist heute wie 1968 denkbar einfach: Die Zweispaltigkeit im Aufbau und die mitlaufenden Bilder sind für ein Lexikon nichts ungewöhnliches, die knapp gefassten Texte sind es aber durchaus. Schlägt der Benutzer bei G wie „Gewölbe“ auf, findet sich der Begriff fett hervorgehoben 9 Koepf 1968 (Anm. 2), Vorwort VI. 10 Hans Holländer (1932–2017), Studium der Kunstgeschichte in Tübingen, 1971–1997 Lehrstuhlinhaber Kunstgeschichte RWTH Aachen und im gleichen Zeitraum Direktor des Reiff-Museum Aachen. 313 BENENNEN HEISST ERKENNEN → INHALT mitsamt einer um äußerste Reduktion bemühten Beschreibung: „Krummflächiger oberer Abschluss eines Raumes“. Sofort fol- gen dann für die Zielgruppe der Architekturstudierenden die Angaben zur Konstruktion: „Das G. besteht in der Regel aus Steinen, die sich zwischen Widerlagern verspannen (echtes G.).“ 11 Es folgt ein Erläuterungstext mit Querverweisen zu ande- ren Stichworten und ein Literaturanhang. Hier registrierte Koepf nicht selten Dissertationsschriften, die ihn als einen innerhalb der deutschsprachigen Technischen Hochschulen vernetzten und den Nachwuchs fördernden Hochschullehrer auszeich- nen. Heterogen sind die Literaturangaben immer: teils aktuelle Forschung aufnehmend 12, teils haarsträubend reduziert. Nicht jedoch am Stichwort-Beispiel „Gewölbe“: Hier reicht die Spanne der Literaturangaben von Georg Gottlob Ungewitters Lehrbuch der gotischen Konstruktionen in seiner letzten Auflage von 1900 über Franz Harts zum Klassiker avancierten Titel Kunst und Technik der Wölbung von 1965. Insgesamt ist die Literatur- Auswahl im Bildwörterbuch ein eigenes hochspannendes Thema, das Rückschlüsse auf die zeitgenössische Hochschulpolitik und Koepfs eigene Netzwerke zulässt. Wir blättern weiter. Es folgen im Anschluss an den Haupteintrag „Gewölbe“ zehn abgeleitete Stichworte, dann beim Stichwort „Gewölbeform“ eine Überblickstafel mit kleiner Legende (Abb. 2). Diese Überblickstafeln sind bis heute die wohl meistkonsultierten Abschnitte im Buch, weil sie eine bauliche Entwicklung oder ein- fach die Bandbreite der Erscheinungsformen nachzeichnen und das mit dem Vorteil, alles auf einmal im Blick zu behalten. Vorlage für die stark stilisierten Abbildungen sind studenti- sche Umzeichnungen, die der Autor zum Teil aus früheren Publikationen entnahm. 13 Sämtliche Darstellungsformen der Architektur kommen zur Anwendung: Lagepläne, Grundrisse, 11 Koepf 1968 (Anm. 2), S. 173f. 13 In Stuttgart und in Wien beschäftigte Koepf für seine Bücher Baukunst aus fünf Jahrtausen- 12 So führt das Stichwort „Gewölbe“ auch den und das Bildwörterbuch der Architektur damals aktuellste Forschung, darunter Issam wissenschaftliche Hilfskräfte als Zeichner, die Badrs Dissertation „Vom Gewölbe zum die Vorlagen für den Verlag herstellten. räumlichen Tragwerk“, die 1962 bei Charles Geisendorf und Adolf Max Vogt an der ETH Zürich entstanden war, auf; ebd. S. 175. 314 KERSTIN RENZ Abb. 2: Eintrag Gewölbeformen mit Schnitten, Grundrissen und Ansichten aus Hans Koepf: Bildwörterbuch der Architektur. 1. Auflage, Stuttgart 1968, S. 177f. Mit freundlicher Genehmigung des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart Schnitte, Ansichten. Idealisierte Prototypen werden „erfunden“, um Stichworte wie das Gesims zu erläutern. Die Perspektiven für die Architekturdarstellungen wechseln, beliebt ist bei kom- plexen Anlagen die Vogelperspektive, geht es um Gliederung und Proportion werden gerne Frontalansichten gewählt. Den in den Grundriss geklappten Schnitt nutzt Koepf dann, wenn er die Kongruenz von Grundriss und Baugliedern und das Thema Architektur als Ordnungsgefüge verdeutlichen will. Beliebt bei den studentischen Leserinnen und Lesern, insbeson- dere für die Prüfungsvorbereitung im Fach Baugeschichte, ist der Anhang. Hier versammelt Koepf mit typisierten und beschrifteten Zeichnungen sogenannte „Prototypen der Baukunst“ in Ansicht, Aufriss und zum Teil auch im Schnitt: den dorischen, ionischen und „römischen“ Tempel, das römische Theater, die altchrist- liche und die romanische Basilika, die gotische Kathedrale in 315 BENENNEN HEISST ERKENNEN → INHALT Zweiturmfassade, Grundriss und Wandabwicklung und schließ- lich die barocke Sakral- und Feudalarchitektur. Es wird nicht wenige Baugeschichts-Institute seit 1968 gegeben haben, die ihre Prüflinge einfach die abgedeckte Beschriftung haben herun- terbeten lassen. Vorgängerformate Was aber war im Jahr 1968 so neu und besonders an diesem Wörterbuch? Wer in den 1960ern die Fachbibliotheken der Architekturfakultäten durchforstete, der traf auf die immer glei- chen alten Bekannten: diverse Lexika und Nachschlagewerke von biblischem Ausmaß, mehrere Auflagen einschlägiger Entwurfs- und Konstruktionsfachbücher. Im 19.  Jahrhundert hatten sich mit der Institutionalisierung der Architektenausbildung an Aka- demien und Polytechniken die Lehr- und Schaubücher gemehrt, das Bedürfnis nach Synopsen und jedweder Illustrationen war groß. Die Fachlexika der Architektur waren breit angelegte und teilweise bebilderte Enzyklopädien, es gab sie seit dem 17. und 18. Jahrhundert. 14 Was Koepf selbst aus Studientagen kannte, war Oscar Mothes’ seit 1863 in Leipzig aufgelegtes Illustrirtes Bau-Lexikon das sich im Untertitel als praktisches Hilfs- und Nachschlagewerk empfahl und den Architekten noch als uomo universale ansprach. 15 Das wichtigste lexikalische Nachschlagewerk für Architekten im frühen 20. Jahrhundert war dann das Wasmuth’sche Lexikon der Baukunst. Es erschien in vier Bänden von 1929 an – jedes Jahr ein Band mit jeweils rund 700 Seiten. 16 Das für den durchschnitt- lichen Studierenden unerschwingliche großformatige Lexikon 14 Leistikow zählt in seiner Rezension der Mitwirkung bewährter Fachmänner hg. v. Oscar Neuauflage des „Koepf“ diverse Vorgängerfor- Mothes. Leipzig, 4 Bde. 1863; die vierte Auflage mate auf; Leistikow 2003 (Anm. 4) S. 195f. erfolgt bereits 1881–1884. 15 Illustrirtes Bau-Lexikon. Praktisches Hülfs- 16 Wasmuth’s Lexikon der Baukunst, hg. v. u. Nachschlagebuch im Gebiete d. Hoch- u. Günther Wasmuth, Leo Adler und Georg Ko- Flachbaues, Land- u. Wasserbaues, Mühlen- u. walczyk. Berlin, 1. Bd. 1929, 2. Bd. 1930, 3. Bd. Bergbaues, d. Schiffs- u. Kriegsbaukunst sowie 1931; 4. Bd. 1932, 5. Bd. Nachtrag 1937. d. mit d. Bauwesen in Verbindung stehenden Gewerbe, Künste u. Wissenschaften; unter 316 KERSTIN RENZ war mit hunderten Fotos im Text und zusätzlichen teils farbigen Bildtafeln versehen. Die wichtigste Neuerung des Wasmuth’schen Lexikons war seine Aktualität und die progressive Grundhaltung: Beton als Gestaltungselement wurde ebenso selbstverständ- lich eingeführt wie das Neue Bauen und der Expressionismus, Personeneinträge zu den entsprechenden Architekten waren Programm. Kunstlandschaften und Stilgeschichte zählten – wie es sich für eine Architekturenzyklopädie gehörte – mit dazu. Opulent und schwer waren diese ledergebundenen und manch- mal goldgeschnittenen Bände, konzipiert für die Nutzung in der Bibliothek. Koepfs Idee, ein Nachschlagewerk für den Rucksack der Bildungsreisenden oder für die Studierenden auf Exkursion zu schreiben, lag also nur allzu nahe. Neu war sie nicht. Ein fast iden- tisches Vorgängerformat war das ab 1846 erschienene Concise Glossary of Architecture von John Henry Parker (Abb.  3). 17 Das Glossar richtete sich schon über 100 Jahre vor Koepf explizit an den Architektenstand und versuchte sich in der Vereinheitlichung der Termini in einem Format, das ebenso knapp wie präzise war (engl. concise). Der Autor Parker war zugleich Herausgeber der Taschenbuchreihe Oxford Pocket Classics und konzipiert daher auch das Glossary als kleines, feines Buch für den Reise- und Exkursionsgebrauch, verkauft wird es im anglo-amerikanischen Sprachraum bis heute. 18 Im Aufbau der Seiten, teilweise sogar in der Auswahl der Illustrationen und in der grafischen Vereinfachung lehnte sich Koepf an Parkers Glossary an. Für sein alltagstaugliches Lexikon fand Koepf den idealen Partner: Im traditionsreichen Alfred Kröner Verlag in Stuttgart erschien es in der Reihe „Kröners Taschenausgabe“ und erhielt die Bandzählung 194. Als einer der ersten deutschen Verlage bediente Kröner seit 1909 das Bedürfnis nach der gehobenen 17 Der Autor John Henry Parker (1806–1884) Neuauflagen; vgl. auch Christine Kühn: Italie- gehörte der Bewegung des Gothic Revival an. nische Fotografien aus der Sammlung John Der vollständige Titel lautete A concise Glossary Henry Parker 1806–1884. Berlin 2000, S. 11. of Terms used in Grecian, Roman, Italian and Gothic Architecture. Das Glossar erschien seit 18 Die 12. Ausgabe von 1910 wird seit 2004 bei 1836, erst ab 1846 jedoch im kompakten Format Dover Publications als Reprint wieder aufgelegt und erreichte bis zur Jahrhundertwende zehn (345 Seiten, 500 Illustrationen, ca. 16 Dollar). 317 BENENNEN HEISST ERKENNEN → INHALT Abb. 3: Parkers Glossary of Architecture – die erste Seite, Oxford 1845. Cornell University Library/Wordsworth Collection. URL: archive.org/stream/cu31924102774670#page/n23/mode/2up (23. Oktober 2017) 318 KERSTIN RENZ Abb. 4: Seiten aus Der Große Duden. Bildwörterbuch der deutschen Sprache. Leipzig 1935, S. 42f. Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des Duden Verlages, Leipzig 319 BENENNEN HEISST ERKENNEN → INHALT 320 KERSTIN RENZ Literatur im Taschenbuchformat, entsprechende Wörterbücher verschiedenster Disziplinen für den studentischen Gebrauch waren ebenfalls bereits eingeführt. 19 Von Beginn an setzte man auf das exkursionstaugliche Format von nur 11 auf 18 Zentimetern. Trotz seiner 450 Seiten und 1.300 Abbildungen wog das Koepf’sche Bildwörterbuch bei Kröner nur 400 Gramm, während ein Wasmuth-Band stattliche vier Kilo auf die Waage brachte. Und was dem ehrgeizigen Autor selbstverständlich wichtig war: er reihte sich in einen prominenten Kollegenkreis ein. Mit dem Wörterbuch zur Kunst von Johannes Jahn aus den 1930er Jahren oder der Neuauflage von Jakob Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien (Erstauflage 1860) hatten wohl viele bildungsbeflissene Architekturschaffende bereits ein paar Exemplare der Kröner-Reihe im Regal. Insbesondere der Burckhardt’sche Klassiker war vom Verlag ausdrücklich als Reisebegleiter aufgelegt worden. „Kröners Taschenausgabe“ besteht bis heute und hat nunmehr über 900 Titel. Parker hatte seit den 1830er Jahren an seinem bebilderten Glossary gearbeitet. Der Titel Bildwörterbuch, für den sich Koepf entschied, erinnerte zumindest ältere Leserinnen und Leser an ein didaktisches und lexikalisches Format, das seine Herkunft in der bebilderten Schulfibel hatte. Die ersten sogenannten „Bildwörterbücher“ in deutscher Sprache wurden beide im Jahr 1935 in den Verlagen Duden und Brockhaus veröffentlicht und bildeten eine komplexe Lebens- und Dingwelt ab. Schon der Titel Der Sprachbrockhaus – Bildwörterbuch für Jedermann machte deutlich, an wen sich diese neue Form des Wörterbuches richtete. „Jedermann“ – das waren diejenigen Bevölkerungsschichten, die eigentlich kein Lexikon im Haus hatten. Der Duden-Verlag wiederum formulierte seinen Anspruch, erstens das gesamte deutsche Sprachgut bildlich zu erfassen – was freilich schei- tern musste – und zweitens bei den Deutschen die Liebe zur Muttersprache zu vertiefen – was als Erklärung für das Format 19 Kröner verlegte entsprechende Wörter- bücher für den Lehrgebrauch seit den 1930er Jahren, darunter das Wörterbuch der Päd- agogik, der Wirtschaft, der Volkskunde, der Religion etc. 321 BENENNEN HEISST ERKENNEN → INHALT ebenso unbeholfen erschien, da ein Bildwörterbuch doch immer nur die Dingwelt erfassen konnte. Sogar Fachbegriffe der Architektur, aber auch verschiedene Haustypen konn- ten mit dem Buch erkannt und benannt werden. Der Anspruch einer umfassenden Darstellung aktueller Alltagswelten machte die Bildwörterbücher letztlich so attraktiv (Abb.  4). Auch wenn sich die Inhalte solcher Lexika bis heute stets wandeln, bleibt ihr wichtigster Auftrag jedoch, breite Bevölkerungsschichten zu erreichen. An dieser Stelle hatte „Der Koepf“ durchaus etwas mit dem Format gemein: es ging um die Breitenwirkung und darum, jeden Studierenden an der Hochschule mitzunehmen. Lehrformate Bei der Konzeption des Bildwörterbuches der Architektur war es Hans Koepf wichtig, die Begegnung mit der Architektur in situ zu intensivieren. Die studentische Exkursion hatte in der bau- geschichtlichen Lehre seit jeher einen hohen Stellenwert. Die Reiseaktivität der Hochschulen in den späten 1950er, vor allem aber in den 1960er Jahren, war mit der heutigen Situation nicht zu vergleichen. Die Ziele lagen noch vor der Haustüre oder im tageweise erreichbaren Umfeld, und die Kennerschaft nicht zuletzt der regionalen Denkmallandschaft wurde am Ende des Studiums vorausgesetzt (Abb.  5). Ein Beispiel für den Gebrauch des „Koepf“: Die Würzburger Residenz von Balthasar Neumann mit ihrer Prunktreppe ist bis heute fester Bestandteil der Baugeschichtslehre und damit vieler Exkursionen. Die Studierenden hören in den Vorlesungen von der Neumann’schen Idee vom Aufstieg ins Licht, von den zeremoniellen Ikonographien des Deckenspiegels, vielleicht sogar von den Ritualen, die sich auf dieser Treppe im 18.  Jahrhundert abgespielt haben. Sollen sie aber die Bauform der Treppe eindeutig und korrekt beschrei- ben, fangen die Probleme an. Was ist das für eine Treppe mit ihrer betonten Mitte, ihren Richtungswechseln, wie beschreibt man die Architektur so, dass sie auch ohne eine Bildvorlage ver- standen wird? Hier stellt das Buch ein verbindliches Vokabular bereit. Dank der Übersichtstafel beim Stichwort „Treppenformen“ 322 KERSTIN RENZ Abb. 5: Hans Koepf auf einer studentischen Exkursion in den 1940er Jahren. Universitätsarchiv Stuttgart kann die Würzburger Schlosstreppe eindeutig als „zweiarmig, dreiläufig mit gemeinsamem Antritt“ identifiziert werden (Abb. 6). Dem Stichwort „Treppe“ folgen ganze 16 weitere Einträge. Von „Treppenauge“ bis „Treppenwange“ kann man mit „dem Koepf“ in der Vielfalt und bildhaften Beschreibungskunst des 18. und 19. Jahrhunderts schwelgen. Als im Jahr 1968 das Bildwörterbuch der Architektur auf den Markt kam, war sein Autor seit sieben Jahren Ordinarius an der TH Wien. Koepf schärfte mit dem Wörterbuch seine didaktische Zielsetzung der Grundlagen- und Breitenbildung, die er bereits mit dem 1954 erschienenen Titel Die Baukunst in fünf Jahrtausenden angelegt hatte. 20 Diese auf knapp 180 Seiten komprimierte Baugeschichte bot den Lernstoff für viele baugeschichtliche Seminare und folgte den Prinzipien Vereinfachen, Systematisieren, Ordnen. Entsprechend war der Bild-Text-Aufbau mit bautypologischer Untergliederung entlang einzelner Stilepochen angelegt. Die 20 Hans Koepf: Die Baukunst in fünf Jahrtau- senden. Stuttgart 1954. 323 BENENNEN HEISST ERKENNEN → INHALT synoptische Darstellung gab eine ebenso eindrückliche wie didaktische Bebilderung ab, der Anhang verfügte bereits über eine Sammlung „Wichtiger Begriffe der Baugeschichte“, die den Grundstock für das spätere Bildwörterbuch bildeten. 5000 Jahre Baugeschichte derart komprimiert darzustellen, war ein Husarenstück, die Kollegen aus der Kunstgeschichte rümpften darob die Nase. 21 Die Studierenden der Architektur aber waren begeistert. Der Berliner Architekt und Denkmalpfleger HPC Weidner stellt im Rückblick fest: „Er [Koepf] prägte in den 50er und 60er Jahren das Bewusstsein und Wissen über historische Architektur der Architekturstudenten. Der ,Koepf‘ mit dem ich mich auf meine Baugeschichte 1 und 2 – Prüfung vorbereitet habe (mein Studienbeginn war WS 1959/60), stammt aus dem Jahre 1960. Für mich ist diese Baugeschichtslehre vergleichbar mit einem Sprachunterricht, der vorrangig auf die Kenntnis vie- ler Vokabeln abhebt. Wir haben diese Baugeschichte Ende der 60er Jahre bekämpft, hätten sie jedoch wenig später wenigstens zum Teil gern wiedergehabt, weil den Studenten in der Folge bald jegliche Kenntnis wichtiger Vergleichsobjekte abhanden kam. Ja man kann mit Koepf eine Menge über die Veränderung der Baugeschichtslehre verbinden.“ 22 Der Erfolg von Baukunst in fünf Jahrtausenden nahm den des Bildwörterbuchs vorweg, bereits 1960 war die zwischenzeitlich dritte Auflage vergriffen, 1967 erschien die vierte und letzte Auflage. Autor und Erzieher Koepf war als streitbarer Fürsprecher der ‚Alten Stadt‘ bekannt, als Bauhistoriker hatte er seit jeher nationale und regionale Kulturräume sowie lokale Studien zum Ausgangspunkt sei- ner Fragestellungen gemacht. Entsprechende Titel waren die Deutsche Baukunst. Von der Römerzeit bis zur Gegenwart (1956) oder die vierbändige und mit dem Klassizismus endende Reihe Schwäbische Kunstgeschichte (1960er Jahre). Als Vertrauter 21 Von den 90 Rezensionen, die 1954 bis 1967 zu diesem Titel erschienen sind, war nicht eine einzige in einem einschlägigen kunsthistorischen Fachorgan platziert; siehe Koepf o. J. (Anm. 2). 324 KERSTIN RENZ Abb. 6: Von Treppenabsatz bis Treppenformen – aus Hans Koepf: Bildwörterbuch der Architek- tur. 1. Auflage von 1968, S. 287. Mit freundlicher Genehmigung des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart 325 BENENNEN HEISST ERKENNEN → INHALT und ehemaliger Schüler von rechtskonservativen Fachvertretern wie Kurt Gerstenberg und Dagobert Frey und als bekennender Anhänger der Stadtbaukunst im Verbund mit einer schöpferi- schen Denkmalpflege war er ein scharfer Kritiker der Moderne, die er registrierte und einzuordnen suchte, aber nicht als eigen- ständige Entwicklung akzeptierte. Im Vorwort seines Buches Baukunst aus fünf Jahrtausenden schrieb er 1954: „Das vorlie- gende Werk möchte der jungen Baumeistergeneration sowie allen gebildeten Laien den Reichtum und die unerschöpfliche Fülle dessen vermitteln, was vergangene Geschlechter bereits geleistet haben. Auf diesem sicheren Fundament stehend wird es den Baumeistern von morgen vielleicht möglich sein, ihren eige- nen schöpferischen Beitrag zur Gesamtentwicklung zu geben, der vor der großen Vergangenheit bestehen kann.“ 23 Im Jahr 1960 verschärfte Koepf seine Formulierung noch einmal: „Das vorliegende Werk möchte der jungen Baumeistergeneration sowie allen gebildeten Nicht-Baumeistern den Reichtum und die unerschöpfliche Fülle der Möglichkeiten bewußt machen, die ver- gangene Geschlechter und Kulturen schon entwickelt haben. Nur so wird man immun gegen den Bazillus der primitiven Gebärde, die so tut, als ob sie ,modern‘ wäre.“ 24 Der Autor Koepf wechselte vielfach zwischen analytischer Objektivität und subjektivem Urteil und es stellt sich die Frage, wie- viel von dieser „Erziehung“ der Hochschullehrer Koepf in seinen Vorlesungen und Seminaren für nötig hielt. In jedem Fall verstand er sich als Pädagoge, nicht nur als Vermittler von Inhalten. Die eigene Lern- und Lehrbiografie Koepfs gibt begleitende Hinweise für seine durchweg didaktisch motivierte Arbeitsweise. 25 22 Schreiben HPC Weidner an die Autorin, gotik, hauptsächlich erläutert an Beispielen des Januar 2016. württembergischen Baumeisters Aberlin Jörg, Gutachter an der TH Stuttgart sind Harald Han- 23 Koepf 1954 (Anm. 20), S. 5. son und Otto Schmitt; nach Assistenz bei Hanson am dortigen Institut für Baugeschichte und Bau- 24 Ebd., S. 6 [Hervorhebung durch die Autorin]. aufnahme Lehrtätigkeit an der Staatsbauschule Stuttgart; dort 1954 Ernennung zum staatlichen 25 Studium der Architektur TH Stuttgart bei Baurat und später Oberbaurat, 1960 Ernennung Paul Schmitthenner und Heinz Wetzel, Städte- zum Professor; 1961 Ruf an die TU Wien; Dr. hc. bau-Diplom bei Wilhelm Tiedje, 1942 Promotion der Universität Istanbul; Träger des Bundesver- Gestaltungsprinzipien der schwäbischen Spät- dienstkreuzes 1. Klasse; Emeritierung 1986. 326 KERSTIN RENZ Koepf zentrales Betätigungsfeld in der Hochschullehre war die Bauaufnahme auf der Grundlage des Handaufmaßes. Er lehrte das Fach seit den 1940er Jahren in Stuttgart, von 1961 bis 1986 dann an der TH Wien. Die studentische Bauaufnahme wurde zum eigentlichen Movens für die Entstehung des Bildwörterbuchs der Architektur. Beim Handaufmaß, bei der Zeichnung und bei der anschließenden Korrektur war die Kenntnis des Fachvokabulars für die Studierenden grundlegend und für den Lehrer war es ein wichtiges didaktisches Instrument. Benennen heißt erkennen war schon hier Koepfs Credo: „Baukonstruktion und Entwerfen müs- sen durch einen Arbeitsgang mit umgekehrten Vorzeichen ergänzt werden: Die Bauaufnahme“, schrieb er schon 1956. 26 Parallel zu den maßstabsgetreuen Aufmaßen ließ Koepf die Studierenden immer wieder sogenannte „Baukunst-Merkblätter“ anfertigen, bei denen es nicht um wissenschaftliche Genauigkeit, sondern um das Verständnis formaler und struktureller Bauprinzipien ging: Die Merkblätter – der Name besagt es bereits – dienten anschließend als Studien und Prüfungsmaterial, das Erlernen ihrer Form und ihrer korrekten Bezeichnung ging dabei Hand in Hand. Vereinfacht umgezeichnete Bauaufnahmen waren die Hauptquelle für diese Merkblätter. Messen, Zeichnen und Benennen bildeten so eine logische Abfolge und Koepf versicherte seinen Studierenden immer wieder, dass die Kenntnis des Bestandes die Grundlage für den Entwurf bildete: „Die Bauaufnahmen dienen auch kei- nesfalls als Hilfswissenschaft der Denkmalpflege oder gar als Vorbereitung für die Baugeschichte. Sie haben vielmehr ihre Eigengesetzlichkeit, die ausschließlich im Bildungsprogramm des Baumeisternachwuchses begründet liegt.“ 27 Ausgehend von der TH Wien leitete Koepf seit den 1960er Jahren die generalstabsmäßig organisierten Bauaufnahmekampagnen von über 120 Stadtanlagen in Ober- und Niederösterreich. 28 Anlässlich der Emeritierung Koepfs resümierten hierzu die Wiener Kollegen: „In 26 Hans Koepf, Bauaufnahmen an der Staats- 28 Caroline Jäger-Klein: Die Stadtbauaufnah- bauschule Stuttgart. Stuttgart 1956, S. 1. me-Aktion Österreich und das Europäische Jahr des Architektonischen Erbes 1975. In: Eine 27 Ebd., S. 5. Zukunft für unsere Vergangenheit, hg. v. Micha- el Falser, Wilfried Lipp (ICOMOS Österreich). Berlin 2015, S. 115–125. 327 BENENNEN HEISST ERKENNEN → INHALT der Lehre hat Hans Koepf in diesen Jahren allein im Fach Baukunst rund 7.500 Studenten der Studienrichtung Architektur unterrich- tet, und rund 2.000 Studenten haben unter seiner Anleitung ca. 160 km Straßen und Plätze in Österreich und Südtirol vermessen und gezeichnet. Nicht weniger beeindruckend ist allein das quantitative Resultat in der Forschung: 48 Bücher und 300 wissenschaftliche Veröffentlichung ergeben eine Zahl von 7.800 Druckseiten!“ 29 Das Bildwörterbuch im Jahr 1968 Das Jahr der Erstauflage des Bildwörterbuches war eines der bil- dungspolitisch bewegtesten in der Geschichte der Bundesrepu- blik, das wird auch Hans Koepf von seiner Wiener Warte aus beobachtet haben. In Westdeutschland wurden die Studierenden Hochschulstrukturen und Lehrinhalte infrage gestellt, die Archi- tekturkritik stellte sich gegen einen Bauwirtschaftsfunktionalismus, der zu immer neuen Höhenflügen ansetzte, die entwerfenden Architektinnen und Architekten aber nicht mitnahm. Und es war die Zeit, in der die Hochschullehrer der älteren Jahrgänge den Bezug zur studentischen Basis verloren, denn die hatte längst schon ande- res im Sinn, als bauhistorisches Vokabular zu pauken. In Stuttgart, jener Stadt, in der Koepf vier Jahrzehnte gelernt und gelehrt hatte, legte Jürgen Joedicke 1968 die erste umfassende wissenschaft- liche Publikation zur Weissenhofsiedlung vor und wurde zugleich Leiter des Institutes für „Architekturtheorie und Grundlagen des modernen Entwerfens“ an der dortigen TH. Im gleichen Jahr wurde – ebenfalls in Stuttgart – in Anwesenheit von Walter Gropius die erste Bauhaus-Ausstellung nach dem Krieg eröffnet, während vor der Tür die aufgebrachten Studierenden der HFG Ulm gegen die Schließung ihrer noch jungen Hochschule protestieren. Die allgemeine Stimmungslage war keine, in der das Wissen und die Erfahrung der Altvorderen besonders gefragt gewesen wäre. 29 Technische Universität Wien, Institut für Baukunst, Denkmalpflege und Kunstgeschichte (Hg.): Festschrift Hans Koepf. Ordinarius für Baukunst an der Technischen Universität in Wien 1961–1986. Wien 1986, S. 3. 328 KERSTIN RENZ Nur wenige Monate zuvor hatte Koepf im Vorwort des Bildwörterbuches eine Argumentation entwickelt, die zwischen den Zeilen wirkte: „Erst was man erkennen, benennen, definie- ren bzw. in seiner Gestalt und Funktion erfassen kann, das sieht man wirklich. Schon in früherer Zeit hatten die Naturvölker den Glauben: Erst wenn ich den Namen eines Gegenstandes weiß, habe ich auch Macht über diesen Gegenstand.“ 30 Gelesen wurde dieses Vorwort von den Studierenden bis zur dritten Auflage von 1999 – sofern man das Lesen von Vorworten unter- stellen darf. Und es wirkte im ersten Moment plausibel. Doch im Umkehrschluss bedeutete Koepfs Einlassung, dass skulp- tural-expressionistische Architekturen von Mendelsohn, Taut oder Häring, später dann die leichten Tragwerke von Otto oder die Schalen von Müther, die sich sämtlich dem Verdikt von der Benennbarkeit und der festgefügten Ordnung der Einzelteile entzogen, als Nicht-Architekturen, auf jeden Fall aber als das Gegenteil der „Baukunst“ auszusondern waren. Konnte das gutgehen? Und wie lange? Koepfs Prinzipientreue traf in den Hörsälen nun immer öfter auf ein ebenso gerüstetes Gegenüber von Studierenden, deren Interesse an der sozialen und politischen Zeitzeugenschaft der Architektur immer größer wurde. In den pro- testbewegten Studentenkreisen der Bundesrepublik galten seine Lehrbücher spätestens zu Beginn der 1970er Jahre als umstritten, wenn nicht gar inakzeptabel. Der Autor und auch der Hochschullehrer Koepf wurde jetzt – so hat es Cord Meckseper beschrieben 31 – für seine „staubtrockenen Lehrbücher“ kritisiert, aus denen man einen revisionistischen Anti-Modernismus herauslas. Der Wiener Ordinarius hielt dagegen und fühlte sich angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die Zeitgenossen ihrer Altstädte und Denkmale entledig- ten, mehr als bestätigt. Zwei Jahre vor seiner Emeritierung pfiff Koepf in Struktur und Form, seinem letzten Lehrbuch von 1979, auf jegliche Regeln guter wissenschaftlicher Praxis und startete einen Angriff auf die Nachkriegsmoderne. In der Einleitung griff er 30 Koepf 1968 (Anm. 2), S. V. 31 Gespräch der Autorin mit Cord Meckseper (Jg. 1934), ehem. Assistent am Lehrstuhl für Baugeschichte und Bauaufnahme der TH Stutt- gart, Dezember 2015. 329 BENENNEN HEISST ERKENNEN → INHALT Abb. 7: Titelillustration von Curt Siegel: Strukturformen der modernen Architektur. 1. Auflage, München 1960. Mit freundlicher Genehmigung des Callwey Verlages, München zunächst den Architekturtheoretiker Sigfried Giedion als selbstver- liebten Dilettanten an, um sodann „mit Vorschusslorbeeren bedachte Wunderwerke der modernen Architektur“ als konstruktiv wie formal minderwertig zu verurteilen: die Stuttgarter Liederhalle, die Ulmer Hochschule für Gestaltung und die Philharmonie in Berlin. 32 Es war genau diese ungeschminkte und auf Personen zielende Polemik, die- ser Versuch der studentischen Erziehung im Wortsinne, die Koepf als Autor und Lehrer so angreifbar machte – wie im übrigen viele seiner Lehrkollegen auch. Immer wieder konstruierte er eine Polarität von Wissenschaft und Kunst, von technizistischer Moderne und lebens- naher Baukunst und fiel damit in die Argumentationsstruktur des 19. Jahrhunderts zurück. 32 Hans Koepf: Struktur und Form. Eine archi- tektonische Formenlehre. Stuttgart u. a. 1979, S. 8 (Einleitung). 330 KERSTIN RENZ Hier ist nochmals zum Bildwörterbuch zurückzukommen: Dieses endete nicht, wie noch die Baukunst aus fünf Jahrtausenden mit der Architektur des Klassizismus. Koepf integrierte einige wenige Stichworte und Bildbeispiele der Moderne, wir fin- den Einträge wie „Vorhangfassade“, „Laubenganghaus“, „Pavillonsystem“, „Raster“, „Schale“ oder „Fernsehturm“, können diesen jedoch eine gewisse desinteressierte Nachlässigkeit in der Beschreibung unterstellen. Doch warum sich mühen – längst gab es für diese Phänomene eine professionelle Autorenschaft: Der Ingenieurarchitekt und Stuttgarter Professor für Statik Curt Siegel stieß 1960 mit seinem Buch Strukturformen der Modernen Architektur in genau die Lücke vor, die ihm ein Autor wie Koepf bereitwillig überließ (Abb. 7). War noch die Baukunst in fünf Jahrtausenden in den 1950er Jahren in der Zuversicht entstanden, dass ein Überblick über der- art große Zeiträume auch in Zukunft in der Architektenausbildung eine Rolle zu spielen hatte, wich diese Sicherheit zehn Jahre spä- ter einer generellen Skepsis. An den Technischen Hochschulen in Deutschland verlor das Fach Baugeschichte zusehends an Bedeutung, zum Teil wurde sogar offen die Diskussion geführt, ob ein Abschaffen des Faches aus den Curricula nicht längst geboten sei. Zahlreiche Hochschulen betrieben in den 1960er Jahren eine Neuausrichtung der bauhistorischen Lehre. Stilkunde war passé, es ging um das Darstellen von sozialen, gesellschaftlichen und politischen Kontexten, aus denen heraus Architektur entsteht. So manche Fakultät schaffte die herkömmlichen Lehrformate ab, statt Vorlesungen wurden studentische Workshops abge- halten, die Lehrliteratur wurde gleich mit in Frage gestellt. An den Themen der Moderne kam jetzt in den Hochschulen keiner mehr vorbei: es waren Fragen nach der verkehrsgerechten und verdichteten Stadt, nach Kostenökonomie und Rationalisierung im Bauen mit dem nachfolgenden Siegeszug des Systembaus, es ging um Bauprogrammierung und Modulbauweisen. Das Bildwörterbuch der Architektur wirkte in diesem Kontext wie aus der Zeit gefallen, sein Vokabular war hierfür nicht mehr tauglich. 331 BENENNEN HEISST ERKENNEN → INHALT Ein Resümee Das Verdienst Hans Koepfs und schließlich auch Günther Bindings als Nachfolger in der Autorenschaft des Bildwörterbuches der Architektur ist es, die Vereinheitlichung der Fachterminologie vorangetrieben zu haben. Auf lange Sicht hat sich dieser Ansatz ausgezahlt, auch deswegen, weil der fachliche Austausch in den Ingenieurs und Architekturwissenschaften längst ein sprach- raumübergreifender ist. Koepf hatte früh darauf aufmerksam gemacht, dass eine Fachkultur nicht zuletzt von der Pflege ihrer Fachsprache lebt. Ihre Abwesenheit schafft Probleme, auf die wir manchmal im Feuilleton, vielfach in der Architekturpublizistik und in den Hochschulen immer häufiger bei den Entwurfsrundgängen, die die Studierenden vor die Aufgabe stellen, ihre eigenen Ideen in Worte zu fassen. Koepf hatte 1968 nach seiner Auffassung ein Grundvokabular mit 2.400 Begriffen aufgestellt. Was ihm als unabdingbar für Ausbildung und Praxis erschien, kann heute längst nicht mehr vorausgesetzt werden. Dabei geht es um weit mehr als nur darum, ‚Säule‘ und ‚Pfeiler‘ nicht zu verwechseln. Die gute Nachricht zum Schluss: Sprachen kann man lernen. 332 FREDERIKE LAUSCH FREDERIKE LAUSCH Das DDR-Architekturstudium als Nische Ausbildung an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar Das Architekturstudium in der Deutschen Demokratischen Re- publik als Nische zu bezeichnen, basiert auf der These, dass zwischen der Ausbildung an der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar (HAB) und der realen Baupraxis der DDR eine Diskrepanz bestanden habe, die sich von der gängigen Differenz zwischen Lehre und Praxis unterschied. Wie diese Diskrepanz erlebt wurde und welche Rolle die Institution Hoch- schule dabei spielte, bilden die zentralen Fragestellungen des Artikels. Letztlich bereitete für die damaligen Architektinnen und Architekten weniger das theoretische Bild der Architektur- schaffenden in der DDR oder innerhalb der HAB Probleme, son- dern vielmehr ihre reale Position in der Baupraxis. „Hätte man uns auf das Berufsbild eines DDR-Architekten vorbe- reitet, hätte ich möglicherweise nicht zu Ende studiert.“ 1 – So for- muliert es retrospektiv eine ehemalige Architekturstudentin der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar (HAB). Sie macht damit auf eine Diskrepanz zwischen dem Architekturstu- dium und der realen Baupraxis in der Deutschen Demokratischen 1 Frederike Lausch: Architektenausbildung meines Buches mit teilweiser Übernahme von in Weimar. 29 Lebensläufe zwischen DDR und Abschnitten. BRD. Weimar 2015, S. 167. Der folgende Artikel ist eine Zusammenfassung des ersten Teils 333 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT Republik (DDR) aufmerksam, welche es zu befragen gilt: Unter- schied sich diese Diskrepanz von der gängigen Differenz zwischen Lehre und Praxis? Wie wurde sie wahrgenommen und welchen Stellenwert hatte darin die Institution Hochschule? Die besagte Aussage und die im Folgenden aufgeführten Zitate ehemaliger Studierender stammen aus Interviews, die ich im Jahr 2013 mit 29 Architekturschaffenden geführt habe. 2 Sie alle hatten in den 1970er und 1980er Jahren in Weimar an der HAB Architektur oder Stadtplanung in der Annahme studiert, zukünftig in der DDR-Baupraxis zu arbeiten. Die friedliche Revolution und die daran anschließenden Umbrüche bewirkten allerdings, dass sie ihren Beruf zum größten Teil im marktwirtschaftlichen System der Bundesrepublik Deutschland ausübten. Wie dieser Übergang erlebt wurde, bildete die Grundfrage der Interviews. Die Befragten berichteten von ihrer Ausbildungszeit und den baupraktischen Erfahrungen in der DDR sowie von ihren Erinnerungen über die sogenannte ‚Wende‘ und die ersten Jahre der Berufsausübung im vereinten Deutschland. Gemeinsam liefern ihre Geschichten eine Oral History 3 des subjektiven Erlebens der ‚Wende‘ aus Sicht ehe- maliger DDR-Architektinnen und Architekten. Die Erzählungen zur Ausbildung an der HAB – bei denen im übrigen die Erfahrungswelt der damals Lehrenden und Forschenden noch unberücksichtigt ist – werden durch die Untersuchung der Hochschulakten aus dem Universitätsarchiv der Nachfolgeinstitution, der heutigen Bauhaus-Universität Weimar, ergänzt und kontextualisiert. Dabei stellt sich die Frage, welchen Aussagegehalt das Rekonstruieren der Architekturausbildung an der HAB über Interviews und Hochschulakten besitzen kann. Selbstverständlich bleiben die Geschichten subjektive Überlieferungen, die nicht verallgemei- nerbar sind. Doch insbesondere die HAB-Archivalien ermögli- chen eine Rekonstruktion der Lehr- und Ausbildungskonzepte, sodass das persönliche Erleben mit historischen Dokumenten unterfüttert wird. 2 Diese erfolgten im Rahmen meiner Mas- 3 Bemerkt werden muss an dieser Stelle, terthesis, die 2014 an der Bauhaus-Universität dass die Interviews sowohl ein freies Erzählen eingereicht wurde. im Sinne der Oral History als auch Antworten auf vorformulierte Fragen beinhalteten. 334 FREDERIKE LAUSCH Eine kurze Geschichte der HAB Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte unter der kommissarischen Leitung des Architekten Hermann Henselmann am 24. August 1946 die Gründung der „Staatlichen Hochschule für Baukunst und Bildende Künste“. Henselmanns Planungen zufolge sollte es um nichts weniger als um eine Rückbesinnung auf das von 1919 bis 1925 in Weimar ansässige „Staatliche Bauhaus“ und die abgerissene Tradition der klassischen Moderne gehen, weswe- gen als möglicher Direktor unter anderem der letzte Leiter des „Staatlichen Bauhaus“, Mies van der Rohe, verhandelt wurde. Die Rückbindung an das Bauhaus-Erbe wurde jedoch recht bald wegen der Verfemung des Staatlichen Bauhauses als realitäts- fremde und bürgerlich-avantgardistische Bildungseinrichtung ad acta gelegt. 4 Mit 1949, dem Gründungsjahr der DDR, änderte sich der Charakter der Hochschule grundlegend, denn durch die Zentralisierung verschob sich das Entscheidungsgefüge im Bauen in Richtung der Hauptstadt der DDR: Die Weimarer Hochschule, die vormals dem Thüringer Ministerium für Volksbildung zugehörig war, unterstand nun dem Ministerium für Aufbau (das spätere Ministerium für Bauwesen) in Berlin, welches die Führung in Fragen des Städte-, Hoch- und Tiefbaus übernahm. Mit dieser neuen Bündelung der baubezogenen Grundlagenforschung in der Hauptstadt verließ auch Henselmann Weimar in Richtung Berlin. Als Reaktion auf das Schwinden von Freiräumen und den zunehmenden Einfluss der 1946 gegründe- ten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), verlie- ßen überhaupt große Teile des Lehrkörpers die Hochschule in Richtung Westen oder in andere Einrichtungen der DDR. 5 Auf den scheidenden Henselmann folgte der bildende Künstler Fritz Dähn als kommissarischer Leiter der Hochschule, der allerdings bereits 1950 sein Amt an den Baumaterialienforscher Friedrich August Finger übergab, um Direktor der Hochschule für Bildende 4 Ulrich Wieler: Die Weimarer Hochschule Simon-Ritz, Klaus-Jürgen Winkler, Gerd Zim- von 1945 bis 1954. Betriebsames Abwarten, mermann (Hg.): Aber Wir Sind! Wir Wollen! Und die Gründung der DDR und der Weg in eine Wir Schaffen!. Bd. 2. Weimar 2011, S. 13–15. wissenschaftliche Hochschule. In: Frank 5 Ebd., S. 20. 335 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT Künste in Dresden zu werden. Dieser Stellenwechsel stand sym- bolisch für die inhaltliche Richtungsänderung der Weimarer Hochschule, so wurde die Abteilung Bildende Kunst 1951 auf- gelöst und die baubezogenen Künste wurden in die Abteilung Architektur eingegliedert. Dieser Vorgang zeigte sich auch in der Namensänderung, so hieß die Einrichtung fortan „Hochschule für Architektur Weimar“ 6. Finger wurde als Leiter bereits 1951 von Otto Englberger abgelöst, der aus der frisch gegründe- ten Bauakademie in Berlin kam und dort intensiv mit der sich immer mehr zentralisierenden und industrialisierenden DDR- Baupolitik in Kontakt gekommen war. Seine bis 1957 andauernde Amtszeit fiel mit dem Umbau der Weimarer Ausbildungsstätte in eine sozialistische Hochschule zusammen, welche durch die Verordnung über die Neuorganisation des Hochschulwesens vom 22. Februar 1951 geregelt wurde. 7 Entscheidend war dabei die Einführung einer neuen Leitungsstruktur. Mit der Gründung des Staatssekretariats für Hochschulwesen, das spätere Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen (MHF), besaß die Hochschule zwei Leitinstanzen: In fachlichen Belangen war das Ministerium für Aufbau zuständig, während das Staatssekretariat die hoch- schulpolitische Linie bestimmte. Über Letzteres konnte die SED nun direkten Einfluss auf die Entwicklung der Hochschulen neh- men. Dieser Umbau zu einer Hochschulausbildung, die eng mit den gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Planungen des Staates verbunden war, ging einher mit Tendenzen, die Weimarer Hochschule von einer künstlerischen in Richtung einer tech- nischen Ausbildungsstätte zu verschieben. Von der Struktur her bewegte sie sich tatsächlich von einer Kunsthochschule zu einer wissenschaftlichen Hochschule mit verstärkt anwendungs- orientierten Inhalten: Neben der Abteilung Architektur grün- deten sich die Fakultäten Bauingenieurwesen sowie Baustoff- kunde und Baustofftechnologie. Am 7. Februar 1954 verlieh der Staatssekretär für das Hochschulwesen der Ausbildungsstätte 6 Ebd., S. 27–29. 7 Verordnung über die Neuorganisation des Hochschulwesens vom 22. Februar 1951. In: Gesetzblatt der DDR, Nr. 23, 26. Februar 1951. 336 FREDERIKE LAUSCH die Rektoratsverfassung mit Englberger als erstem Rektor. Im Zuge dessen erfolgte die Namensänderung in „Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar“. Die Hochschule besaß nun den „Gesamtlehrauftrag für das Gebiet des Bauwesens“, wobei die technischen Fakultäten die Architekturfakultät folgerichtig ergänzten. 8 Das ideelle Bild der Architekturschaffenden und ihre reale Position in der DDR Die ambivalente Stellung der Architektur in der DDR erklärt der in Weimar in den 1940er und 50er Jahren ausgebildete Architekt und Architekturtheoretiker Bruno Flierl wie folgt: Als kulturell schöp- ferische Tätigkeit sei die Architektur Bestandteil ideeller Kultur und somit war für sie die Abteilung Kultur des Zentralkomitees (ZK) der SED zuständig. Das Produkt der Architektur sei hinge- gen Teil der materiellen Kultur einer Gesellschaft und war dem- zufolge von der Abteilung Wirtschaft bestimmt. Die realökonomi- sche Unterwerfung der Architektur habe unweigerlich, so Flierl, zu einer Beschneidung ihrer kulturellen Dimensionen geführt. 9 Das offizielle Bild präsentierte Architekturschaffende als kultu- rell-schöpferisch Tätige, die für und mit der Gesellschaft bauten. Dem Architekturbild war somit eine Berufsethik inhärent, die der Architektin oder dem Architekten eine soziale und gesellschaft- lich relevante Rolle zuwies. Doch Flierl bemerkt, dass Gesetze und planwirtschaftliche Vorgaben die Verwirklichung sozialer Ideale sowie die zugesprochene schöpferische Tätigkeit erheb- lich einschränkten. 10 Diese Aussage bezieht sich einerseits auf die Situation, dass (bis auf Ausnahmen) keine freischaffende Architekturtätigkeit beziehungsweise private Architekturbüros in der DDR erlaubt waren und die meisten Architektinnen und Architekten als Angestellte in staatlichen Planungsbüros arbei- teten. Andererseits kommt hinzu, dass die Leitungsstruktur 8 Ebd., S. 29f. 9 Bruno Flierl: Gebaute DDR. Über Stadt- planer, Architekten und die Macht. Kritische Reflexionen 1990–1997. Berlin 1998, S. 57. 10 Ebd., S. 70. 337 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT Abb. 1: Übersicht von Frank Betker zur Unterstellung, Anleitung und Kontrolle des Bauwesens durch die SED. Frank Betker: „Einsicht in die Notwendigkeit“ – Kommunale Stadtplanung in der DDR und nach der Wende (1945–1994), Stuttgart 2005, S. 115. Graue Einfärbungen (links und in der Mitte) durch die Autorin. Mit freundlicher Genehmigung von Frank Betker des Bauwesens personell verfestigt war: An der Spitze standen Günter Mittag, der seit 1976 im Politbüro der SED als Sekretär für Wirtschaft des ZK tätig war, Gerhard Trölitzsch, der seit 1960 die Leitung der Abteilung Bauwesen im ZK inne hatte, und Wolfgang Junker, der seit 1963 als Bauminister der DDR arbeitete (Abb. 1). 11 Bis 1989 bestimmten diese drei Personen die Ausrichtung des Bauwesens in der DDR. Die rigide institutionelle Einbindung der Architektur in die Planungs- und Leitungsstrukturen der DDR stand oftmals im Widerspruch zur Idee des Schöpferischen. So formuliert der Sozialwissenschaftler Frank Betker, der zu kommuna- len Stadtplanungen in der DDR geforscht hat, Folgendes: „In 11 Frank Betker: Handlungsspielräume von Stadtplanern und Architekten in der DDR. In: Holger Barth (Hg.): Planen für das Kollektiv. Erkner bei Berlin 1999, S. 21. 338 FREDERIKE LAUSCH Parteitagsreden und Grundsatzformeln wurde das Schöpfertum der Architekten und Stadtplaner anhaltend beschworen. Die schöpferische ‚Arbeit‘ war generell in der DDR ideologisch auf- gewertet. Nur in der Praxis fand sich das nicht wieder, denn die Akteure konnten ihre ‚fachspezifische Kreativität‘ nicht ausleben. Die Partei gab das Ergebnis des ‚Schöpfertums‘ immer schon vor. Bis zum Ende der DDR wurde dieser Widerspruch zwischen Theorie und Praxis nicht aufgelöst, ja von der politischen Führung nicht einmal anerkannt.“ 12 Die Idee des Schöpferischen beinhal- tet gemeinhin Konzepte des Erfindens, des Einfallsreichtums und der Kreativität, die nur schwer mit zentralen Vorgaben, typisierten Bauformen und standardisierten Baukonstruktionen zusammengehen. Der unterschwellige Widerspruch zwischen dem theoretischen Bild der Architekturschaffenden und ihren realen Möglichkeiten der Berufsausübung zeigte sich wohl am deutlichsten in einem Antagonismus zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Selbstverständnis der entwerfenden Person. Die retrospektive Bewertung dieses Missverhältnisses schwankt allerdings zwi- schen zwei Sichtweisen: Auf der einen Seite wird der Fokus auf die damals existierenden Einschränkungen gelegt, so bemerkt ein Interviewpartner: „Es gab das Plattenbaukombinat, einen Plan und den Bauingenieur, der den Plan besser lesen konnte als wir [die Architekturschaffenden]. Und wenn ein Architekt kam und wollte noch eine Kachel an die Fensterlaibung kleben, dann war das zu teuer oder es gab die Kachel gar nicht. Dann wur- den die Architekten in ein Zimmer gesetzt, durften die Kachel zeichnen, aber gebaut wurde das nicht“. 13 Auf der anderen Seite wird der damalige Freiraum trotz Beschränkungen betont: „Es gab immer Vorschriften, aber wenn eine andere Idee nicht mehr als die in der Preisliste kostete und man eine Firma gefunden hatte, die einem das herstellte, dann war das genehmigungsfä- hig und wir im Prinzip ziemlich frei“. 14 Diese beiden Sichtweisen lassen sich zu der Losung zusammenfassen, dass ein Hindernis 12 Ebd., S. 25f. 14 Ebd., S. 159. 13 Lausch 2015 (Anm. 1), S. 158. 339 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT entweder als hemmend oder als anspornend empfunden wurde. In beiden Fällen existierte jedoch eine Kluft zwischen dem Gewollten und dem Machbaren, die mal mehr, mal weniger über- wunden werden konnte. Der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, so die hier vertretene These, war auch Resultat der Diskrepanz zwischen der Architekturlehre an der HAB und der realen Berufspraxis. Zu fragen bleibt allerdings, ob diese nun von größerer Intensität als die gängige Abweichung der gelehr- ten Theorie zur tatsächlichen Praxis gewesen ist. Das Ausbildungskonzept und sein Bezug zur Praxis Die vom Ministerium für Bauwesen angefertigte „Anfor- derungscharakteristik“ definierte einen Architekten, der nicht freiberuflich plant, sondern der in die „Prozesse der Leitung und Planung der Volkswirtschaft der Organe des Staates“ ein- gebunden ist (Abb. 2): Er – es wird dabei stets die männliche Berufsbezeichnung verwendet 15 – solle weder vollständig indi- viduell noch eigenverantwortlich, sondern im Kollektiv und in „sozialistischer Gemeinschaftsarbeit“ mit anderen am Bauen beteiligten Personen tätig sein. 16 Durch seine schöpferische Arbeit gestalte er die bauliche Umwelt grundlegend mit und nehme daher eine hohe gesellschaftliche Verantwortung ein, derer er sich bewusst sein müsse. Er besitze die schwierige Aufgabe, sein sämtliches Handeln, das an vielen Punkten emo- tional geleiteter und damit künstlerischer Natur sei, vor der Gesellschaft legitimieren zu müssen. Vor allem sei er gezwun- gen, komplexe Entscheidungen zu treffen, weswegen er univer- sell ausgebildet und disponibel einsetzbar sein soll und wodurch eine Spezialisierung hinsichtlich Gebäudetypen, Funktionen 15 Siehe zu diesem Thema: Harald Engler: 16 Archiv der Moderne/Universitätsarchiv Between State Socialist Emancipation and Pro- der Bauhaus-Universität Weimar (AdM/UA fessional Desire. Women Architects in the Ger- der BUW): I/20/046, „Anforderungscharakte- man Democratic Republic, 1949–1990. In: Mary ristik für die Grundstudienrichtung Städtebau Pepchinski, Mariann Simon (Hg.): Ideological und Architektur“, Ministerium für Bauwesen, Equals. Women Architects in Socialist Europe 28.08.1986, S. 4. 1945–1989. London, New York 2017, S. 7–19. 340 FREDERIKE LAUSCH Abb. 2: Manuskript „Anforderungscharakteristik für die Grundstudienrichtung Städtebau und Architektur“, Ministerium für Bauwesen, 28.08.1986, S. 4f. Archiv der Moderne/Universitätsarchiv der Bauhaus-Universität Weimar (AdM/UA der BUW): I/20/046. Markierungen durch die Autorin. Mit freundlicher Genehmigung des Universitätsarchivs 341 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT 342 FREDERIKE LAUSCH oder Konstruktionen als nicht sinnvoll bewertet wird. 17 Offiziell sollte also das ideelle Bild der Architekturschaffenden als für die Gesellschaft kulturell-schöpferisch Tätige gelehrt werden. Die HAB übernahm diese Aufgabe und – das gilt es im Folgenden näher zu beleuchten – reicherte sie mit zusätzlichen theore- tisch-kritischen, technisch-konstruktiven und künstlerisch-ge- stalterischen Freiräumen an. Nicht zuletzt dadurch wurden bei den Absolvierenden inhaltliche und kreative Ansprüche geweckt, die durchaus bewusst im Konflikt zur realen Baupraxis standen. Auch der Architekt und Stadtplaner Steffen de Rudder, der für die Universitätschronik den (wohlgemerkt einseitigen) Aufsatz Die Architekturausbildung an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar von 1968 bis zur Wende geschrieben hat, beschreibt die HAB als Akteurin von Widersprüchen: „Die Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar war eine Insel. Trotz permanenter Präsenz der Partei, trotz ständiger Überwachung und Kontrolle bildete die Hochschule an eini- gen ihrer Wissenschaftsbereiche geschützte Bereiche aus, in denen eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Architektur ohne Denkverbote stattfinden konnte. Sie war dabei ein ‚golde- ner Käfig‘, wie es Hermann Wirth formuliert hat, denn außerhalb der Hochschule konnten die Absolventen mit ihren erworbenen Fähigkeiten kaum etwas anfangen“. 18 Die geführten Interviews belegen, dass zweifelsohne – und im Gegensatz zu de Rudders Ansicht – die Absolvierenden mit ihren erworbenen Fähigkeiten und ihrem Wissen in der DDR-Praxis durchaus etwas anfangen konnten. Wie sieht es aber mit der bewussten Kontrastierung der Lehre zur Praxis innerhalb der HAB aus? Den Interviewpartnern stellte ich die Frage, ob die Ausbildung an der HAB auf die DDR-Bauwirklichkeit ausgerichtet war und auf was für ein Berufsleben sie sich während ihres Studiums vor- bereitet hatten. Die Mehrheit berichtete von einer Diskrepanz 17 Ebd., S. 5. 18 Steffen de Rudder: Die Architekturausbil- dung an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar von 1968 bis zur Wende. In: Simon-Ritz, Winkler, Zimmermann 2011 (Anm. 4), S. 271. 343 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT zwischen Lehre und Praxis, so wird von einem „extremen Widerspruch“ oder einem „Auseinanderklaffen“ gesprochen. 19 Oftmals taucht die Formulierung auf, dass die HAB-Ausbildung „freier“ als die reale Baupraxis gewesen sei. Diese Freiheit wird vereinzelt als „gestalterische Freiheit“ präzisiert und in Kontrast gesetzt zu den Begrenzungen durch Mangelwirtschaft und star- res Bausystemdenken: „Zu DDR-Zeiten hat man im Studium viel gemacht und anschließend war das Bauen geringer. Ist vielleicht heute auch so, mag sein, aber damals, fand ich, war es noch extremer, weil man sich doch beim Studium noch mehr austo- ben konnte beziehungsweise man hatte mehr Freiheiten – auf dem Papier kann man viel bauen, in der Praxis ist es dann ganz anders. Daher war das Anliegen der Lehrenden, einem möglichst viel beizubringen, da man nachher im praktischen Bauen nicht mehr dieses große Wissensspektrum hätte aufbauen können, weil eigentlich war ja alles begrenzt“. 20 Neben dem Widerspruch zwischen Lehre und Baupraxis existierte ein weiteres Dilemma, denn während im Studium der Schwerpunkt auf die Vermittlung von innerstädtischem Bauen, Sanierung und Denkmalpflege gelegt wurde, so gab es diese Aufgabenfelder in der Praxis nur in geringem Maße. Diesbezüglich bemerkt der Stadt- und Regionalplaner Harald Kegler, von 1978 bis 1983 selbst HAB-Student, dass die Leitsätze, wie „Erhaltung vor Abriss“ oder „Neubau im Kontext der vorhandenen Strukturen“, für Studierende der HAB zwar selbstverständlich gewesen seien – Weimar fungierte dahingehend als praktisches Experimentier- feld –, aber in der Praxis nur selten in Form von Vorzeige- und Ausnahmeprojekten realisiert werden konnten. 21 Die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen der Architekturlehre waren also nicht gänzlich an die DDR-Bauwirklichkeit ange- passt. Um dies zu vertiefen, soll im Folgenden näher auf das Ausbildungssystem der HAB eingegangen werden. 19 Lausch 2015 (Anm. 1), S. 164. Hochschule Weimar Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre. Eine persönliche Mo- 20 Ebd. mentaufnahme. In: Mark Escherich, Christian Misch, Rainer Müller (Hg.): Entstehung und 21 Harald Kegler: Aufbruch in die „alte Stadt“. Wandel mittelalterlicher Städte in Thüringen. Zur Städtebauausbildung an der Architektur- Berlin 2007, S.  324. 344 FREDERIKE LAUSCH Die Architekturausbildung an der HAB Im Zuge der dritten Hochschulreform 1968/69 wurden die Profile der Technischen Hochschulen präzisiert. 22 Für die HAB sah der Plan bis 1980 die Entwicklung zu einer Technischen Hochschule für Bauwesen vor. Im Gegensatz zu den zu der Zeit maßgebenden Technischen Bauhochschulen, die Technische Universität Dresden (TUD) und die Hochschule für Bauwesen Leipzig, erhielt Weimar die profilbestimmende „komplex-ge- stalterische – ingenieur-bautechnische – baustoffverfahrens- technische“ Ausrichtung. 23 Neben diesem bewusst breit ange- legten Profil sollte die HAB eine verstärkt technologische und EDV-betonte Ausbildung verfolgen, damit die Absolvierenden mit allen notwendigen Grundkenntnissen der Automatisierung in die Baupraxis eintreten konnten. Dementsprechend gab es nun fünf Sektionen: (I) Architektur, (II) Bauingenieurwesen, (III) Baustoffverfahrenstechnik, (IV) Rechentechnik und Datenverarbeitung sowie (V) Gebietsplanung und Städtebau. Der Fachstudiengang Architektur wurde in der DDR an drei Hochschulen angeboten: an der künstlerisch orientierten Kunsthochschule in Berlin-Weißensee, an der technisch-kon- struktiv orientierten TUD und an der HAB, die eine Mischung aus Kunst und Technik lehrte. An der „Stundenbilanz“ der HAB und der TUD lässt sich ablesen, dass die gestalterischen (Abb. 3, blau) und die technisch-konstruktiven (Abb. 3, rot) Grundlagen annä- hernd gleich viel Zeit einnahmen. 24 Unterschiede werden beim Entwerfen (Abb. 3, grün) deutlich, wofür die HAB-Studierenden ein Viertel mehr Zeit als jene der TUD aufwenden mussten. Auch Theorie und Geschichte der Architektur (Abb. 3, gelb) besaß an der HAB einen höheren Stellenwert. Dies deckt sich mit der Anmerkung im Fachprofil der Sektion Architektur von 1989: „In der Profilbestimmung der Weimarer Architektenausbildung ist somit die sozial-kulturelle (künstlerische) Komponente stärker 22 Michael Eckardt: Die dritte Hochschulre- 24 AdM/UA der BUW, I/09/699, Bd. 2, Studi- form an der Hochschule für Architektur und enplanentwurf für ein 5-jähriges Studium der Bauwesen Weimar. In: Simon-Ritz, Winkler, Fachstudienrichtung Architektur, 1973. Zimmermann 2011 (Anm. 4), S. 233. 23 Ebd. 345 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT Abb. 3: Stundenvergleich der HAB Weimar und TU Dresden zum Entwurf für ein fünfjähriges Architekturstudium, 1973. AdM/UA der BUW, I/09/699, Bd. 2. Mit freundlicher Genehmigung des Universitätsarchivs ausgeprägt als an der TUD. Das findet seinen Niederschlag in vertieften Kenntnissen der Weimarer Absolventen auf den Gebieten der Theorie, Raumgestaltung/Ausbau und komplexen Arbeitsumweltgestaltung“. 25 25 AdM/UA der BUW, I/20/046, Bd. 2, Langfristige Lehrstuhl- und Dozenturplanung, 31.08.1989, Anlage 1: Fachprofil der Sektion Architektur. 346 FREDERIKE LAUSCH Nie außer Acht gelassen wurde in solchen Fachprofilen der Architekturausbildung der Bezug zur Baupraxis und zu den ökonomischen Rahmenbedingungen der DDR, so bestand, laut einer Studienbroschüre, die „Aufgabe darin, junge Menschen zu Architekten zu erziehen und auszubilden, die unter den gegebe- nen sozial-ökonomischen und technischen Bedingungen unse- res sozialistischen Staates solche städtebaulichen, architekto- nischen und künstlerischen Lösungen schaffen, die den gesell- schaftlichen Bedürfnissen unserer Menschen entsprechen“. 26 Vor allem für Entwurfsübungen sollten Vertragsbeziehungen mit der Praxis eingegangen werden, sodass, wenn möglich, Industriepartner an der Bearbeitung oder Auswertung der Projekte teilnehmen konnten. Wichtig war also die „Vervollkommnung der entwurfspraktischen Ausbildung und das Vertrautmachen mit praktischen Projektierungsprozessen“. 27 Dem entwurfszentrierten Fachprofil entsprechend war die Sektion Architektur in sechs „Wissenschaftsbereiche“ – (1) Theorie und Ge- schichte der Architektur, (2) Gestaltungs- und Entwurfslehre, (3) Baukonstruktion und Tragsysteme, (4) Wohn- und Gesellschafts- bauten, (5) Produktionsbauten, (6) Ausbau – und einem „Künstle- rischen Bereich“ unterteilt. Das Architekturstudium umfasste in der Regel – vorübergehende Änderungen werden hier ausgeklammert 28 – fünf Jahre: Darin enthalten war das zweijährige Grundstudium, das zweijährige Fachstudium, in dem sich die Architektinnen und Architekten von den Gebiets- und Stadtplanenden trennten, und das einjährige Spezialstudium mit der Diplomphase. Das Konzept der Architekturausbildung basierte auf einer sys- tematisch strukturierten Lehre, die sich aus thematisch auf- einander aufbauenden Lehrkomplexen und dem aus einer Folge von Entwurfsübungen bestehenden Belegsystem zusam- mensetzte. In jedem Semester wurden zunächst die theoreti- schen und praktischen Grundlagen in Form von Vorlesungen, 26 Hochschule für Architektur und Bauwesen: 27 AdM/UA der BUW, I/09/698, Erläuterungen Informationsmaterial für Studienbewerber, o. D. zum Studienplanentwurf der Grundstudienrich- [vermutl. vor 1983], S. 5, Archiv Dezernat Studi- tung Städtebau und Architektur, Prof. Schädlich um und Lehre der Bauhaus-Universität Weimar an MHF, 29.03.1973. (DSL der BUW). 28 Vgl. Lausch 2015 (Anm. 1), S. 44. 347 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT Abb. 4: Rahmenzeitplan der Fachrichtung Architektur, 1986/87. Archiv Dezernat Studium und Lehre der Bauhaus-Universität Weimar (DSL der BUW). Einfärbungen durch die Autorin. 348 FREDERIKE LAUSCH Abb. 5: HAB-Studienplan der Fachrichtung Architektur, vermutlich 1970er Jahre. AdM/UA der BUW, I/09/699, Bd. 2. Mit freundlicher Genehmigung des Universitätsarchivs 349 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT Seminaren und Übungen vermittelt, die dann im anschließenden Hauptentwurf umgesetzt werden sollten. Die Aneinanderreihung von Lehrkomplexen sollte das Systemdenken der Studierenden entwickeln. Innerhalb dieser Komplexe konnte eine interdis- ziplinäre Gemeinschaftsarbeit bei gleichzeitig einheitlichem Ausbildungsziel erfolgen. 29 Grundsätzlich begann das Studienjahr mit einer Orientierungs- woche, in der grundlegende politische Veranstaltungen statt- fanden (Abb. 4, rot). Danach fügte sich ein Lehrblock aus durch- schnittlich 13 Wochen an (Abb. 4, blau). Während dieser Zeit wurden die allgemeintheoretischen, künstlerischen und techni- schen Grundlagen sowie die des Entwerfens und Projektierens vermittelt. Gleichzeitig sollten fakultative Lehrveranstaltungen besucht werden, um vor allem in den ersten zwei Studienjahren die künstlerisch-gestalterischen Fähigkeiten auszubauen. Nach dem Lehrblock fand der Komplexentwurf statt (Abb. 4, grün), dem im Frühjahrssemester Prüfungen vorangingen. Das Belegsystem der HAB wurde in vielen Schriftstücken als profilbestimmend angesehen. Es beinhaltete eine Kette von Hauptentwürfen bezie- hungsweise Komplexbelegen (KB), die durchgehend durch das Studium führte (Abb. 5). Sie wurde als eine „systematisch auf- gebaute Folge von wissenschaftlicher und künstlerisch produk- tiver Tätigkeit“ verstanden. 30 Die Hauptentwürfe bezogen sich inhaltlich auf das vorangegangene Semester und stellten vorwie- gend eine Verflechtung verschiedener Wissenschaftsbereiche und auch Sektionen dar. Kleine Entwurfsübungen während des Lehrblocks bereiteten auf den abschließenden Entwurf vor. Im Laufe des Studiums nahmen die Komplexität der Arbeitsgegenstände sowie die Anforderung an den Erwerb von Fähigkeiten fortlaufend zu. Auch die Arbeit im Kollektiv wurde peu à peu intensiviert, so stellte der erste KB eine Einzelarbeit dar, während ein zehn Personen starkes Kollektiv den neunten KB bearbeitete. 29 Eckardt 2011 (Anm. 22), S. 237. 30 AdM/UA der BUW, I/09/698 (Anm. 27). 350 FREDERIKE LAUSCH Neben dem Entwurf umfassten die Schwerpunkte der Ausbildung folgende Bereiche: Allgemeine Grundlagen, wie Sport und Fremdsprachen, das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium, Theorie und Geschichte der Architektur, künstlerisches, mathematisch-naturwissenschaftliches sowie konstruktives und technologisches Grundlagenwissen, Projektie- rungs- und Entwurfsgrundlagen, Ökonomie und Leitung, Bau- werkslehre mit Wohn-, Gesellschafts- und Produktionsbauten, Ausbau beziehungsweise Raumgestaltung und schließlich Gebietsplanung und Städtebau (Abb. 5). In der Stundentafel von 1983 ist erkennbar, dass gegenüber den technischen Grundlagen mit 686 Stunden (Abb. 6, rot) die künstlerischen Grundlagen nur etwas mehr als die Hälfte (382, Abb. 6, blau) einnahmen. Die entwurfsbezogenen Fächer hingegen besaßen mit 690 (258+200+176+56, Abb. 6, grün) Stunden einen hohen Stellenwert. 31 Es lässt sich daher grob zusammenfassen, dass die zukünftigen Architekturschaffenden an der HAB vor allem das komplexe Entwerfen und Gestalten von Gebäuden sowie das Denken in Systemen lernen sollten. Das HAB-Architekturstudium als Nische und die Institution Hochschule Für die Interviewpartner war retrospektiv einer der Gründe für die Diskrepanz zwischen der vielseitigen, entwurfszentrier- ten Architekturlehre und einer mehr oder weniger beschränk- ten Praxis der Charakter der HAB als einer „Blase“, in der man sich nur geringfügig mit der Realität habe beschäftigen müssen: „Wir hatten natürlich erhebliche politische Einflüsse, denen wir ausgesetzt waren, aber im Studium hielt sich das für uns zumin- dest in Grenzen. Das hieß nicht, dass wir nun außerhalb dieser Gesellschaftsordnung leben konnten. Das hieß es auf keinen Fall. Das Studium war für uns so eine große Nische, in die wir uns 31 Ministerium für Hoch- und Fachschulwe- sen: Studienplan für die Grundstudienrichtung Städtebau und Architektur zur Ausbildung an Universitäten und Hochschulen der DDR. Berlin 1983, S. 16–17, DSL der BUW. 351 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT Abb. 6: Stundentafel der Fachrichtung Architektur aus Studienplan für die Grundstudienrich- tung Städtebau und Architektur zur Ausbildung an Universitäten und Hochschulen der DDR, 1983. Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen: Studienplan für die Grundstudienrichtung Städtebau und Architektur zur Ausbildung an Universitäten und Hochschulen der DDR, Berlin 1983, S. 16–17, DSL der BUW. Einfärbungen durch die Autorin 352 FREDERIKE LAUSCH intensiv zurückgezogen haben.“ 32 Das Studium wird darüberhi- naus als ein „Schweben auf Wolke Sieben“ bezeichnet, welches etwas für „Idealisten und Träumer“ gewesen sei. 33 Obwohl die Architekturschaffenden offiziell Mitarbeitende in einem Kollektiv sein und als solche sich nicht individualistisch hervortun soll- ten, habe die HAB einen gewissen Berufsstolz ausgebildet: „In Weimar wurde gar nicht zur Kenntnis genommen, wie die Struktur danach ist, sondern man wurde einfach sehr getrieben, sich als Architekt zu fühlen. Das hat mir nicht gut gefallen und das habe ich nie übernommen. [...] Der Sektion 1 wurde eingeimpft, dass wir bitteschön mit erhobenem Haupt und erhobener Nase durch die Welt marschieren sollen: ‚Wir sind die Architekten.‘“ 34 Das Verhältnis zwischen Lehre und Baupraxis wird allerdings nicht durchgehend derart schwarz-weiß gezeichnet. Auch wenn das Studium Freiheiten bot, habe es nie den Bezug zur Praxis verloren. Es wird von einer „angenehmen Mischung“ aus einer pragmatischen Ausbildung und gewissen Freiheiten beziehungs- weise zugelassener Offenheit berichtet, so sei das Studium zwar auf die Bauwirklichkeit orientiert gewesen, aber „nicht vorder- gründig“. Das retrospektiv gemalte Bild der Diskrepanz relativiert sich wieder: Während die einen von Projekten berichten, wo im Vorhinein klar gewesen sei, dass jetzt „Luftschlösser“ entworfen werden sollen, erzählen andere wiederum von Entwürfen, die sich an die Vorgaben der in der DDR vorhandenen Baumaschinen und Bausysteme gehalten hätten. Ein Absolvent führt aus, dass oftmals beides akzeptiert wurde: freie und handgezeichnete Entwürfe sowie auf standardisierte Bausysteme bezogene und mit Zeichenmaschine erstellte Projekte. 35 Das Bewusstsein für die realen Bedingungen der Baupraxis, die manche von Beginn an erkannt und sicherlich auch akzep- tiert hatten, entwickelte sich bei anderen vor allem durch die zu absolvierenden Praktika. Diesen wurde seitens der HAB großer Wert beigemessen. Neben dem Vorpraktikum, 32 Lausch 2015 (Anm. 1), S. 131. 34 Ebd. 33 Ebd. 35 Ebd., S. 132. 353 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT welches die Berufsmotivation herausbilden, eine enge Verbindung zur Arbeiterklasse herstellen und in das Berufsbild der Architekturschaffenden einweisen sollte, 36 existierten das vierwöchige Aufmaßpraktikum im Grundstudium und das in der Regel 20-wöchige Berufspraktikum im Fachstudium. Vor allem Letzteres war die erste Bewährungsprobe in der sozialistischen Baupraxis: „Der Student muß sich im gesellschaftlich-politischen Leben in den Arbeitskollektiven als Persönlichkeit bewähren“. 37 Es ging dabei sowohl um das Sammeln fachlicher Erfahrungen und das Interessewecken für das aktuelle Baugeschehen als auch explizit um die kollektivbildende Verbindung zur Bauarbeiterschaft. Die Interviewten beschrieben diese Praktika als lehrreich, gerade weil sie im wahrsten Sinne des Wortes „praktisch“ waren und somit Einblick in die ihnen bevorstehende Bauwirklichkeit gegeben haben. Während einigen durch das Praktikum bewusst wurde, unter welcher „Glaskuppel“ sie sich im Studium befanden, sei anderen die Diskrepanz bereits vorher klar gewesen: „Wir wussten auch genau, wenn wir mit dem Studium fertig sind und ins Leben rausgehen, dass dann alles anders ist als unsere Ideale zeigen. Das wussten eigentlich alle“. 38 Auf die Frage, wie Absolvierende auf die ihnen mehr oder weniger bewusste Diskrepanz von Lehre und Praxis im Studium reagiert haben, gab es zusammengefasst vier grobe Antwortschemas: Erstens habe man trotz des Wissens um den Gegensatz zwi- schen Ausbildung und eingeengter Berufspraxis zunächst für den Moment gelebt, das Studium ausgekostet und sich künstlerisch ausgetobt. Zweitens habe man für sich eine Alternative gesehen, auf die hingearbeitet wurde. Man habe in dem Glauben studiert, irgendwie eine Nische – zum Beispiel bei Sonderbaustäben, Projektierungs- beziehungsweise Planungseinrichtungen mit außergewöhnlichem Gestaltungsspielraum, im denkmalpflegeri- schen Bereich oder bei der Kirche – zu finden oder es wurde auf eine akademische Laufbahn in den Instituten der Bauakademie 36 AdM/UA der BUW, I/09/700, Bd. 3-4270, 37 AdM/UA der BUW, I/09/698, WR/3/78 Aspekte zur Einführung eines Baustellen-Vor- Vorlage, Wissenschaftlicher Rat, 06.04.1978. praktikum, o. D. [vermutl. 1975], S. 2. 38 Lausch 2015 (Anm. 1), S. 133. 354 FREDERIKE LAUSCH oder im Hochschulbereich gesetzt, sodass keine Tätigkeit in der Praxis ausgeübt werden musste. An dieser Stelle muss kurz erwähnt werden, dass sich die Absolvierenden ihre Arbeitsplätze nur in Ausnahmefällen selbst aussuchen konnten. In der Regel wurden sie durch ein staatliches Planstellensystem vermittelt. 39 Dabei wurde der zahlenmäßig größte Teil der Absolvierenden in den produktionsvorbereitenden Prozessen der Kombinate und Betriebe des örtlichen Bauwesens eingesetzt sowie in der städ- tebaulichen Planung staatlicher Organe. 40 Drittens existierte immer auch die Möglichkeit, sich mit der Praxis zu arrangieren und im Grunde kein Problem in der Bauwirklichkeit zu sehen. Viertens akzeptierte ein Teil der Interviewpartner die künftige Berufsausübung und stellte sich auf die Herausforderung sowie das Ringen um Freiräume ein. Es habe stets die Hoffnung auf Veränderung bestanden: „Man hat geglaubt, wenn man aus der Hochschule kommt, dann ändern wir die Missstände. Es müs- sen nur die richtigen Leute kommen“. 41 Der Wille zum Wandel sei, so einige der Interviewten, an der HAB gelehrt worden: „Wir hatten nicht die Absicht, uns so in die Praxis zu begeben, dass man da alles umsetzt, was Praxis ist, sondern dass man vom Fachlichem her versuchte Entwicklungen zu betreiben – darüber hinauszugehen – das ist als Haltung schon vermittelt worden“. 42 Diese Aussage belegt, dass die HAB sich durchaus als Motor für Veränderungen der Baupraxis begriffen hat und dementspre- chend korrigierend auf die Baupraxis Einfluss nehmen wollte. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass letztlich weni- ger das theoretische Bild der Architekturschaffenden in der DDR für die damaligen Architektinnen und Architekten problematisch war, sondern vielmehr ihre reale Position in der Baupraxis. Die Ausbildung an der HAB folgte in ihrer Konzeption der theoreti- schen Vorstellung und reicherte diese bewusst durch vielfältige Themen, wie denkmalpflegerische Akzentsetzungen, gebotene gestalterische Freiheiten und einen offenen, teilweise kritischen 39 Siehe ebd., S. 94 f. 41 Lausch 2015 (Anm. 1), S. 134. 40 AdM/UA der BUW, I/20/046 (Anm. 16), S. 6. 42 Ebd. 355 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT Architekturdiskurs an. Die Diskrepanz war somit von einer grö- ßeren Intensität als die gängige Abweichung der gelehrten Theorie von der tatsächlichen Praxis. Nichtsdestotrotz wurde der Bezug zur Praxis nie aufgegeben, sondern die Studierenden sollten durchaus auf ihre spätere Berufsausübung vorberei- tet werden. Die Diskrepanz war somit eine Frage der individu- ellen Entscheidung und auch der Wahrnehmung seitens der Studierenden. Je nachdem wie die praxisbezogenen und die freieren Ausbildungselemente genutzt wurden, gestaltete sich der Übergang vom Studium zur Praxis. In der Berufsausübung prallten dadurch in unterschiedlicher Intensität ästhetische und inhaltliche Vorstellungen auf die materiellen, ökonomischen und institutionellen Einschränkungen des DDR-Bauwesens. Wieso war nun die Ausbildung an der HAB nicht vollkommen an der Baupraxis orientiert – in einem Land, in dem so vieles auf die Planwirtschaft abgestimmt, zentralistisch geregelt und durchge- setzt wurde? De Rudder liefert dazu folgende Vermutungen: „Der Bedarf an Entwurfsarchitekten war (und ist) allgemein gering, im Plattenbau wurden sie fast gar nicht gebraucht – und doch bildete die DDR kontinuierlich klassisch geschulte Entwurfsarchitekten aus, Spezialisten, die in der Berufspraxis der DDR nicht gebraucht wurden. Die Gründe hierfür sind unklar. Es mag bei den Planern im Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen eine gewisse Beißhemmung gegeben haben, vielleicht war es aber auch die Trägheit traditioneller Institutionen, die die überlie- ferte Architekturausbildung in der DDR hat überleben lassen“. 43 Ausschlaggebend war sicherlich die anfangs erwähnte Situation, dass sich die politische Führung dem Widerspruch zwischen der ideellen Vorstellung von Architektur und dem realen Bauwesen nicht bewusst war. Insofern erscheint eine Orientierung des Architekturstudiengangs am Ideal seitens des MHF nicht unlo- gisch. Schließlich wurden auch weiterhin, insbesondere für die Planung neuer Typenbauten und für Sonderbauten, einzelne 43 de Rudder (Anm. 18), S. 254. 356 FREDERIKE LAUSCH schöpferische und kreative Architektinnen und Architekten gebraucht. Anstatt wie de Rudder von einer „Beißhemmung“ zu sprechen, wurde – wie in so vielen Bereichen in der DDR – even- tuell die Architektuausbildung auch bewusst freier und kreativer als die realen Möglichkeiten gestaltet, um als Ventil für eine ihrer wesentlichsten Eigenschaften beraubten Architektenschaft zu funktionieren. Einen weiteren wichtigen Punkt bildet unweiger- lich die Tradition der Weimarer Hochschulen. Weniger „Trägheit“, sondern vielmehr die über Jahre entstandene Überzeugung ver- half sicherlich, das Bild der Architekturschaffenden, die schöpfe- risch Technik und Ästhetik vereinen, zu bewahren. Zu guter Letzt ist es wohl seit jeher die Aufgabe der Institution Hochschule, als ein Ort der Forschung und Ausbildung zukünftiger Generationen, am Fortschritt des jeweiligen Faches zu arbeiten. Insofern ver- stand sich die HAB als eine Stätte, an der durch einen gewissen kritischen Diskurs und eine relativ freie beziehungsweise krea- tive Entfaltung die reale Architekturproduktion verändert, refor- miert und weiterentwickelt werden durfte, sollte und konnte. 357 DAS DDR-ARCHITEKTURSTUDIUM ALS NISCHE → INHALT 358 OLE W. FISCHER OLE W. FISCHER Institutionalisierte Kritik? Über die (Neu-)Geburt der Architekturtheorie nach der Moderne Die wachsende Kritik an der Nachkriegsmoderne in den 1960er Jahren führte nicht nur zu dem Phänomen der Post-Moderne in den folgenden Jahrzehnten, sondern stürzte auch die auf die Moderne beruhende Architekturlehre in eine veritable Krise. Eine Antwort auf die Krise der Moderne, so die Hypothese dieses Essays, war eine Internalisierung der Kritik in den Hochschulen selbst: vergleichend werden im Folgenden die Gründungen des HTC Program am MIT und des Instituts gta an der ETH Zürich in den 1960er Jahren betrachtet, um die Genese eines neuen aka- demischen Formates – den Instituten für Geschichte Theorie (und Kritik) an den Architekturschulen – als Zeitphänomen zu diskutieren. Vorbemerkung Die wachsende Kritik an der Nachkriegsmoderne in den 1960er Jahren – ihrer Bauten ebenso wie ihrer Protagonisten und Begründungszusammenhänge – führte nicht nur zu dem Phänomen der Postmoderne in den folgenden Jahrzehnten, son- dern stürzte auch die auf die Moderne beruhende Architekturlehre in eine veritable Krise. Eine Antwort auf die Krise der Moderne, so die Hypothese diese Essays, war eine Internalisierung der Kritik in den Hochschulen selbst. Nicht von ungefähr fallen in diesen Zeitraum die Gründung des Institutes für Geschichte und Theorie der Architektur (GTA) an der Eidgenössischen 359 INSTITUTIONALISIERTE KRITIK? → INHALT Technischen Hochschule Zürich (ETH) durch Adolf Max Vogt und Paul Hofer im Jahre 1967 und die Gründung des History Theory Criticism of Art and Architecture Program (HTC) am Bostoner Massachusetts Institute of Technology (MIT) durch Henry („Hank“) A. Millon und Stanford Anderson im Jahre 1974, nach einer längeren Inkubationszeit. Dabei ging es nur vordergründig um ein ‚Rapprochement’ mit der seit dem Ende des historisti- schen Eklektizismus kritisch beäugten Architekturgeschichte in die Ausbildung von Entwerfern, sondern viel grundsätzlicher um eine Revision der Moderne in Form eines wissenschaftli- chen Projektes. Indem Doktoranden nicht länger allein an kunst- historischen Fakultäten (wo Architekturgeschichte bis dahin primär angeboten wurde) ausgebildet wurden, sondern deren Ausbildung in Architekturschulen selbst integriert wurde (mit der ETH und dem MIT zwei vergleichbar von der Moderne geprägten bedeutenden Einrichtungen für die deutschsprachige und ang- lo-amerikanische Architekturlehre), veränderte sich sowohl die Debatte als auch der Ausrichtung der Forschung und Lehre – bis hin zu neuen akademischen Formaten. Situation in den 1960ern Die moderne Nachkriegsarchitektur sah sich in den 1960er Jahren einer wachsenden Kritik ausgesetzt, die sowohl im Innern, das heißt von Architekten selbst, als auch von außen geübt wurde. Beispielhaft für die Kritik an der Spätmoderne durch Architekten selbst stehen die Bücher Architettura della città von Aldo Rossi und Complexity and Contradiction von Robert Venturi, beide erschienen im Jahre 1966, gefolgt von Meaning in Architecture von Charles Jencks und George Baird aus dem Jahre 1970, ein Fanal der Semiotik in der Architekturdiskussion, lange vor dem epoche- machenden The Language of Post-Modern Architecture, eben- falls von Jencks aus dem Jahre 1977. 1 Zeugnis der wachsenden 1 Robert Venturi: Complexity and Contra- città. Padova 1966; Charles Jencks, George diction in Architecture. Garden City: 1966 (The Baird (Hg.): Meaning in Architecture. New Museum of Modern Art New York papers on York 1970; Charles Jencks: The Language of architecture 1); Aldo Rossi: L’architettura della Post-Modern Architecture. London 1977. 360 OLE W. FISCHER Unzufriedenheit mit der Architektur und Architekturausbildung der Nachkriegsmoderne geben auch die zahlreichen kleinen kri- tischen, zum Teil radikalen Zeitschriften, Magazine und Journale der Zeit. 2 Repräsentativ für eine Kritik von außen gegen eine im operationalen Denken und technokratischen Optimismus ver- haftete orthodoxe Moderne sind The Death and Life of Great American Cities von der US Amerikanischen Stadtsoziologin Jane Jacobs aus dem Jahre 1961 ebenso wie das Buch des deutschen Arztes und Psychologen Alexander Mitscherlich Die Unwirtlichkeit unserer Städte von 1965. 3 Natürlich gab es auch andere Einflüsse, die einer Wiederent- deckung der Geschichte und Theorie an Architekturschulen den Boden bereitet hatten. So fand sich im Umkreis der Harvard University im Jahr 1940 eine Gruppe junger, bereits von der Moderne beeinflusster Architekturhistoriker zusammen – John Coolidge, Walter Creese, Rexford Newcomb, Donald Drew Egbert etc. – die eine neue Art der Geschichtsschreibung einforderten, welche die Architektur im Spannungsfeld von Konstruktion, Ästhetik und Ideengeschichte (an Stelle der klassischen Stil- geschichte) zu diskutieren suchte und gründeten die Society of Architectural Historians SAH, zusammen mit dem Journal of the Society of Architectural Historians, JSAH. Nahezu zeitgleich, in den Jahren 1938/39, hielt der Schweizer Architekturhistoriker und CIAM Generalsekretär Sigfried Giedion die Charles Eliot Norton Lectures an der Harvard Graduate School of Design (unter Walter Gropius), ein Versuch, der noch jungen modernen Architektur eine einheitliche Geschichte und damit Legitimität ebenso wie ein Telos zu geben. Die Vorträge wurden in Überarbeitung als Space, Time and Architecture erstmals 1941 veröffentlicht und entwickel- ten sich binnen kurzer Zeit (neben Nikolaus Pevsner) zur offizi- ellen Geschichtsschreibung der Moderne. 4 Da diese Geschichte 2 Vgl.: Beatriz Colomina, Craig Buckley (Hg.): 4 Sigfried Giedion: Space, Time and Ar- Clip, Stamp, Fold – The Radical Architecture of chitecture – The Growth of a New Tradition. Little Magazines 196X to 197X. Barcelona 2010. Cambridge, MA 1941; vgl. Nikolaus Pevsner: Pioneers of the Modern Movement from William 3 Jane Jacobs: The Death and Life of Great Morris to Walter Gropius. London 1936. American Cities. New York 1961; Alexander Mit- scherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte: Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt a. M. 1965. 361 INSTITUTIONALISIERTE KRITIK? → INHALT parallel noch im Entstehen war, schrieb Giedion bekannterma- ßen sein Buch mit jeder Auflage weiter, um mit der Entwicklung Schritt zu halten. 5 1956 übernahm der deutschstämmige Architekturhistoriker Rudolf Wittkower (Lehrer von Colin Rowe am Warburg Institute London und auch später von Stanford Anderson) eine Professur am Department of Art History and Archaeology der Columbia University New York, wo er als Dekan bis 1969 wirkte. Damit wurde die Architekturgeschichtsschreibung an einem einflussreichen kunsthistorischen Institut der US Ostküste im Sinne einer formalen Komparatistik in Wechselwirkung mit religiös-philosophischen Inhalten ausge- richtet, wie Wittkower sie selbst exemplarisch in Architectural Principles in the Age of Humanism 1949 verhandelt hatte. 6 Das Buch mit seiner Verbindung von diagrammatischen Studien mit humanistischen Neo-Platonismus und -Pythagorismus wurde auch in den Architektenkreisen in den USA und Europa weit rezipiert – so beziehen sich sowohl die Smithsons als auch Venturi und Eisenman darauf – und kann seinerseits als eine der ‚Geburtsstunden’ einer modernen Architekturtheorie angese- hen werden. Der bereits erwähnte US-amerikanische Architekt Robert Venturi wiederum übernahm seine während eines Romaufenthaltes an der American Academy (1961/62) gesammel- ten Materialien – die dann 1966 zu Complexity and Contradiction gerinnen sollten – direkt in die Lehre an der Yale School of Architecture und entwickelte den (nach eigenen Angaben) ers- ten Kurs in Architekturtheorie der USA, bei dem es sich weder um eine historische noch entwurfsbegleitende Vorlesung bzw. Seminar handele. Obwohl diese Behauptung nachweislich über- trieben ist, 7 weisen sein durch Assoziations- und Bilderreichtum an ‚precedents’ gesättigter Unterricht, sein Interesse an vornehm- lich komplexen Beispielen (Manierismus, Barock, Eklektizismus) 5 Die letzte 5. erweiterte Auflage erschien „Theory of Architecture“ auf Master level am 1967. MIT, siehe: MIT President’s Report for 1957, S. 64, zitiert nach: John Harwood: How Useful? 6 Rudolf Wittkower: Architectural Principles The Stakes of Architectural History, Theory, and in the Age of Humanism. London 1949. Criticism at MIT, 1945–1976. In: Arindam Dutta (Hg.): Second Modernism. MIT, Architecture 7 Bsp. unterrichtete der Kunsthistoriker and the »Techno-Social« Moment. Cambridge, Albert Bush-Brown bereits 1957 ein Seminar MA 2013, S. 106–143, hier: S. 112. 362 OLE W. FISCHER und seine methodischen Anleihen bei dem New Criticism in der Literatur von T.S. Eliot und der US-amerikanischen Pop-Art auf einen neuen Typus von ‚Theorie’ hin. Venturi übernahm diesen Ansatz einer interpretativen, theatralisch-imaginativen Art der Architekturgeschichtsvermittlung von der Princeton University School of Architecture unter dem Architekturhistoriker Donald Drew Egbert (einem der Mitbegründer der Society of Architectural Historians SAH, siehe oben) und dem französischstämmigen Architekten Jean Labatut, der Beaux-Arts Prinzipien mit einer französischen Moderne der 1920er Jahre verband und die fran- zösisch geprägte Phänomenologie Jean Paul Sartres und Gaston Bachelards in Princeton an seine Studenten weitergab. Es war auch Labatut, der die – soweit bekannt – erste Doktorarbeit an einer Architekturabteilung in den USA betreute und abnahm. 1958 verteidigte Charles W. Moore Water and Architecture, bevor dieser selbst einer der wichtigsten Protagonisten und Lehrer der entstehenden Post-Moderne werden sollte. 8 Vor diesem Hintergrund machten sich in den 1960er Jahren sowohl an der ETH Zürich als auch am MIT eine junge, frisch berufene Generation Architekturhistoriker daran, die Rolle ihres Faches über die Vermittlung von Pflichtvorlesungen hinaus neu zu denken. Die ETH Zürich besitzt als eine altehrwürdige föde- rale Polytechnische Hochschule seit ihrer Gründung 1855 ein Departement für Architektur, das sich in der Nachkriegsära einem modernen Fortschrittsoptimismus verpflichtet sah. Ganz ähnlich bestand die School of Architecture and Planning seit der Gründung des Massachusetts Institute of Technology im Jahre 1865, was sie zur ältesten Architekturabteilung in den USA macht. Auch das MIT war – nach einer langen Phase der Nachfolge der Pariser École des Beaux-Arts und École Polytechnique – seit der Emigration wichtiger europäischer Avantgardisten in den 1930er Jahren ein Hort der Moderne und in den 1960er Jahren fest in Hand eines technischen Fortschrittsoptimismus rund um 8 Charles Willard Moore: Water and Archi- tecture. Thesis Princeton University 1957; veröffentlicht als: Charles W. Moore: Water and Architecture. Photographs by Jane Lidz, New York 1994. 363 INSTITUTIONALISIERTE KRITIK? → INHALT den Begriff der „wissenschaftlichen Planung“. 9 Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – gründen beide neue Institute für Geschichte, Theorie (und Kritik). Auf dem Weg zu History Theory Criticism: CASE und die ACSA Teachers Conference im Jahre 1964 Im Jahre 1964 wurde die Conference of Architects for the Study of the Environment (CASE) auf Anregung des jungen Architekten Peter Eisenman gegründet, der gerade von der University of Cambridge in England von seinem Dissertationsstudium zurück- kehrt war. Mitgliedschaft bestand nur auf Einladung und war auf maximal 20 Mitglieder beschränkt. CASE umfasste eine Reihe wichtiger junger Architekten, Kritiker und angehender Archi- tekturhistoriker, die innerhalb kurzer Zeit Schlüsselpositionen in der US-amerikanischen Architekturdebatte einnehmen soll- ten. Neben Eisenman waren dies Kenneth Frampton, Michael Graves, Richard Meier, John Hejduk, Stanford Anderson, Hank Millon und der im Vergleich etwas ältere und bereits durch seine Associate Professor Position an der Cornell University etablierte englische Kritiker und Architekturhistoriker Colin Rowe. Der Versuch, Robert Venturi mit in die Gruppe zu holen, blieb frucht- los (vielleicht liegt darin auch einer der Gründe für den laut in Architekturzeitschriften ausgetragenen Streit zwischen den post- modernen ‚Greys’ und den neo-abstrakten ‚Whites’ in den 1970er Jahren). 10 Aus CASE sollte sich sowohl die Gruppe der ‚weißen’ 9 Vgl. Gwendolyn Wright: History for Archi- 10 Für die „Whites”: Five architects: Eisenman, tects. In: Dies., Janet Parks (Hg.): The History Graves, Gwathmey, Hejduk, Meier. Preface by of History in American Schools of Architecture Arthur Drexler; introduction by Colin Rowe; 1865–1975. Princeton 1990, S. 13–52, hier: criticism by Kenneth Frampton, Katalog Muse- S. 29: MIT als eines der ‚modernen’ Architek- um of Modern Art. New York 1972; die Antwort turprogramme in den USA, die Geschichte im der „Greys“ als Artikelserie „Five on Five“: Ro- Lehrplan auf ein Minimum reduziert haben. bert Stern: Stompin’ at the Savoye; Jacquelin Robertson: Machines in the Garden; Charles Moore: In Similar States of Undress; Allan Greenberg: The Lurking American Legacy; Romaldo Giurgola: The Discrete Charme of the Bourgeoisie. In: Architectural Forum 137 (May 1973), S. 46–57. 364 OLE W. FISCHER New York Five (Eisenman, Graves, Gwathmey, Hejduk, Meier) entwickeln, die durch Ausstellung und Katalog am Museum of Modern Art New York Bekanntheit erlangte, als auch das von Eisenman und Emilio Ambasz gegründete Institute of Architecture and Urban Studies (IAUS) in New York, das sich geschickt als eine von Universitäten unabhängige Forschungs-, Ausstellungs- Publikations- und nicht zuletzt auch Unterrichtseinrichtung posi- tionierte und tonangebend für den Theoriediskurs der 1970er und 80er Jahre in den USA werden sollte. 11 Doch CASE war noch in weiterer Hinsicht bedeutsam. Neben Fragen der Disziplin der Architektur und ihren Grenzen bzw. ihrem Kern (welche einige Mitglieder bis heute umtreiben) wurde wiederholt das Verhältnis von Praxis und Theorie diskutiert, besonders im Hinblick auf eine alternative Architekturausbildung in Abgrenzung von der Moderne. Hier kam auch die Erfahrungen zum Tragen, die einige der CASE Mitglieder als sogenannte ‚Texas Rangers’ mitbrachten, wie eine junge Generation von Architekten genannt wurde, die Dean Harwell Hamilton Harris zwischen 1951 und 1958 an die University of Texas School of Architecture in Austin geholt hatte. 12 Harris strebte nach einer radikal modernen Ausbildung und berief unter anderem Colin Rowe, John Hejduk, Robert Slutzky, Werner Seligmann, Lee Hirsche, Bernhard Hoesli (der danach an die ETH Zürich wechselte und eine wichtige Rolle bei der Gründung des Institutes GTA spielte), Lee Hodgden, Jerry Wells, John Shaw, W. Irving Phillips Jr., die den ihnen gewährten Freiraum für formalistische didaktische Experimente nutzten. Doch innerhalb von CASE nahm die Diskussion über die Architekturpädagogik eine andere Richtung. Sie konzentrierte sich weniger auf Bachelor und Master (wie in Austin, Texas) als vielmehr auf die Frage der Postgraduierten-Ausbildung, ange- regt durch die beiden an kunsthistorischen Instituten promovier- ten Architekten Stanford Anderson (PhD Columbia University, New York) und Peter Eisenman (PhD Trinity College, Cambridge, 11 Vgl. Suzanne Frank (Hg.): IAUS The Insti- 12 Alexander Caragonne: The Texas Rangers: tute for Architecture and Urban Studies: an Insi- Notes from the Architectural Underground. der’s Memoir: with 27 other Insider Accounts. Cambridge, MA 1995. Bloomington 2011. 365 INSTITUTIONALISIERTE KRITIK? → INHALT UK). Eines der wiederkehrenden Themen war die Frage der ‚Forschung in der Architektur’ und wie diese zu einem diszip- lin-spezifischen Doktorat beitragen könne – in Abgrenzung zu den bestehenden Promotionsformen an kunsthistorisch-philoso- phischen Instituten. Denn ein Doktoratsstudium gab es zu diesem Zeitpunkt an keiner der US-Architekturschulen. Eisenman fand bereits im Jahre 1967 mit der Gründung des IAUS eine eigene Plattform für ‚Diskurs’ – wie man bald zu sagen pflegte – und für nicht weniger wichtige Forschungsgelder, Stipendien, private Stiftungen und Zuschüsse zu Publikationen, zu post-gradua- len Studien und Forschungsaufträge (anfangs sogar mit Studien für sozialen Wohnungsbau, die jedoch rasch wegen schwinden- der föderaler Mittel des US Department of Housing and Urban Development HUD und des drohenden Bankrotts von New York City eingestellt wurden). Stanford Anderson hingegen schlug eine andere Richtung ein und gründete mit seinem Kollegen Hank Millon das HTC am MIT als erstes Doktorats-Programm an einer US-amerikanischen Universität im Jahre 1974 – genau zehn Jahre nach seiner Berufung. 1964 – im selben Jahr der Gründung von CASE – fand auch eine ‚Teachers Conference’ für Lehrende in Geschichte, Theorie und Kritik der Architektur an der Cranbrook Academy in Michigan statt, gemeinsam getragen von der Association of Collegiate Schools of Architecture (ACSA), dem Verband nordamerika- nischer Architekturdepartemente, und dem American Institute of Architects (AIA), der US-amerikanischen Berufsvereinigung der Architekten. Den Vorsitz hatte der 1960 am MIT berufene Architekturhistoriker Hank Millon inne, als Gastredner gela- den waren Reyner Banham (London), Bruno Zevi (Rom), Colin Rowe (Ithaca) und Sibyl Moholy-Nagy (New York City). 13 Die versammelten Architekturlehrenden stritten um nicht weniger als die (bereits von Nikolaus Pevsner aufgeworfene) Frage, wie sich die Architekturgeschichte angesichts einer zweiten und 13 Marcus Whiffen (Hg.): The History, Theory and Criticism of Architecture: Papers from the 1964 AIA-ACSA Teacher Seminar. Cambridge, MA 1965. 366 OLE W. FISCHER Abb. 1: Der von Maurice Smith entworfene Umschlag des Buches The History, Theory and Criticism of Architecture. Marcus Whiffen (Hrsg.), The History, Theory and Criticism of Architecture. Papers from the 1964 AIA-ACSA Teacher Conference, Cambridge, Mass: MIT Press, 1964.S.[1-2] 367 INSTITUTIONALISIERTE KRITIK? → INHALT dritten Generation jener Moderne verhalten solle, die sich selbst als ‚ahistorisch’ wahrnehme. Es gebe, so die Diagnose der versammelten Architekturlehrenden, eine Krise der Architekturgeschichte an US-amerikanischen Universitäten, da nahezu alle seit (spätestens) den 1950er Jahren auf die Moderne ausgerichtet waren, und zusammen mit der Bauhaus- Pädagogik auch einen ihrer Grundirrtümer übernommen hät- ten. Denn als Walter Gropius 1919 die Architekturgeschichte aus dem Curriculum des Staatlichen Bauhauses in Weimar verbannte, hatte er sie im Verdacht, als Stilgeschichte den ver- achteten historistischen Eklektizismus befördert zu haben. Die langfristige Folge, so die versammelten Kritiker weiter, sei ein gespaltenes Verhältnis zwischen Architekturgeschichte und Entwurfsunterricht, was zu neuen eklektizistischen Tendenzen – wenn nicht gar einem neuen Historismus – in der Architektur der späten 1950er und frühen 1960er Jahre geführt habe, wie beispielsweise in der Arbeit von Philip Johnson. 14 Die Antwort sei, so schließlich die versammelten Architekturlehrenden weiter, in einer verstärkten Ausrichtung der Architektur (und Architekturgeschichte) auf „Forschung“ zu suchen, sowohl in Bezug zu den Natur- und technischen Wissenschaften als auch zu den Sozial- und Geisteswissenschaften. Diese von Millon moderierte Diskussion sollte wohl nicht zuletzt, so scheint es zumindest aus der Retrospektive, als Testballon für ein Programm in Geschichte, Theorie, Kritik der Architektur fungieren und die Pläne zur Gründung eines Institutes samt Doktorats an der eigenen Institution, dem MIT, durch die versammelte Professorenschaft legitimieren. Eine Schlüsselrolle in der ‚Teachers Conference’ nahm der frisch berufene Architekturhistoriker und jüngere Kollege Millons am MIT, Stanford Anderson, ein, der in seinem programmati- schen Vortrag direkt die Wissenschaftstheorie Karl Poppers auf die Architektur übertrug, und die vergleichsweise naiv 14 Ebd. 368 OLE W. FISCHER funktionalistische Argumentation des englischen Kritikers Reyner Banham sowohl methodologisch wie auch rhetorisch auseinandernahm. 15 Bereits vor der Gründung des HTC gab es an der School of Architecture (and Planning) des MIT – wie auch an anderen Architekturabteilungen, so beispielsweise in Princeton oder in Cornell – Doktorate, aber in Stadtplanung (Urban Planning), ebenfalls verbunden mit einer Institutsgründung, dem Center of Urban and Regional Studies (seit 1957), welches wenig später mit dem Joint Center for Urban Studies der Harvard Graduate School of Design zusammengelegt wurde (1959). Der Ansatz war hier anfangs ganz auf mathematisch-kybernetische Modelle und erste Computeranwendungen gerichtet. Beispielhaft für diesen technisch-funktionalistischen Ansatz ist die Dissertation des in Österreich geborenen und in Oxford ausgebildeten Mathematikers und Architekten Christopher Alexander, die als Notes on the Synthesis of Form 1964 veröffentlicht wurde. 16 Soziologie, Ökonomie, Politik – und die Geisteswissenschaften generell – wurden primär als Zulieferer für Daten betrach- tet, während die heute in Architekturkreisen wohl bekannteste Publikation eher ein Randphänomen blieb – das Buch The Image of the City von Kevin Lynch, der zusammen mit György Kepes, Donald Appleyard, Sydney Brower und Michael Southworth im MIT-Harvard Joint Center for Urban Studies eine ‚Visual Studies’ Gruppe gebildet hatte. 17 Erst 1967 gelang es Kepes mit der Gründung des Center for Advanced Visual Studies, sich unab- hängig am MIT zu positionieren. Der erste Schritt hin zur Institutionalisierung von HTC war die Einführung eines eigenen Bachelorabschlusses in History Theory Criticism of Art and Architecture innerhalb der School of 15 Stanford Anderson: Architecture and Tra- 16 Christopher Alexander: Notes on the dition that isn’t »Trad, Dad«. In: Ebd., S. 71–89; Synthesis of Form. Cambridge, MA 1964; die direkt bezugnehmend auf: Reyner Banham: Dissertation wurde von der Harvard Graduate Coventry Cathedral – Strictly »Trad, Dad«. In: School of Arts and Sciences abgenommen, ein Architectural Forum 117 (August 1962), S. 118f. eigenständiges PhD Programm in Architektur Nachdruck der Ausgabe in: New Statesman, gibt es erst seit 1987. 25.05.1962, S. 768f. 17 Kevin Lynch: The Image of the City. Cam- bridge, MA 1960 (Technology Press, später dann MIT Press). 369 INSTITUTIONALISIERTE KRITIK? → INHALT Abb. 2: Stanford Anderson, Robert Goodman, Henry A. Millon (Planverfasser) mit Stu- dierenden des MIT, Entwurf zur Landgewinnung in New York City. Museum of Modern Art (MoMA) (Hrsg.), The New City: Architecture and Urban Renewal, Ausstellungskatalog [ohne Verlag], 1967, S.  43 370 OLE W. FISCHER Architecture and Planning am MIT im Jahre 1966, nur zwei Jahre nach dem CASE Treffen und der ‚Teachers Conference’. Der neue Bachelor initiierte die Berufung von zwei Assistenzprofessoren: Wayne Andersen (1964) und Rosalind Krauss (1967), beide aus- gebildet als Kunsthistoriker, was das MIT Architekturprogramm von allen anderen Architekturabteilungen in den USA unter- schied. In einem zweiten Schritt verfassten Hank Millon und Stanford Anderson 1971 einen Entwurf für ein PhD Program in History Theory Criticism of Art, Architecture and Urban Form (wie es im Entwurf noch hieß, später dann Art, Architecture and Environmental Studies, während heute der Titel auf Art and Architecture begrenzt ist). 18 Doch obwohl der Entwurf genehmigt wurde, kam es zu Komplikationen durch die Wegberufung Hank Millons an die American Academy in Rom 1973, gefolgt von seiner Berufung als Gründungsdekan des Center for Advanced Study of the Visual Arts an der National Gallery Washington D.C. 1979. Durch die Abwanderung von Rosalind Krauss nach Princeton im Jahre 1973 musste das junge Institut anfangs von den ver- bliebenen beiden Assistenzprofessoren Stanford Anderson und Wayne Andersen gestemmt werden. Auch wenn die Berufungen von Dolores Hayden (die selbst kein PhD besaß) und Donald Preziosi im Jahre 1973 (beide als Assistenzprofessoren) ebenso wie der illustre Reigen an Gastprofessoren Abhilfe versprachen, konnte sich das HTC Programm erst mit der Berufung von David Friedman im Jahr 1978 konsolidieren. Von dem MIT HTC Programmentwurf können folgende Punkte für eine Diskussion der Institutionalisierung der Kritik an Architekturschulen herausdestilliert werden: Erstens kritisieren die beiden Autoren Millon und Anderson die ‚engagierte’ bzw. ‚operative (Tafuri 19) moderne Archi- tekturgeschichtsschreibung à la Pevsner, Giedion, Zevi oder 18 Henry Millon, Stanford Anderson: Proposal 19 Manfredo Tafuri: Theories and History of for a PhD Program in History, Theory and Architecture. London 1980 (aus dem Italieni- Criticism of Art, Architecture and Urban Form. schen: idem: Teorie e storia dell’ architettura. Spring 1971, n.p. MIT Institute Archives, Series Bari 1968), S. 141. VII, Departments 1965–85, Box 175, Folder: Dept. of Architecture and Planning, 1969-76/24; zitiert nach: John Harwood: How Useful? In: Dutta (2013) (Anm. 7), S. 134. 371 INSTITUTIONALISIERTE KRITIK? → INHALT Banham, welche Millon und Anderson als „parteiisch“ (und deshalb gerade nicht wissenschaftlich im Sinne der Historio- graphie) betrachten. 20 Doch grenzen sich die Verfasser ebenso von der traditionell eher konservativ ausgerichteten Kunstgeschichtsschreibung ab, die sich primär auf Bild, Form und Bedeutung beschränke und somit Fragen der Materialität, der Produktionsbedingungen, der Technik und des sozialen, öko- nomischen und urbanen Kontextes von Architektur und Stadt, mit denen sich Architekten konfrontiert sehen, selten anspre- che, schlicht weil Kunsthistorikern gewöhnlich die Kompetenz in Entwurf und Ausführung fehle, um diese Phänomene angemes- sen beschreiben zu können. Zweitens fordern die Autoren eine spezifisch architektonische Geschichtsschreibung ein, die, so Millon und Anderson weiter, nicht an kunsthistorischen Instituten angesiedelt sein sollte, son- dern in Auseinandersetzung (und zum gegenseitigen Wohl) mit praktizierenden Architekten, Künstlern und Studierenden entste- hen solle, um so eine neue Generation von als Architekten aus- gebildeten Architekturhistorikern und -theoretikern hervorzubrin- gen (was bereits von Eisenman und Anderson im Rahmen der CASE Treffen diskutiert wurde). Drittens schlagen die Autoren einen Dreiklang aus Geschichte- Theorie-Kritik vor, jeder Bereich mit einer eigenen Rolle für die Architekturausbildung: ‚Geschichte’ wird von den beiden Autoren im Sinne der allgemeinen Historiographie als ‚wissenschaft- lich’ verstanden, das heißt, als (teil-)autonom gegenüber der Architektur, als an historischen Fragestellungen ausgerichtet, mit eigenen Methoden und eigenen Erkenntnissen (hier beson- ders wird Andersons Vertrautheit mit den Wissenschaftstheorien von Karl Popper und Paul Feyerabend deutlich). ‚Theorie’ befasst sich mit der Methodenfrage der Geschichtsschreibung, deren Reflexion – besonders von einem komparativen Standpunkt aus im Vergleich zu anderen Wissenschaften: von der Soziologie, An- thropologie, Philosophie, Wissenschaftsgeschichte und -theorie, über Linguistik bis hin zu den Informations- und technischen 20 Millon, Anderson (1971) In: Dutta (2013) (Anm. 7), S. 139. 372 OLE W. FISCHER Wissenschaften. ‚Theorie’ umfasst für Millon und Anderson auch das Nachdenken über Curricula und Lehre (Pädagogik) in der Architektur. ‚Theorie’ ist zudem per se ‚kritisch’, besonders im Hinblick auf die logische Unmöglichkeit einer ‚universellen Theorie der Architektur’, womit sich die Autoren direkt gegen die Moderne und ihren theoretischen Überbau wenden, wie bei- spielsweise Giedions hegelianische Thesen zum ‚Zeitgeist’ in Space, Time and Architecture. 21 ‚Kritik’ schließlich verstehen Millon und Anderson im Sinne einer Auseinandersetzung mit dem Entwurf, weshalb beide Autoren wiederholt an Architekturprojekten mitgearbeitet haben und sich mit Fragen der Entwurfsmethodik beschäftigt haben. Andersons Engagement in CASE führte gar so weit, dass er 1967 ein MIT Entwurfsteam für die MoMA Ausstellung The New City. Architecture and Urban Renewal anführte und an einem umfangreichen Projekt zur spekulativen Projektion der gesell- schaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen für Architekten in der Zukunft forschte. 22 Zudem sollte ‚Kritik’ einer systemati- schen Überprüfung (oder ‚Falsifizierung’, um es mit Popper zu sagen) der in der Geschichte und Theorie erarbeiteten Modelle, Methoden und Hypothesen dienen. Außerdem stellen beide Autoren fest, wie wichtig ein hauseigener akademischer Verlag sei, wie ihn das MIT durch die MIT Press als unabhängige Einrichtung seit 1962 verfügte, um die Ergebnisse der Forschungsinstitute zu publizieren, und die Forschung zurück in die Disziplin wie auch die Gesellschaft als Ganzes zu tragen, aber auch, um die ‚Marke’ MIT HTC rasch bekannt zu machen und zu einem Vorbild für alle Folgeinstitutionen in den USA und andernorts werden zu lassen. 23 21 Giedion 1941 (Anm. 4), S. 5. 23 Ein Vorläufer der MIT Press, die Technology Press, existierte seit 1932 als Zusammenarbeit 22 Stanford Anderson: Possible Futures and mit dem kommerziellen Verleger John Wiley & their Relations to the Man-Controlled Environ- Sons. ment. Forschungsprojekt 1966–78 mit Unterstüt- zung der Graham Foundation und des Institute of Architecture and Urban Studies IAUS, New York; Stanford Anderson (Hg.): Planning for Diversity and Choice: Possible Futures and their Relations to the Man-Controlled Environment. Cambridge MA, 1968; Stanford Anderson (Hg.): On Streets. Cambridge, MA 1978. 373 INSTITUTIONALISIERTE KRITIK? → INHALT Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das MIT HTC Programm die Institutionalisierung von Geschichte, Theorie (und Kritik) der Architektur in den USA in den 1970er und 80er Jahren betrieben hat – parallel, zum Teil überlappend, und doch unabhängig vom IAUS in New York – als eine Legitimierung der Architektur an einer forschungsintensiven technischen Universität wie dem MIT, und als eine Intellektualisierung der architektonischen Praxis (mit der ihr eignen Geschichte und Traditionen) durch ein rigoroses, systematisches und inter- disziplinäres Forschungsprogram. Dabei konnte das HTC auf Unterstützung von Institutionen, Programmen, Förderungen und Publikationen (wie beispielsweise das Canadian Centre for Architecture (CCA) in Montreal, gegründet 1979, oder die Graham Foundation, gegründet 1956) bauen, just in dem Moment des als Scheitern wahrgenommenen Endes der Spätmoderne, als diese sich vom revolutionären Narrativ ebenso wie vom technologi- schen Determinismus der Modern zu lösen begann. Damit wurde die Moderne selbst wieder verfügbar für Historisierungen und (Re-)Kontextualisierungen, wie beispielsweise Andersons eigene Dissertation zu Peter Behrens, dem Werkbund und der frühen Moderne. 24 Institutsgründung GTA 1967 – eine vergleichende Betrachtung An der ETH Zürich findet sich Ende der 1960er Jahre eine ganz ähnliche Situation: entgegen (oder gerade wegen?) eines uni- versitären Umfelds, das charakterisiert ist durch einen spätmo- dernen technologischen Determinismus, steht die Gründung des Institutes für Geschichte und Theorie der Architektur GTA im Jahre 1967 für eine Rückbesinnung auf die Historie der Disziplin in der Architekturausbildung ebenso wie für die Ausweitung des Blickwinkels über die Disziplin hinaus – Soziologie, Anthropologie, Kunst- und Literaturkritik, Philosophie bis hin zu 24 Stanford Anderson: Peter Behrens and veröffentlicht in überarbeiteter Fassung als: the New Architecture of Germany, 1900-1917 Ders.: Peter Behrens and a New Architecture (Dissertation Columbia University, l968); for the Twentieth Century. Cambridge, MA 2000. 374 OLE W. FISCHER Linguistik, Semiotik, und Strukturalismus und einem erneuten Interesse an Populärkultur und dem Vernakulären – aus dem sich eine spezifische neue Architekturtheorie nach 1968 bilden sollte. Auch wenn sich die Details noch im GTA Archiv in Zürich verber- gen, durchlebte das GTA – verglichen mit der Dekade, die das MIT HTC benötigte – eine wesentlich kürzere Inkubationszeit bis hin zur offiziellen Inauguration im Sommer 1967. 25 Analog zu den Gedanken von Millon und Anderson bezüglich der Notwendigkeit eines akademischen Verlages begann auch das GTA die Arbeit sofort mit einer Publikation in einer eigenen Reihe – der erste Band war dem Eröffnungsreden gewidmet – aus der sich über Zwischenstufen der Kooperation mit kommerzi- ellen Verlagshäusern, wie Birkhäuser (Basel), Ammann Verlag (Bern) und Ernst & Sohn (Berlin), der hauseigene GTA Verlag entwickeln sollte. 26 Das neue Institut versprach ein weites akademisches Feld abzustecken, von der namensgebenden Geschichte und Theorie der Architektur zu Kunstgeschichte bis hin zu Denkmalpflege. Doch bereits die Eröffnungsreden zeigen eine latente Spannung zwischen einem textgebundenen kunst- historischen Ansatz von Adolf Max Vogt gegenüber einem stär- ker baugeschichtlichen Ansatz repräsentiert von Paul Hofer. Vogt argumentiert provokativ für eine historische Dominanz der Texte, Bilder und Ideen über das Material. Er verweist unter anderem auf die pythagoreische Harmonielehre, die von der frü- hen Antike bis zum Modulor von Le Corbusier reiche, auf das Beispiel von Abbé Laugiers Diskurs über die Urhütte als Motiv für den Neoklassizismus oder auf das Beispiel von Serlios Druck des unrealisierten regelmäßigen Kuppelentwurfes für 25 Adolf Max Vogt: Das Institut, seine Auf- 26 Jakob Burckhardt, Adolf Max Vogt, Paul gabe, seine Verpflichtung. In: Jakob Burck- Hofer: Institut für Geschichte und Theorie der hardt, Adolf Max Vogt, Paul Hofer: Institut für Architektur. Reden und Vortrag zur Eröffnung, Geschichte und Theorie der Architektur. Reden 23.6.1967, Basel, Stuttgart 1968. und Vortrag zur Eröffnung, 23.6.1967. Basel, Stuttgart, 1968, S. 11–19; Vgl.: Ruth Hanisch, Steven Spier: »History is not the Past but Another Mightier Presence«: the founding of the institute for the History and Theory of Archi- tecture (gta) at the Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zurich and its effects on Swiss Architecture. In: The Journal of Architec- ture, Heft 6 (2009), S. 655–686. 375 INSTITUTIONALISIERTE KRITIK? → INHALT St. Peter von Bramante, der eine Rezeptionsspur von Christopher Wren (St. Paul’s Cathedral), Boullée (église métropolitaine) bis hin zur Erneuerung der Kuppel des US Capitols in Washington D.C. Mitte des 19.  Jahrhunderts zeichne. 27 Damit nicht genug, auch für das 20.  Jahrhundert beansprucht Vogt eine Prämisse von Schrift und Bild über den Stein, wenn er sowohl den CIAM wie auch (den im Auditorium sitzenden) Sigfried Giedion als mögliche Forschungsthemen des GTA skizziert. In Bezug auf Giedions epochemachendes Buch Space, Time and Architecture etwa denkt Vogt an eine Untersuchung der Wechselwirkung zwi- schen „Theorie“ (hier verstanden als „Grundüberzeugungen“ des Historikers Giedion, das heißt als eine Form der Ideologie) und „Praxis“ (hier verstanden als die Arbeiten der Meister der Moderne, wie sie Giedion in seinem Buch beschreibt, wie auch die Rückwirkung des Buches seit dessen Veröffentlichung 1941 auf die zweite und dritte Generation moderner Architekten). 28 Mit seiner Hervorhebung von „Rezeption“ und „Wirkung“ setzt Vogt auf eine ähnliche Historisierung der modernen Architektur wie Anderson am MIT, doch mit dem Unterschied, dass er die ‚operative’ Geschichtsschreibung Giedions noch nicht kritisch reflektiert und ablehnt, im Gegensatz zu Anderson und Millon (oder auch Tafuri). Hofer andererseits versucht die Materialität des Steins ganz direkt zu verstehen, indem er eine Analyse der Oberflächenbearbeitungen mittelalterlicher Steinmetze vorstellt, um die ausgegrabene romanische Zähringerfestung Nydegg in der Berner Innenstadt genauer zu datieren. 29 Damit posi- tioniert sich Hofer näher an der deutschsprachigen Tradition der ‚Baugeschichte’ technischer Hochschulen, die sich mehr der Archäologie, den Natur- und technischen Wissenschaften verbunden fühlt, indem sie den baulichen Bestand direkt als materielle Zeugnisse und Primärquellen für historische Forschung betrachtet, während das GTA sich früh auf Seiten der 27 Adolf Max Vogt, „Das Institut, seine Aufga- 29 Paul Hofer: Die Haut des Bauwerks. be, seine Verpflichtung“, in: Burckhardt, Vogt, Methoden zur Altersbestimmung nichtdatierter Hofer 1968, (Anm. 25) S. 11–19, hier: S. 13–16. Architektur. In: Burckhardt, Vogt, Hofer 1968 (Anm. 25), S. 21–51. 28 Ebd., S. 16–18. 376 OLE W. FISCHER ‚Architekturgeschichte’ positioniert hat, die primär mit kunsthis- torischen Methoden der Hermeneutik von Texten (Archiv) und Bildexegese (Zeichnung, Fotographie) arbeitet und entsprechend auf Überlieferung angewiesen ist. Entsprechend deutet auch die Berufungspolitik des Institutes GTA auf eine Bevorzugung von Kunsthistorikern hin und gerade nicht des neuen Typus der Architektur-Wissenschaftlerin, wie er von Millon und Anderson für das MIT HTC gefordert wird. Auch überrascht es kaum, dass der Dozent für Denkmalpflege, Albert Knoepfli, der ursprüng- lich einer der Mitbegründer des Institutes GTA im Sommer 1967 war, gleich nach seiner Beförderung zum Ordinarius im Jahre 1972 sein eigenes Institut für Denkmalpflege an der ETH gegrün- det hat. Die Positionierung des Institutes GTA auf Seiten einer Autoren-Architektur (im Gegensatz zum ‚Bauen’ und seiner vernakulären, anonymen und archäologischen Untertöne) und auf Seiten kunsthistorischer Methodik (Autor, Form, Text, Bild, Bedeutung) führte in Folge zu einer wachsenden Entfremdung von der praktischen Denkmalpflege und der Bauforschung (mit ihrem technisch-naturwissenschaftlichen Apparat). Von Anfang an spezialisierte sich das GTA auf monographische Studien, Archivrecherche, Wirkungsgeschichte und Diskursgeschichte – das heißt, primär auf Fragen der Kommunikation, der Bedeutung und der Interpretation, wie sie zeitgleich auch in der entste- henden Postmoderne verhandelt wurden, als Kritik an den eher technischen, funktionalen, sozialen und abstrakt künstle- rischen Begründungszusammenhängen der (Spät-)Moderne. Am anderen Ende des Spektrums grenzte sich das Institut GTA strikt von den Entwurfsstudios ab, indem es die Vermittlung von Geschichte und Theorie (man beachte das Fehlen von ‚Kritik’ im Namen) nahezu ausschließlich über die Formate Vorlesung und Seminar betrieb. In direkter Opposition dazu fordert der Entwurf des HTC Pro- gramms am MIT explizit eine direkte Konfrontation und Kooperation mit den Entwurfsstudios. 30 Doch man hätte in Zürich gar nicht 30 Auch wenn zugegebenermaßen die real komplizierter sind, wie der Autor während eines existierenden Verhältnisse an der School of Semesters als Gastprofessor am HTC im Jahre Architecture and Planning am MIT etwas 2010 feststellen musste. 377 INSTITUTIONALISIERTE KRITIK? → INHALT so weit zu schweifen brauchen, direkt vor der eigenen Haustür gab es mit Jürgen Joedicke einen Vertreter eines ganz anderen Ansatzes: 1967, im gleichen Jahr wie die Eröffnung des GTA, grün- dete Joedicke an der Technischen Hochschule Stuttgart (heute: Universität Stuttgart), die ebenso wie ETH und MIT der polytech- nischen Tradition entstammt, das Institut Grundlagen der moder- nen Architektur (IGMA). Ganz bewusst wollte Joedicke damit die Erforschung der Moderne (als ‚Geschichte’, das heißt primär der 1920er und 1930er Jahre) mit der Kritik an der Spätmoderne (sein Interesse an Team X, Brutalismus etc.) verbinden und zu einer anderen Art der Praxis zusammenführen (so unterrichtete er nicht nur Entwurf, sondern auch Entwurfsmethodik und praktizierte selbst als Architekt). Und Joedicke war in Zürich wahrlich kein Unbekannter. Er war als Autor hervorgetreten, durch den CIAM und Team X verbunden und in den 1960er Jahren Redaktor der Schweizer Zeitschrift Bauen + Wohnen. 31 Joedicke war somit ein wichtiger Protagonist in einem Netzwerk von Denkern, die in den 1960er Jahren kritisch über eine Alternative zur (spät)modernen Architekturausbildung nachdachten und die sich im Speziellen für eine Neubegründung der Architekturgeschichte und -theorie an Architekturschulen einsetzten, parallel zu Millon und Anderson am MIT und Vogt, Hofer etc. an der ETH. 32 (Anstatt einer) Schlussbetrachtung: Das Ende der Theorie? Während der 1960er Jahre sahen sich sowohl die Praxis als auch Lehre der spätmodernen Architektur einer grundlegenden Kritik ausgesetzt. Im Moment der Krise, als der Überbau der Disziplin fragwürdig geworden schien, gelang es der Architektur, ein neues 31 Jürgen Joedicke, Geschichte der modernen CIAM Otterlo, Brutalismus (Reyner Banham), Architektur: Synthese aus Form, Funktion und Georges Candilis und andere zeitgenössische Konstruktion, Stuttgart 1958, übersetzt als: Architekten, oder Monographien zu den „Meis- idem, A History of Modern Architecture, New tern der Moderne“, wie Hugo Häring, etc. York 1959; Jürgen Joedicke (Hrsg.), Dokumen- te der modernen Architektur, Volume I – XV, 32 Eine ausführliche Diskussion zu Jürgen Zurich: Girsberger; Stuttgart: Krämer, 1959–87: Joedicke und der Geschichte des IGMA in welche unter anderem thematische Ausgaben Stuttgart würde weit über das Format dieses und deutsche Übersetzungen beinhalteten zu: Essays hinausgehen und muss daher hier unterbleiben. 378 OLE W. FISCHER ideologisches Projekt aus eben jener Kritik zu errichten. Statt wei- ter an technischer Optimierung zu arbeiten oder für eine zukünf- tige Gesellschaft zu planen, richteten Lehrende der Architektur ihre intellektuellen Energien zunehmend auf die Geschichte der eigenen Disziplin, auf Soziologie, Philosophie, Anthropologie, Linguistik, Feminismus, Populärkultur oder andere geisteswis- senschaftliche Felder. Dieser Prozess der Internalisierung von Kritik läßt sich anhand der Institutionalisierung von Geschichte und Theorie an exemplarischen Architekturschulen aufzeigen, im Besonderen denen polytechnischer Prägung, die selbst einem technologischen Positivismus dieser Ära huldigten (MIT, ETH, TH Stuttgart). Die Internalisierung von Kritik verknüpfte Kritik am Projekt der Moderne, das selbst nach Revision und Historisierung fragte (das heißt, das als etwas Vergangenes gedacht werden konnte und damit als Studienobjekt zur Verfügung stand), mit der Verbreitung der Prämissen von ‚Wissenschaft’ und ‚Forschung’ als gemeinsamer Nenner an eben diesem Typus von techni- schen Hochschulen. Sie eröffnete Entwicklungspfade zu neuen Instituten und Programmen für Geschichte, Theorie (und Kritik) innerhalb der Architekturausbildung. Zusätzliche Impulse gingen von der Institutionalisierung der Kritik am Rande oder außer- halb der Universitäten aus, wie beispielsweise am IAUS in New York oder in Organisationen wie dem CCA in Montreal oder dem Deutschen Architekturmuseum Frankfurt DAM (gegrün- det 1977/1984). Diese unterschiedlichen Initiativen veränderten grundlegend, was unter Architektur verstanden wurde, wie über sie gesprochen und geschrieben wurde, wie sie vermittelt und gelehrt wurde und auch wie sie praktiziert wurde. Heute, 50 Jahre später, ist das Projekt einer internalisierten Kritik selbst der Kritik ausgesetzt. Der „lange Sommer der Theorie“ – wie die kritische Phase der späten 1960er bis in die 1980er getauft wurde – führte zunächst zu einem saisonalen Wechsel ‚modi- scher’ Theoriekonstrukte, bevor der Fall des Eisernen Vorhangs sowohl zu einer Theoriemüdigkeit führte, als auch die Architekten plötzlich zu beschäftigt waren, die Möglichkeiten weltweit sich öffnender Architekturmärkte für sich zu entdecken, als dass sie allzu lange bei der Lektüre ‚schwieriger’ Texte zu verweilen 379 INSTITUTIONALISIERTE KRITIK? → INHALT vermochten. 33 Die Rolle einer Legitimation der Disziplin hat sich seitdem von Geschichte, Theorie, Kritik zur Technologie verscho- ben. Einher geht damit eine pädagogische Ausrichtung auf die Vermittlung von Fähigkeiten und den Gebrauch von Werkzeugen, besonders der digitalen Programme und Darstellungstechniken, der Kennwerte und Standartlösungen für ‚nachhaltiges’ und ‚resilientes’ Bauen, wie auch die Palette der Materialforschung und Fabrikation. Parallel dazu hat eine historische Aufarbeitung der 1960er Jahre begonnen als Jahre der Krise, dem Anbrechen der Postmoderne, und der damit verbundenen ‚Neu-Geburt’ der Architekturtheorie und -geschichte. Das Interesse heutiger Architekturhistorikerinnen an der Phase der 1960er bis 1980er Jahre erinnert frappierend an die Historisierung der Moderne durch die Protagonisten eben jener Phase (beispielsweise Anderson über Behrens, Joedicke über Häring, Vogt über den CIAM etc.). Doch die Frage bleibt: Schließt sich damit der Kreis der Institutionalisierung der Kritik in Form von Geschichte und Theorie in der Architekturausbildung und befinden wir uns in einer weiteren Phase technologisch determinierter Neo- Moderne (oder „Reflexiven“ bzw. „Flüssigen Moderne“ 34)? Oder sprechen diese Indizien nicht vielleicht für eine ganz andere Interpretation, für ein kulturelles Szenario, bei dem die Historisierung der vorangegangenen Epoche deren Abschluss und Ende andeutet, und wir am Übergang zu einer völlig anderen gesellschaftlichen, kulturellen und intellektuellen Epoche stehen, die auch nach einer anderen Architektur und Architekturlehre verlangt? 33 Philipp Felsch: Der lange Sommer der The- orie: Geschichte einer Revolte 1960 bis 1990. Frankfurt a. M. 2016. 34 Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frank- furt a. M. 1986, S. 14; Ulrich Beck, Anthony Giddens, Scott Lash: Reflexive Modernisierung: eine Kontroverse. Frankfurt a. M. 1996 (aus dem Englischen: Reflexive Modernization: Politics, Tradition and Aesthetics in the Modern Social Order. Cambridge 1994); Zygmunt Bauman: Liquid Modernity. Cambridge 2000. 380 PETER I. SCHNEIDER PETER I. SCHNEIDER Die Formatierung der Geschichte Zum konzeptionellen Umgang mit dem „Erbgut“ der Architektur an Architekturfakultäten im deutschsprachigen Raum In der Architektenausbildung dient eine Reihe unterschiedli- cher Fächer der historisch orientierten Lehre: Baugeschichte, Architekturgeschichte, Architekturtheorie, Kunstgeschichte und Denkmalpflege sind hier als verschiedene Zugänge zur gebauten Umwelt anzuführen. In den einzelnen Fakultäten sind die Fächer jeweils individuell kombiniert. Dabei sind jedoch tendenziell zwei Kombinationstypen zu erkennen, die als einander entgegenge- setzte Haltungen zur Bewertung der geschichtlich orientierten Perspektive gedeutet werden können: der eine Typ ist gekenn- zeichnet durch eine reduzierte Form der Repräsentation histo- rischer Reflexion mit wenigen, übergreifenden Fachbereichen, den anderen Typ charakterisiert die Breite spezialisierter Zugänge, die durch eine höhere Anzahl einzelner Professuren vertreten sind. Angesichts des Übergangs vom Denkmalpflege- zum Heritagediskurs tragen beide Typen schließlich deutlich zur Profilbildung der Fakultäten bei. Der Beitrag versucht diese Sichtweise mit einem Überblick über die Verteilung der Fächer zu fundieren und insbesondere die Rolle der Architekturtheorie im Prozess der Ausdifferenzierung zu verstehen. Was für eine Geschichte und wieviel davon tut Not in der Architektenausbildung? Nach der Zurückweisung des Histo- rismus als wissenschaftlichem Paradigma, für das die his- torische Perspektive auf die Architektur selbstverständliche Voraussetzung war, hat sich in der Moderne die Begründung 381 DIE FORMATIERUNG DER GESCHICHTE → INHALT und die Form der geschichtsorientierten Lehre an den Archi- tekturfakultäten entscheidend gewandelt. 1 Bau- oder Architektur- geschichte als die wissenschaftliche Würdigung von bereits abgeschlossenem baulichen Handeln ist danach jedoch nicht – wie dem Historismus vielfach vorgeworfen – auf die Identifikation ästhetischer Vorbilder und Musterlösungen künstlerischer Formen zu reduzieren, sondern erschließt – ganz allgemein gesprochen – im Erfahrungsraum des Vergangenen die Welt des bereits Gebauten als ein Reservoir von Lösungen baulicher (administrativer, logistischer oder organisatorischer), konstruk- tiv-technischer oder architektonisch-ästhetischer Art für diskur- sive (soziale, wirtschaftliche oder kulturelle) Probleme und akti- viert im Rahmen einer geschichtsorientierten Lehre das prakti- sche und didaktische Potential eben dieses Reservoirs – sei es zum Zwecke einer allgemeinen fachlichen Grundbildung oder sei es zur Vermittlung von Strategien zum Verständnis analytischer Aufgabenstellungen. 1 Beispielhaft sei hier auf die Restrukturie- zu Berlin siehe: Dieter Radicke: Zur Einführung: rung der historischen Lehre im Rahmen der Die Abteilung Architektur in den zwanziger Lehrreformen zu Beginn des 20. Jahrhun- Jahren – die Studienreform findet nicht statt. derts und nach dem Ersten Weltkrieg an den In: 100 Jahre Technische Universität Berlin Hochschulen in Danzig, Stuttgart, Karlsruhe, 1878–1979, Ausstellungskatalog Berlin. Berlin Aachen, München und Berlin verwiesen: zu 1979, S. 388–395; Friedrich Wilhelm Krahe: Danzig siehe Katja Bernhardt: Stil – Raum – Hundert Jahre Architektenausbildung an der Ordnung. Die Architekturlehre in Danzig Technischen Universität Berlin. In: Reinhard 1904–1945. Berlin 2015, S. 57–94; zu Stuttgart Rürup (Hg.): Wissenschaft und Gesellschaft. siehe Christiane Fülscher, Jan Lubitz, Klaus Jan Beiträge der Technischen Universität Berlin Philipp, Kerstin Renz, Dietlinde Schmitt- 1879–1979, Bd. 2. Berlin 1979, S. 189–214; Vollmer, Dietrich W. Schmidt: Geschichte des Goerd Peschken: Zwischen Schinkel-Schule Instituts für Architekturgeschichte der Universi- und Moderne, oder: die Lücke in der Bauge- tät Stuttgart. In: Klaus Jan Philipp, Kerstin Renz schichte. In: 1799–1999. Von der Bauakademie (Hg.): Architekturschulen. Programm – zur Technischen Universität Berlin. Geschichte Pragmatik – Propaganda. Tübingen 2012, und Zukunft. Ausstellungskatalog Berlin, Auf- S. 94–113; zu Aachen siehe Max Schmid-Burgk: sätze. Berlin 1999, S. 214–223; Robert Suckale: Die Abteilung I für Architektur. In: Paul Gast 150 Jahre Kunstgeschichte – zwischen Dienst- (Hg.): Die Technische Hochschule zu Aachen leistung und hochschulgemäßer Profilierung. 1870–1920. Eine Gedenkschrift. Aachen 1920, In: ebd., S. 78–83; Johannes Cramer: 200 Jahre S. 175–212; zu Karlsruhe siehe Uta Hassler: Entwerfen und Denkmalpflege an der TU Berlin. Zur polytechnischen Tradition der Baufor- In: ebd., S. 84–91; Stefanie Bahe, Dorothée schung. In: Uta Hassler (Hg.): Bauforschung. Sack: Archäologische Bauforschung an der Zur Rekonstruktion des Wissens. Zürich 2010, Technischen Universität und ihren Vorgängern. S. 81–122, hier S. 99–101; zu München siehe: In: ebd., S. 92–103. Winfried Nerdinger (Hg.): Architekturschule München 1868–1993. 125 Jahre Technische Universität München. München 1993, S. 79–92; 382 PETER I. SCHNEIDER Konzeptionen historischer Perspektiven „Curiously, there seems to be much broader general agreement on how much an architect student needs to know about struc- ture, materials, and technology then on what kind of historical knowledge is to be considered essential.“ 2 Dieses Zitat des an der Brown University lehrenden Professors Dietrich Naumann, das einem inzwischen 17 Jahre alten Überblick über die Verfassung und Traditionen der ‚Architectural History‘ an deutschsprachigen Hochschulen entnommen ist, verweist bereits darauf, dass die Formen, in denen die historisch-reflektierende Lehre in den Hochschulen konzipiert und verankert ist, durchaus sehr unterschiedlich sind und in der Gesamtschau zu einem sehr komplexen Bild führen. 3 Positiv aber deutet sich an, dass die viel- fältigen Formen auch erheblich zur Profilierung der Fakultäten beitragen können, und das sowohl hinsichtlich der Lehre als auch im Hinblick auf die von dort ausgehende Forschung. Spätestens seit dem Aufkommen der verschiedensten ‚Turns‘ in den Geisteswissenschaften, der Berücksichtigung interdisziplinärer Perspektiven und nach Aufweitung des Architekturbegriffs ist das Feld ab den 1990er Jahren unübersichtlicher geworden. 4 Eine 2 Dietrich Neumann: Teaching the History innerhalb Hochschulen zu sprechen. Im of Architecture in Germany, Austria, and Falle der TU Berlin etwa ist für die Ausbildung Switzerland: „Architekturgeschichte“ vs. der Architekten das Institut für Architektur „Bauforschung“. In: Journal of the Society konzipiert, das auf einer Ebene unterhalb der of Architectural Historians 61 (2002), H. 3, ‚Fakultät Planen Bauen Umwelt‘ angesiedelt S. 370–380, hier: S. 377. ist. An vielen anderen Hochschulen wie z. B. an der BTU Cottbus-Senftenberg sind lediglich 3 Die Komplexität ist zudem gesteigert durch einzelne Fachgruppen in der Fakultät ‚Archi- die grundsätzliche Schwierigkeit, eindeuti- tektur, Bauingenieurwesen und Stadtplanung‘ ge und durchgängige Begrifflichkeiten zur als Institute zusammengefasst, die jedoch alle Beschreibung des institutionellen Rahmens für auf die Ausbildung der Architekten und andere die Architekturlehre zu entwickeln, die einen Planungsberufe bezogen sind. Dennoch wird einfachen Vergleich der unterschiedlichen Mo- der Begriff ‚Architekturfakultät‘ – unabhän- delle erlauben würden. Die jeweils individuellen gig vom jeweils individuellen Namen an den Lösungen für die Verortung und Strukturierung einzelnen Hochschulen – hier dazu verwendet, der Architekturbereiche an den einzelnen um eben jene Lehr- und Verwaltungseinheit zu Hochschulen sowie für den internen Aufbau bezeichnen, die sich auf die Ausbildung von dieser Bereiche sind zu unterschiedlich. So ist Architekten bezieht. es z. B. nicht möglich, ohne Einschränkungen oder erschöpfende Erläuterungen einfach 4 Als dasjenige Fach, dem aufgrund seiner von ‚Architekturfakultäten‘ als struktureller Rolle und seines Anspruchs zuerst die Reflexi- Bezugsebene der Architektenausbildung on von Architektur als Gegenstandsbereich 383 DIE FORMATIERUNG DER GESCHICHTE → INHALT einheitliche Auffassung davon, was im Kern zu vermitteln ist, ist daher nicht zu erwarten und jede Fakultät steht vor der Aufgabe, die Rolle und die Form der geschichtlichen Lehre jeweils individu- ell für sich auszuhandeln. Dies gilt sowohl für die Denomination der Fachbereiche, Lehrstühle oder Professuren, die sich zukommt, ist es die vornehmliche Aufgabe der Autopoiesis of Architecture. A new Framework Theorie, die Integration der unterschiedlichen for Architecture, 1. Nachdruck der Ausgabe Zugangsweisen zur Architektur zu leisten und 1988. Chichester/West Sussex 2011, S. XI–XVI; Orientierungswissen zu vermitteln. In dieser Andrzej Piotrowski, Julia Williams Robinson: Hinsicht umfasst das Feld der Architekturthe- Introduction. In: Dies. (Hg.): The Discipline orie nicht nur die Reflexion aktueller innerar- of Architecture. Minneapolis, London 2001, chitektonischer Diskurse über ästhetische und S. IX-XVI; Susanne Hauser: Das Wissen der entwurfliche Themen, sondern auch die Inte- Architektur – Ein Essay aus kulturwissenschaft- gration außerarchitektonischer Diskurse wie licher Perspektive. In: Wolkenkuckucksheim 13 z. B. gegenwärtig die jeweils extrem dynami- (2005), H. 2 (Internetjournal). URL: http://www. schen Entwicklungen der Bild- und Medienwis- cloud-cuckoo.net/openarchive/wolke/deu/The- senschaften und der Kulturwissenschaften (mit men/042/Hauser/hauser.htm (26. April 2015); den Themen der Medialität und des Archi- Eduard Führ: Zur Theorie der Architektur als tekturgebrauchs), der Sozial- und Raumwis- Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspra- senschaften (mit den Themen Demographie, xis. In: Wolkenkuckucksheim 9 (2005), H. 2 (In- Migration und Mobilität), der Anthropologie (mit ternetjournal). URL: http://www.cloud-cuckoo. den Themen Ethik und Wahrnehmung), der net/openarchive/wolke/deu/Themen/042/ Ökologie (mit dem Thema der Nachhaltigkeit), Fuehr/fuehr.htm (26. April 2015); Gerd de Bruyn der stark innovativen Materialwissenschaften 2008: Die enzyklopädische Architektur: zur (mit dem Thema der gestalterischen Integra- Reformulierung einer Universalwissenschaft. tion) und nicht zuletzt auch der Digitalisierung Bielefeld 2008; Georg Franck: Die Architektur: als neuem technisch-sozialen Paradigma der eine Wissenschaft? In: Wolkenkuckucksheim 13 Informationsgesellschaft. Dabei sind die für die (2009), H. 2 (Internetjournal). URL: http://www. kulturelle Reflexion maßgeblichen Geistes-, cloud-cuckoo.net/journal1996-2013/inhalt/de/ Kultur- und Sozialwissenschaften in den letzten heft/ausgaben/208/Franck/franck.php (26. April 50 Jahren selbst herausgefordert durch eine 2015); Gerd de Bruyn, Wolf Reuter: Das Wissen Reihe paradigmatischer Wendungen und Wei- der Architektur. Vom geschlossenen Kreis zum tungen (‚Turns‘), vgl. Kate Nesbitt: Introduction. offenen Netz. Bielefeld 2011, S. 12–14; Jürgen In: dies. (Hg.): Theorizing a new Agenda for Renn, Matteo Valleriani u. a.: Elemente einer Architecture. An Anthology or Architectural Wissensgeschichte der Architektur. In: Jürgen Theory 1665–1995. New York 1996, S. 16–70. Renn, Wilhelm Osthues, Hermann Schlimme Neu etabliert haben sich zudem Wissensthe- (Hg.): Wissensgeschichte der Architektur 1. orie und -forschung, vgl. Jakob Vogel: Von der Berlin 2014, S. 7–53, hier: S. 10–14; Günter Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für Abel: Die Wissensformen der Architektur. In: eine Historisierung der Wissensgesellschaft. Dieter Eckert (Hg.): Die Architektur der Theorie. In: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), Fünf Positionen zum Bauen und Denken. H. 2, S. 639–660. Parallel zur Transformation Berlin 2014, S. 39–57). Eine Erweiterung des klassisch disziplinärer Paradigmata, die zur Architekturbegriffs durch Ausdehnung des Etablierung neuer Disziplinen wie der Kultur-, Gegenstandsbereichs z. B. auf bauliche Infra- der Raum-, der Medien- und der Designwis- strukturen (z. B. Georg Vrachliotis in Karlsru- senschaften geführt haben, ist deshalb um he) überschreitet schließlich die Grenze der die Jahrtausendwende auch innerhalb der bisherigen Konzentration auf das, was Fischer Architektur die Frage nach dem Verhältnis von im Sinne einer Kunst des Bauens als Kern Architektur und Wissenschaft sowie nach dem der Architektur umreißt, vgl. Günther Fischer: Wissensbegriff innerhalb der Architektur breit Architekturtheorie für Architekten. Basel 2014, diskutiert worden (Patrick Schumacher: The S. 59. 384 PETER I. SCHNEIDER Abb. 1a: Struktur der geschichtsorientierten und theoretischen Lehre an den Bau- und Ar- chitekturfakultäten von Hochschulen (Universitäten) im deutschsprachigen Raum (Stand 2015). Grafik: Autor geschichtlichen Aspekten des Faches widmen sollen, als auch für die Ausdifferenzierung historisch perspektivierter Zugänge zur Architektur. Auf diese Weise kann die Konzeptionierung der geschichtlichen Perspektive auch als Ausdruck der Profilierung der einzelnen Fakultäten verstanden werden. Abbildung 1a/b ist ein Versuch, die Formenvielfalt der Kon- zeptionen der geschichtlichen Lehre zu veranschaulichen, die an den Architekturfakultäten 5 im deutschsprachigen Raum für die gefundenen Lösungen gegenwärtig (Stand 2015) festzustellen ist. Die Visualisierung geht dabei allein von den Denominationen der Lehrstühle, Fachgebiete oder Professuren (im Folgenden kurz: Fachgebiete) aus, die als Baugeschichte oder Architektur- 5 Hier und im Weiteren berücksichtigt sind allein die Architekturfakultäten an Universitäten bzw. Technischen Universitäten im deutsch- sprachigen Raum (Gesamtzahl: 22), nicht jedoch an Fachhochschulen. 385 DIE FORMATIERUNG DER GESCHICHTE → INHALT Abb. 1b: Beobachtungen zur Ausstattung und Verortung historisch-reflexiv ausgerichteter Fachgebiete an den Bau- und Architekturfakultäten deutschsprachiger Hochschulen (Universitä- ten) (Stand 2015). Grafik: Autor geschichte der historisch basierten Reflexion von Architektur ge- widmet sind und bezieht die Architekturtheorie, Denkmalpflege, Kunstgeschichte sowie andere geistes- und sozialwissenschaftli- che Fachgebiete mit ein. ‚Baugeschichte‘, ‚Architekturgeschichte‘, ‚Architekturtheorie‘ und die Kombination der beiden letzteren als ‚Geschichte und Theorie der Architektur‘ können zusammen mit der ‚Denkmalpflege‘ und der ‚Kunstgeschichte‘ als klassische geschichts- orientierte Denominationen angesehen werden, wozu sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt hatten. In der linken Tabelle sind die einzelnen jeweils an den Hochschulen vorhandenen Fachgebiete angegeben, zugeordnet zu einer von vier Gruppen, die häufig den Strukturierungen der Fakultäten entsprechen. Dabei steht oft neben einer Gruppe von 386 PETER I. SCHNEIDER Fachbereichen, bei denen primär das Entwerfen im Vordergrund steht, eine Fächergruppe, die eine kulturwissenschaftlich-histo- rische Reflexion oder die Vermittlung sonstiger Grundlagen zur Aufgabe haben. Andere Gruppierungen innerhalb der Fakultäten sind in der Tabelle unter ‚Sonstiges‘ zusammengefasst. Bisweilen sind auch Strukturen zu finden, bei denen einzelne, hier zu berücksichtigende Fachbereiche nicht innerhalb der Architekturfakultät selbst, sondern an anderen Fakultäten ange- siedelt sind. Die Tabelle auf der rechten Seite der Grafik wiederum trägt der Breite der an den Fakultäten bzw. an den Hochschulen vertretenen Planungsdisziplinen (Architektur, Stadtplanung, Landschaftsplanung, Raumplanung, Bauingenieurwesen) Rech- nung. Mit rotem Rahmen gekennzeichnet sind diejenigen Fächer, die im Rahmen einer eigenständigen Unterabteilung (z. B. Department oder Institut) an der Fakultät vertreten sind. Weiterführende Beobachtungen ermöglicht eher eine andere Form der Darstellung, die auf bestimmte Assoziierungen ein- zelner Fachgebiete fokussiert (Abb. 2–4). Abbildung 2 unter- sucht die Rolle des Fachgebiets ‚Architekturgeschichte‘ an den Universitäten. An der Hochachse sind diejenigen Universitäten aufgeführt, an denen Architektur unterrichtet wird; an der Längsachse sind die einzelnen, auf die historisch oder theo- retisch perspektivierte Reflexion von Architektur bezogenen Fachgebiete abgetragen, die neben der Architekturgeschichte in enger Verbindung mit der Architektenausbildung vertreten sind. Es ist zu sehen, dass die ‚Architekturgeschichte‘ im Kontext der Architekturlehre nur in Ausnahmefällen in Reinform vertre- ten bzw. die Bezeichnung des Fachgebiets ohne Zusatz erfolgt ist. Bezogen auf die Gesamtzahl der Hochschulen genügte es den Fakultäten offenbar nicht sich auf einer Stelle ausschließ- lich mit der Architekturgeschichte auseinanderzusetzen, so dass eine weitergefasste Denomination des Fachgebiets für erforderlich erachtet wurde: von den vier Fällen, die es an den Baufakultäten gibt, sind tatsächlich nur zwei – dem Namen des Fachbereichs, des Lehrstuhls oder der Professur nach – allein auf die Architekturgeschichte fokussiert, in den anderen beiden 387 DIE FORMATIERUNG DER GESCHICHTE → INHALT Fällen ist die ‚Kunstgeschichte‘ mit zu vertreten. Die Regel der Architekturgeschichtslehre findet vielmehr im Rahmen einer Kombination von ‚Geschichte und Theorie‘ statt (Abb. 3), wobei auch hier wiederum einige Punkte ins Auge springen: Erstens gibt es dort, wo eine ‚Geschichte und Theorie der Architektur‘ – kurz GTA – vertreten wird, selten zugleich eine klar gefasste ‚Bauforschung‘ oder ‚Denkmalpflege‘. Dort aber, wo auch eine ‚Baugeschichte‘ vorhanden ist, ist zweitens in vier von fünf Fällen auch die ‚Denkmalpflege‘ mitberücksichtigt und noch mindestens ein weiteres, sonstiges auf die Reflexion von Architektur bezoge- nes Lehrgebiet vertreten. Drittens: Dort wo mit der Konzeption der Lehre nach dem GTA-Modell eine architekturgeschichtsgezo- gene Theorie vertreten wird, dort ist selten Raum für eine eigen- ständige ‚Architekturtheorie‘. Ist die Theorie im GTA-Modell also bereits hinreichend berücksichtigt? Oder vertragen sich in der Regel zwei unterschiedliche Formatierungen von Theorie an einer Fakultät nicht? Betrachten wir die „reine“ ‚Architekturtheorie‘ (siehe Abb. 4), also eine allgemein auf Architektur bezogene Theorie ohne explizit historische Perspektivierung, so ist zu erkennen, dass sie vorwiegend an solchen Fakultäten vertreten ist, an denen eben nicht jenes GTA-Modell vorherrscht, und dass sie sich offenbar besser mit ‚Baugeschichte‘, ‚Denkmalpflege‘ und ‚Kunstgeschichte‘ verträgt. Die – im Vergleich zum GTA-Modell – statistisch bessere Verträglichkeit von ‚Architekturtheorie‘ einerseits, aber auch der ‚Kunstgeschichte‘ andererseits ist auch in der auf die ‚Baugeschichte‘ fokussierten Betrachtung wie- derzufinden (siehe Abb. 5). Zugleich ist hier deutlich eine enge Verbindung von ‚Baugeschichte‘ und ‚Denkmalpflege‘ zu erken- nen, wobei die beiden Lehrgebiete zum Teil in einem einzelnen Fachgebiet zusammengefasst sind. Die Differenzierung der his- torisch perspektivierten Fächer ist mithin stärker. Interpretieren wir diese Befunde richtig, dann haben wir es nicht allein mit einer Pluralisierung seit den letzten 60 Jahren, sondern vor allem auch mit einer ganz stark gegeneinander abgegrenzt formatierten Strukturierung der historisch orientierten Lehre zu tun – vielleicht sogar mit einer Polarisierung? 388 PETER I. SCHNEIDER Abb. 2: Häufigkeit des Fachgebiets `Architekturgeschichte‘ und Vergesellschaftung mit ande- ren Fachgebieten (Stand 2015). Grafik: Autor 389 DIE FORMATIERUNG DER GESCHICHTE → INHALT Abb. 3: Häufigkeit des Fachgebiets `Geschichte und Theorie der Architektur‘ und Vergesell- schaftung mit anderen Fachgebieten (Stand 2015). Grafik: Autor 390 PETER I. SCHNEIDER Abb. 4: Häufigkeit des Fachgebiets `Architekturtheorie‘ und Vergesellschaftung mit anderen Fachgebieten (Stand 2015). Grafik: Autor 391 DIE FORMATIERUNG DER GESCHICHTE → INHALT Abb. 5: Häufigkeit des Fachgebiets `Baugeschichte‘ und Vergesellschaftung mit anderen Fach- gebieten (Stand 2015). Grafik: Autor 392 PETER I. SCHNEIDER Was jedoch bedeutet es, wenn sich eine Fakultät dazu ent- schließt, die historisch orientierte Lehre in der einen oder in der anderen Form auszuschreiben? Was bedeutet es, wenn die – ganz grob – eine Hälfte der Fakultäten eher auf das Format ‚Geschichte und Theorie der Architektur‘ zurückgreift und auf das Format der ‚Baugeschichte‘ in der Strukturierung ihrer Lehre verzichtet – bzw. umgekehrt? Eine Reihe von Fragen ließe sich anschließen: Was versprechen sich die Fakultäten von dem einen oder von dem anderen Format? Wie reflektiert und explizit getroffen ist die Wahl? Welche architekturwissenschaftliche Konzeption und welche Interessen verbergen sich hinter der Wahl? Wer in den Fakultäten hat sie mit welchem Hintergrund reflektiert und seine Reflexion in welchem Rahmen nachvollziehbar geäußert? Ist die Frage nach der Nachvollziehbarkeit der Wahl überhaupt möglich, oder haben wir in dieser Hinsicht eine Blackbox vor uns, die Antworten auf manche wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen vorenthält? Schließlich könnten wir auch fragen: Welchen Unterschied macht am Ende die Wahl des einen oder des anderen Formats? Oder ist letztlich diese Ausdifferenzierung unerheblich, weil es bei der Geschichtslehre im Grunde ohnehin nur um eine ganz allgemeine Sensibilisierung der Studierenden für das Faktum der Geschichtsgebundenheit jeglichen kulturellen Handelns geht? In diesem Fall erscheint das GTA-Modell als das billigere Konzept, da es mit einer geringeren Ausdifferenzierung der Fachgebiete einhergeht. Geschichte und Theorie der Architektur versus Geschichte der Architekturtheorie Gehen wir davon aus, dass die Integration der Architekturtheorie hier eine besondere Rolle spielt – sonst gäbe es ja insgesamt mehr reine ‚Architekturgeschichts‘-Lehrstühle, Fachgebiete oder Professuren –, dann tut sich auch hier eine Reihe von Fragen auf: Wie wird im GTA-Modell die Architekturtheorie integriert? Was ist der theoretische Anspruch der Architekturgeschichte, die unter dem Format ‚Geschichte und Theorie der Architektur‘ vertreten 393 DIE FORMATIERUNG DER GESCHICHTE → INHALT wird, den die Baugeschichte offenbar nicht teilt oder den einzu- lösen der letzteren von den Fakultäten womöglich nicht zugetraut oder nicht zugemutet wird? Im Weiteren führt dies auf die Frage nach dem Theorieverständnis der Architekturgeschichte an den GTA-Einrichtungen: wie verhält sich die Architekturgeschichte dort zur Architekturtheorie? Schließlich wäre anderseits zu hin- terfragen ob der Verzicht auf die Theorie in der Bezeichnung des Baugeschichtsmodells dort grundsätzlich mit Theorieferne gleichzusetzen ist. Über die Entstehung der Architekturtheorie als eigenständiges Fach an den deutschsprachigen Hochschulen existieren bislang noch kaum fundierte Untersuchungen. Offenbar handelt es sich bei dem Wissen über die Genese des Faches, dessen Anfänge erst ein halbes Jahrhundert zurückliegen, noch ausschließlich um Zeitzeugen- und nicht um aufgearbeitetes expliziertes Wissen 6. Als einzelne Momente in der Frühzeit der Herausbildung einer eigenständigen Architekturtheorie als Fach oder Fachgebiet an deutschsprachigen Hochschulen – sozusagen als ‚Schnipsel‘ einer Institutionenfrühgeschichte der Architekturtheorie – können aber die folgenden Ereignisse identifiziert werden: Die Gründung des Instituts für Theorie und Geschichte an der Bauakademie der DDR (1951) und zwölf Jahre später erst diejenige des ersten Lehrstuhls für Architekturtheorie in Westdeutschland (Universität Hannover, 1963, Inhaber Gerhart Laage) mit vornehmlich sozio- logischer und planungstheoretischer Ausrichtung. 7 Der entschei- dende Durchbruch des neuen Fachgebiets erfolgte in den Jahren 1967 und 1968. Im Jahr 1967 versuchte O.M. Ungers an der TU Berlin einen Lehrstuhl für Kunstgeschichte in einen Lehrstuhl 6 Tatsächlich bietet der Beitrag von Ole W. 7 Zu Laage siehe Nachruf Gerhart Laage Fischer (siehe den Beitrag Fischer im gleichen (1925–2012). In: Bauwelt 103 (2012), H. 23, S. 4. Band) einen ersten solchen Ansatz zu einer Ge- schichte der jüngeren Architekturtheorie. Von Interesse sein dürfte in diesem Zusammenhang zum einen die Ausstellung, die in Zürich anläss- lich des 50-jährigen Jubiläum des IGTA als frü- hesten Fall des GTA-Modells vorbereitet wird, zum anderen die Ergebnisse des aktuellen französischen Forschungsprojekts „Mapping of Architectural Criticism“. 394 PETER I. SCHNEIDER für Architekturtheorie und Neuere Baugeschichte umzuwan- deln. 8 Außerdem veranstaltete er an der TU Berlin einen ersten Kongress zur ‚Architekturtheorie‘, 9 bei dem die Vielfältigkeit the- oretischer Ansätze deutlich zu Tage trat. Schließlich erfolgte an der ETH Zürich die Gründung des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (IGTA) unter den Professoren Adolf Max Vogt und Paul Hofer als Gründungsdirektoren. 10 Und gleich im folgenden Jahr, 1969, wurde das Institut für Grundlagen der Modernen Architektur (IGMA) an der Universität Stuttgart unter Jürgen Joedicke begründet, wobei hier nicht von ‚Theorie‘ und ‚Architektur‘ allge- mein, sondern von ‚Grundlagen‘ und ‚moderner‘ Architektur die Rede ist 11. Einen Ansatz für eine historische Erklärung des Phänomens, das das Auftreten der Architekturtheorie als eigenständi- ges Fach bedeutet, bietet der Architekturhistoriker Carsten Ruhl in seinem vor zwei Jahren auf Kunsttexte.de veröffent- lichten Beitrag „Vom Nutzen und Vorteil der Architektur für die Kunstgeschichte“, wenn er schreibt, dass „die Einrichtung von Theorielehrstühlen an den Architekturfakultäten […] zumindest in Teilen als Symptom dieser Entwicklung [und damit meint er die mangelnde Infragestellung des historischen Paradigmas von Seiten der kunsthistorischen Architekturgeschichte – Anm. Verf.] interpretiert werden [kann].“ […] „Der Aufbau der ersten Theorielehrstühle an den Architekturfakultäten“ sei, so Ruhl 8 Jasper Cepl: Oswald Mathias Ungers. Eine 11 Zur Genese des IGMA nichts enthalten intellektuelle Biographie. Köln 2007, S. 226 mit in: Architektur Denken. 40 Jahre kritische Anm. 205. Architekturtheorie. 40 Jahre IGMA zu IGMA (In: Wolkenkuckucksheim 13 (2008/2009), H. 2 (In- 9 Vgl. ebd. S. 226–228; Oswald M. Ungers ternetjournal). URL: http://www.cloud-cuckoo. (Hg.): Architekturtheorie. Berlin 1968. Zu dieser net/journal1996-2013/inhalt/de/heft/2008-2. Konferenz und zur Aporie eines einheitlichen php (26. April 2015)). Zu Joedickes Verständnis Verständnisses von Architekturtheorie bereits von Architekturtheorie siehe Jürgen Joedicke: zu dieser Zeit siehe Hartmut Frank: Kein Aufruf Funktionen der Architekturtheorie. In: Oswald zur Überwindung der Vielfalt. In: Der Architekt M. Ungers (Hg.): Architekturtheorie. Berlin (2004), H. 11/12, S. 31. 1968, S. 163–168. 10 Vgl. Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (Hg.): Reden und Vortrag zur Eröffnung 23.6.1967. Basel 1968. 395 DIE FORMATIERUNG DER GESCHICHTE → INHALT schließlich „von einer kritischen Distanz gegenüber den großen „Erzählkonstruktionen der Moderne“ […] geprägt“ 12. Trotz dieser einleuchtenden Aussage zum Aufkommen der Architekturtheorie an den Hochschulen bleibt der kurze Beitrag von Ruhl jedoch ohne erläuternde Ausführungen oder weiterführende Anmerkungen zur Genese des Fachgebiets, die offenbar als bekannt vorausge- setzt wird. Bislang nicht aufgearbeitet sind etwa die Umstände und die Erwägungen, die zur Gründung des Instituts für Geschichte und Theorie an der ETH Zürich geführt haben. Zumindest dem Namen nach dürfte diese Einrichtung – neben dem ähnlich bezeichneten Institut an der Berliner Bauakademie – das Vorbild für die Benennung gleichlautender Lehrstühle gegeben haben. Und auch in Bezug auf die Rolle der bauhistorischen Reflexion wird die mit der Gründung verbundene Programmatik sicherlich beispielgebend gewesen sein. Doch wie ist diese Programmatik zu charakterisieren? Und durch welches Verständnis ist die inno- vative Aufnahme des eponymen Begriffs ‚Theorie‘ im Falle des Züricher Instituts gerechtfertigt? Anhaltspunkte dafür mögen dem Gründungsvortrag von Adolf Max Vogt entnommen werden: „Sie sehen, ich möchte möglichst weit fassen als Begriff. Beinahe bin ich versucht zu sagen: Theorie ist über- all dort, wo Wasser auf die Dauer Felsen sprengt […], aber was soll Theorie heute? […] Das, was Ramuz gefordert hat, eben: zu sagen, was eigentlich vor sich geht, [das] ist in diesen Dezennien keinem mit so viel Wirkung geglückt wie Sigfried Giedion […] Es wird sich lohnen, die theoretischen Prinzipien aus Giedions Werk herauszukristallisieren und zu untersuchen wie die Architekten auf sein Buch gewirkt, wie umgekehrt sein Buch zurück auf die Architektur gewirkt hat.“ 13 12 Carsten Ruhl: Vom Nutzen und Vorteil der 13 Vogt 1968, S. 15–18; Adolf Max Vogt: Das Architektur für die Kunstgeschichte. Bemer- Institut, seine Aufgabe, seine Verpflichtung. In: kungen zu einem vernachlässigten For- Institut für Geschichte und Theorie der Archi- schungsgebiet. In: kunsttexte.de (2014) 1, S. 2 tektur 1968 (Anm. 10), S. 11–19, hier S. 15–18. (Internetjournal). URL: www.kunsttexte.de (13. September 2016). 396 PETER I. SCHNEIDER Solcherart umschrieben erscheint Theorie hier weder als klas- sische Lehre von der richtigen Baukunst, noch als wissen- schaftliche Reflexion des Entwerfens, noch als ontologischer Versuch über die Architektur, als Reflexion ihrer Grenzen oder als Klärung ihrer wissenschaftssystemischen Stellung, noch als kulturwissenschaftliche Reflexion auf die Architektur an sich, noch als Planungstheorie, noch als Legitimationsinstrument bestimmter Architekturhaltungen, noch per se als Versuch der Gegenwartsdeutung oder als Architekturkritik, sondern vor allem als eine auf Diskursanalyse basierende Architekturgeschichte in Auseinandersetzung mit Giedions Werk. Abgesehen von der speziellen Ausrichtung an Giedion ent- spricht dieser Ansatz dem, was wir heute wohl zunächst als ‚Architekturgeschichte‘ begreifen – einen vorwiegend bild- und textbasieren diskursanalytischen und von konventionellen kunst- historischen Methoden geprägten Ansatz zur Reflexion bauli- chen Handelns. Dieses Theorieverständnis ist wiederum nicht identisch mit denjenigen Theorieverständnissen der ‚reinen‘ Architekturtheorie, auf die seit Ende der 1990er Jahre mehr kra- chende Abgesänge als fundierte Analysen geschrieben wur- den. Ruhl spricht in seinem 2014 erschienen Text von einer Einkapselung der Architekturtheorie, die sich von ihrer kunsthis- torischen Grundlage abgekoppelt habe, und die sich „bei genaue- rem Hinsehen zuweilen als eine Rückzugsbewegung dar[stellte], der jedes kritisches Potential abhandengekommen war.“ 14 Was die inhaltliche Bestimmung des eponymen Begriffs der ‚Theorie‘ betrifft, so können wir schließlich wohl von einem ähnli- chen Verständnis dessen, was Theorie bei Adolf Max Vogt meint, auch an den anderen Architekturfakultäten ausgehen, die auf das GTA-Modell zurückgegriffen haben, indem sie einen gleich- namigen Lehrbereich eingerichtet haben. Nicht geklärt ist jedoch die Frage, ob dies auch für den anderen eponymen Begriff – den der ‚Geschichte‘ zutrifft, der in der Bezeichnung des Züricher Instituts noch an erster Stelle vor der ‚Theorie‘ steht. 14 Ruhl 2014 (Anm. 12), S. 3. 397 DIE FORMATIERUNG DER GESCHICHTE → INHALT Nach den Ausführungen Vogts zum Theorieverständnis war es anlässlich des Gründungsakt die Aufgabe von Paul Hofer das zu erläutern, was bei Gründung des Instituts inhaltlich konkret unter dem Begriff der ‚Geschichte‘ verstanden wurde. Das, was Paul Hofer dazu in seinem Vortrag vorstellte 15, ist schließlich nichts anderes als das, was klassischerweise als Bauforschung zu verstehen und heute vor allem mit der ‚Baugeschichte‘ verbunden ist, nämlich: das Gebaute in seiner Materialität im Rahmen einer Quellenerschließung als Basis der architekturgeschichtlichen Grundlagenforschung zu verstehen. 16 Wenn es schließlich um die Beurteilung des Verhältnisses von Namen und Inhalt geht, so sollte man sich aber – Namen sind Schall und Rauch – über die Bezeichnung des Instituts in Zürich vielleicht nicht allzu viele Gedanken machen. Denn Vogt selbst entschuldigte sich für die „schwerfällige“ Institutsbezeichnung, der man anmerke, „dass sie von mehreren Köpfen erarbeitet worden ist.“ Andererseits aber ist es eben jene Bezeichnung, die – nomen es omen – Anklang bei so vielen Architekturfakultäten gefunden hat. Gemessen an den Inhalten der Programmatik hätte das Institut eigentlich also Institut für Architektur- und Baugeschichte hei- ßen müssen, was offenbar aber – zumindest heute – unmöglich scheint, wenn man Neumann folgt. Er schreibt: „An interesting and perhaps uniquely German phenomenon is a clear methodolo- gical polarization between departments of Architekturgeschichte (architectural history) and Baugeschichte or Bauforschung (buil- ding history or research). The different denominations imply dif- ferent ideological positions, akin to Nikolaus Pevsner‘s famous adage that ‚Lincoln Cathedral is architecture but a bicycle shed is a building‘.“ 17 15 Paul Hofer: Die Haut des Bauwerks. Metho- 17 Neumann 2002 (Anm. 2), S. 374. den zur Altersbestimmung nichtdatierter Ar- chitektur. In: Institut für Geschichte und Theorie der Architektur 1968 (Anm. 10), S. 21–52. 16 Zur Konzeption der Bauforschung siehe Hassler 2010 (Anm. 1), S. 81; Wulf Schirmer: Das Bauwerk als Quelle. In: architectura 24 (1995), H. 1/2, S. 323. 398 PETER I. SCHNEIDER Tatsächlich träte man den beiden Fachgebieten ‚Archi- tekturgeschichte‘ und ‚Baugeschichte‘ nicht zu nahe, wenn man ihnen nicht nur dem Namen und der Tradition nach, son- dern auch – wie Neumann andeutet – dem Inhalt nach unter- schiedliche Ansätze unterstellen würde – auch wenn der Unterschiedlichkeit der Konzeptionen oft kein großes Gewicht beigemessen wird. 18 Nicht ungewöhnlich ist es inzwischen weder für Baugeschichtlicher, sich mit Architektur zu befas- sen, noch für Architekturhistoriker, sich mit Fragen des Bauens auseinanderzusetzen. Ein Spezifikum kann vielleicht allenfalls für die Baugeschichte darin gesehen werden, dass sie an den Hochschulen vorzugsweise von studierten Architekten vertre- ten wird. Ansonsten erscheinen ‚Architekturgeschichte‘ oder ‚Baugeschichte‘ – der Denomination nach – gegenwärtig nicht mehr als distinkte Fachgebiete, sondern als austauschbare Containerbegriffe für das, was an einer Hochschule als histo- rische Perspektive auf das Entwerfen und Bauen sowie auf die gebaute Umwelt verstanden wird. Konsequenzen hat das vor allem für die unterschiedlichen Interessengruppen, die auf dem Markt der Geschichtslehre an den Hochschulen konkurrie- ren, und für die die Verankerung an den Architekturfakultäten von zentraler Bedeutung ist. 19 Allein das Aachener Institut für Baugeschichte sah sich 2006 dazu veranlasst, ein Memorandum 18 So rekurriert z. B. Hartmut Frank 2004 in 19 Auf diesen Sachverhalt hat bereits 1924 seiner Einführung zu einer Tagung, die unter der Bauforscher Armin von Gerkan eindringlich dem Titel Methoden der Baugeschichte die aufmerksam gemacht, als er auf die Proble- Rolle der historischen Reflexion von Architektur matik der Verankerung der archäologischen thematisierte, zwar auf die ‚Baugeschichte‘ Bauforschung in der Wissenschafts- und und verweist auf das Erfordernis unterschiedli- Forschungsstruktur hinwies – vgl. Armin von cher methodischer Zugänge, äußert sich aber Gerkan: Die gegenwärtige Lage der archäo- mit keinem Wort zur Architekturgeschichte, logischen Bauforschung in Deutschland. In: deren mögliche Ansätze Klaus Jan Philipp am Zentralblatt der Bauverwaltung 44 (1924), H. 44, Beispiel der Kanonbildung vorstellt – siehe S. 375–377 – aktualisiert und erweitert um die Hartmut Frank: Kein Aufruf zur Überwindung vor 30 Jahren bzw. vor 15 Jahren bestehenden der Vielfalt. In: Der Architekt (2004), H. 11/12, Perspektiven für die Bauforschung durch Wulf S. 30–31. Klaus Jan Philipp: Architekturge- Schirmer 1985 bzw. Ulrike Wulf-Rheidt 2002: schichte und Kanonbildung. In: Der Architekt Wulf Schirmer: Bauforschung an den Instituten (2004), H. 11/12, S. 36–41. der Baugeschichte der Technischen Hochschu- len. In: Johannes Cramer (Hg.): Bauforschung und Denkmalpflege. Stuttgart 1987, S. 25–29; Ulrike Wulf-Rheidt: Zur Lage der Bauforschung an den Universitäten in Deutschland. URL: 399 DIE FORMATIERUNG DER GESCHICHTE → INHALT zur Bedeutung der Baugeschichte zu veröffentlichen 20. Danach sollte es bei der Wahl der Bezeichnungen von Fachgebieten nicht allein um Schlagworte gehen, sondern um die Anerkenntnis unterschiedlicher Sichtweisen, die sich gegenseitig nicht erset- zen können. Tatsächlich ist es in den letzten 50 Jahren bei der Entscheidung über die Geschichtslehre an den Architekturfakultäten aber eher auf ein ‚Entweder-oder‘ hinausgelaufen als auf ein ‚Sowohl- als-auch‘, also auf ein ‚Entweder Architekturgeschichte oder Baugeschichte‘ und nur selten auf ein ‚Sowohl Architektur- geschichte als auch Baugeschichte‘, so wie es tatsächlich im ursprünglichen Konzept des IGTA auch angelegt war und später auch, mit der Gründung des IDB, des Instituts für Bauforschung und Denkmalpflege, an der ETH Zürich zu einer weiteren Ausdifferenzierung geführt hat. Die von Vogt erwähnten Kopfarbeiten an der Namensfindung haben im Ergebnis zu einer Kopplung des von ihm vertretenen Architekturgeschichtsbegriffs mit der Theorie – und damit zu einer Betonung der Theorie – geführt, den mit Hofers Ansatz verbundenen Baugeschichtsbegriff jedoch nicht berücksich- tigt. Wir wissen jedoch nicht, ob die Bevorzugung der Theorie vor der Baugeschichte in positiver Weise von einem Umarmen der seinerzeit aktuell diskutierten Theorie bestimmt war oder http://www.koldewey-gesellschaft.de/de/ der kunstgeschichtlich basierten Architekturge- bauforschung/ulrike-wulf-rheidt.html (23. Okto- schichte ging. Eine Verunsicherung ist aus den ber 2017). Analog zu sehen sind die Äuße- Berichten über diese Veranstaltung nicht nur rungen von Kunsthistorikern, die sich mit den im Hinblick auf die Bedeutung der gattungsbe- Perspektiven der kunstwissenschaftlich basier- zogenen Ausrichtung kunstwissenschaftlicher ten Architekturgeschichte auseinandersetzen: Interessen vor dem Hintergrund einer zuneh- Innerhalb eines Jahres, zwischen Juli 2013 mend übermächtig erscheinenden bildwissen- und Juni 2014 trafen sich Kunsthistorikerinnen schaftlichen Ausrichtung der Kunstwissen- und -historiker als führende Vertreterinnen und schaften zu erkennen, sondern auch in Bezug Vertreter der Architekturgeschichte, zu einem auf die Wahrnehmung der kunstgeschichtlichen Rundgespräch und zu zwei Roundtables („Die Zugangsweise zur Architektur an den techni- Ubiquität der Architektur. Positionen der Kunst- schen Hochschulen und Universitäten. geschichte“ am 12. Juli 2013 in München; „Was ist Architekturgeschichte? 7 Positionen“ am 7. 20 Institut für Baugeschichte [RWTH Aachen], Februar 2014; „Die Zukunft der Architekturge- Aachener Protokoll zur Baugeschichte vom schichte“ am 27. Juni 2014 in München), 1.11.2006. URL: www.stadt-geschichte.tugraz. in denen es angesichts schwindender Ver- at/home/Aachener_Protokoll.pdf. ankerung im Wissenschaftssystem um eine (15. April 2015). Positionsbestimmung und Perspektivierung 400 PETER I. SCHNEIDER aber in negativer Weise in einer bewussten Abgrenzung von der traditionellen Baugeschichte und der mit ihr verbundenen Bauforschung geschah. Der von Hofer vertretene Ansatz der Bauforschung, nämlich die archäologische Methode zur Erschließung eines Bauwerks als materieller Geschichtsquelle, ist Kernbestandteil der Baugeschichte. Sie hatte sich in der Weimarer Zeit als Format für die historische Betrachtung von Architektur an fast allen Hochschulen im deutschsprachigen Raum herausgebildet, 21 getragen von archäologischen Bauforschern, deren Personal eng mit Institutionen der Klassischen und Vorderasiatischen Archäologie verbunden waren. 22 Als charakteristisch für die Baugeschichtslehre, die erst ab den 1930er Jahren zu entsprechenden Lehrstuhlbezeichnungen führte, können genannt werden: 1.) ein prozessuales Verständnis von Bauen, das aus der Bezugnahme auf das Verb „Bauen“ ersichtlich wird, und in des- sen Logik das Substantiv „Architektur“ oder „Bau“ nur ein End- oder Zwischenprodukt beschreibt, 23 2.) der – für die Archäologie typische – Zugang zu allen kultur- wissenschaftlichen Fragestellungen über die primäre Aus- einandersetzung mit konkreten materiellen Objekten, die gleich- berechtigt neben rein schriftlichen Quellengattungen stehen. Ein tiefergehendes Verständnis dieser Objekte setzt notwendig 21 Zu Veränderungen in den Lehrkonzepti- 23 Hartmut Frank etwa beschreibt die Bauge- onen vgl. die Literaturangaben in Anm. 1, zur schichte „als eine wissenschaftliche Disziplin, Entstehung des Faches Baugeschichte speziell die sich ihrem Gegenstand, dem Gebauten, sei- Hassler 2010 (Anm. 1), S. 99–101. ner Wirkung und Bedeutung, dem Denken und Handeln seiner Entwerfer und Erbauer, dessen 22 Als solche Institutionen sind hier vor allem Auftraggebern und Nutzern [Hervorhebung PS] das Deutsche Archäologische Institut und die nach eigenen Regeln und Methoden nähert, Berliner Museen anzuführen. Zu dem Verhältnis die sich wiederum unübersehbar im Laufe der Professoren, die nach Ende des Ersten der letzten Jahrhunderte in mehrfacher Weise Weltkriegs für den Bereich einer geschichtlich verändert haben.“ – Hartmut Frank: Kein Aufruf orientierten Lehre neu berufen wurden, und zur Überwindung der Vielfalt. In: Der Architekt der Archäologie siehe auch Peter Schneider: (2004), H. 11/12, S. 30. Fritz Krischen (1881–1949). In: Gunnar Brands, Martin Maischberger (Hg.): Lebensbilder. Klassische Archäologen und der National- sozialismus 2. Rahden/Westf. 2016, S. 131–160, hier S. 139 mit Anm. 57. 401 DIE FORMATIERUNG DER GESCHICHTE → INHALT interdisziplinäres Forschen ‚im Feld‘ (Stichwort „Feldforschung“) voraus, eine Herangehensweise, die mit einer eigenen For- schungskultur verbunden ist, 3.) die starke und oft drittmittelintensive Vernetzung mit Institu- tionen der archäologischen Wissenschaften, und schließlich 4.) die Bedeutung der Bauaufnahme 24 als Feldübung für die Vermittlung praktischer methodischer Grundfertigkeiten für die Auseinandersetzung mit bestehenden Bauten. Architekturgeschichte, Baugeschichte, Denkmalpflege und Heritage-Diskurs Bauaufnahme und Bauforschung ermöglichten von Beginn an 25 einen unmittelbaren Anschluss der Baugeschichte zur Denkmalpflege als einem Fachgebiet, das sich im Kern bzw. the- oretisch mit der Frage von Wertzuschreibungen an Architektur befasst und bei dem es – anders als im Entwurf – nicht um die Erschaffung von Räumen geht, sondern bei dem – wie auch in der Baugeschichte – das Verhalten gegenüber dem kon- kret bestehenden Raum im Zentrum der Überlegungen steht. Ein architekturkritisches Potential beinhalten Denkmalpflege und Baugeschichte daher in der beispielgestützten Reflexion baulichen Handelns allgemein, indem sie Muster räumlichen Verhaltens aufzeigen, dabei aber die Individualität jeder einzel- nen konkreten, im Raum materiell niedergeschlagenen Handlung nicht verleugnen. Während die klassische Denkmalpflege in Deutschland 26 die Bewertung von älteren baulichen Objekten nach akademi- schen Kriterien durch Fachleute vornimmt, verschiebt sich die- ser Ansatz im Zuge des Heritage-Diskurses seit den 1990er 24 Zum Begriff der ‚Bauaufnahme‘ siehe Hart- 26 Nicht ausreichend historisch aufbereitet ist wig Schmidt: Bauaufnahme. Die Entwicklung die hochschulbezogene Institutionengeschich- der Methoden im 19. Jahrhundert. In: Erhalten te der Denkmalpflege. historisch bedeutsamer Bauwerke. Jahrbuch 1986. Karlsruhe 1987, S. 2–69. 25 Vgl. Schmidt 1987 (Anm. 24), S. 61–67; Hassler 2010 (Anm. 1), S. 8, 104–106. 402 PETER I. SCHNEIDER Jahren – von einer rein Experten gesteuerten Bewertung nach idealen akademischen Kriterien hin zu einer verstärkten Erforschung der Rolle, die Bauten und Landschaften konkret für die Identitäten einzelner Gemeinschaften zuzumessen ist. 27 Der Begriff ‚Heritage‘ bzw. ‚Erbe‘ betont schließlich nicht das ‚Denkmal‘, das als statisches Monument Gegenstand der bauli- chen Denkmalpflege ist, sondern allgemeiner das Überkommene und dessen Aneignung. Privilegiert ist hier nicht mehr der Erhalt per se, sondern die grundsätzlichen Fragen nach der Haltung gegenüber bestehenden Objekten und mit den damit verbun- denen immateriellen Werten sowie nach dem daraus zu entwi- ckelnden Umgang mit diesen. Für die Lehre und Forschung an Architekturfakultäten, die sich dem Phänomen des Bauens mit einem reflektierenden Interesse auseinandersetzt, bedeutet dies, die Frage nach Aneignungsmustern gleichberechtigt neben die nach der Findung von Entwurfslösungen zu stellen. Die Fragen zum Verhältnis zum gebauten Raum, zu dessen Erschließung, Kenntnis und Bewertung und schließlich zum Umgang mit den Elementen, die diesen konstituieren, berüh- ren letztlich ein gewandeltes Interesse der Gesellschaft an Architektur, das von Seiten der Architekten ein geschultes, kriti- sches Bewusstsein und diskursives Engagement erfordert. 27 Vgl. die Kritik am ‚authorized (heritage) dis- course‘ wie dargestellt bei Marie-Theres Albert, Birgitta Ringbeck: 40 Jahre Welterbe-Konven- tion. Zur Popularisierung eines Schutzkon- zeptes für Kultur- und Naturgüter. Berlin 2015, S. 100–122. 403 DIE FORMATIERUNG DER GESCHICHTE → INHALT 404 VERA KAPS, EKATERINA NAGIBINA UND JOHAN DE WALSCHE VERA KAPS, EKATERINA NAGIBINA UND JOHAN DE WALSCHE Environments of New Schools of Thought In response to on-going global changes and frustration about the inability of established models of architectural education to cope with them, new sites of thinking and mediation have arisen, both within and outside formal education. The research project NeST (New Schools of Thought) investigates such new sites. Based upon four cases in different sectors, this paper explores the inter- dependence between the environments of new schools of thought and their educational models. It identifies freedom, entrepreneur- ial thinking, strategic partnerships and process orientation as common key features, and connects them with the spatial dispo- sitions of the building, the institute, the campus and the network. Introduction Since the late 20th century, architectural education has been reshaped by new policy regulations, digitalisation, and economic, societal and cultural transformation processes. The 21st century brought new changes: the creative sector, boosted by the start-up community, became an essential component of economic growth, employment and international trade in today’s global age, entail- ing a belief and trust in young people. 1 Given its societal and multi- disciplinary nature, architecture is a field in which these global changes are particularly at stake. Increasingly, architectural edu- cation is seen as a provider of human resources in the creative sector, rather than merely as a provider of building designers. 1 Colette Henry, Anne de Bruin: Introduction. Workers Are Young (Really Young). URL: In: Entrepreneurship and the Creative Eco- https://bits.blogs.nytimes.com/2013/07/05/ nomy: Process, Practice and Policy. Chelten- technology-workers-are-young-really-young/ ham 2011, pp. 1–6; Quentin Hardy: Technology (7 August 2017). 405 ENVIRONMENTS OF NEW SCHOOLS OF THOUGHT → INHALT To respond to the ongoing global changes, and operate pro- ductively in this new and transformed society, fundamentally new models of practice are required, which implies the need for adapted models of architectural education. 2 On top of that, among educators and academics there is a general feeling of dissatisfaction with the current model. This feeling is triggered by trends such as an uneven distribution of power between teacher and student, subjection to measurable outcomes pass- ing over the value of the process, a lack of collaborative think- ing, an established client-consultant relationship along with a deficiency of actual collaborations, and an ineffectiveness in pro- moting learning and social change. 3 The research project NeST (New Schools of Thought) has identified tendencies towards the commercialisation and scientification of architectural education, but also a common need to close the gaps between academia and practice, and between architecture and pedagogy, as well as a need to resolve the mismatch between public awareness and financial support. 4, 5 2 Rory Hyde: Introduction. In: Future Transaction on Architectural Education, no. 15. Practice: Conversations from the Edge of Archi- Copenhagen 2003, pp. 120–133; Helena Webs- tecture. New York, London 2012, pp. 16–25. ter: The Architectural Review: A Study of Ritual, Acculturation and Reproduction in Architectural 3 Gert Biesta: Good Education in an Age Education. In: Arts and Humanities in Higher of Measurement: On the Need to Reconnect Education 4 (2005), vol. 3, pp. 265–282; Helena with the Question of Purpose in Education. In: Webster: The Analytics of Power. In: Journal of Educational Assessment, Evaluation and Ac- Architectural Education 60 (2007), vol. 3, countability 21 (2007), vol. 1, pp. 33–46; Beatriz pp. 21–27. Colomina: Towards a Radical Pedagogy. In: The Metropolitan Laboratory Magazine (2016), vol. 4 NeST is a research project conducted in 1, pp. 40–43; Dana Cuff: Architecture: The Story collaboration with the following research part- of Practice. Cambridge, Massachusetts 1991; ners: the Institute for Architecture and Planning Harriet Harriss: Introduction. In: Daisy Froud, at the University of Liechtenstein, the Archi- Harriet Harriss (eds.): Radical Pedagogies: Ar- tectural Association School of Architecture in chitectural Education and the British Tradition. London, the Institute for Art and Architecture of Newcastle upon Tyne 2015, pp. xii–xix; David the Academy of Fine Arts Vienna, the Faculty of Nicol, Simon Pilling: Architectural Education Design Sciences of the University of Antwerp, and the Profession: Preparing for the Future. In: and Umeå University School of Architecture. Changing Architectural Education: Towards a We especially thank Angelika Schnell and Peter New Professionalism. London, New York 2000, Staub, with whom the authors Vera Kaps and pp. 1–26; Henk Ovink: Introduction to Panel 3: Ekaterina Nagibina investigated the cases on Collaboration between Architecture Educa- site. tion and Non-academic Partners. In: Joanna Doherty (ed.): New Directions in Architectural 5 Vera Kaps, Celina Martinez-Cañavate, Education. Berlin 2013, pp. 124–127; Rachel Johan De Walsche, et al.: New Schools of Sara: The Pink Book. In: Ebbe Harder (ed.): Thought – An Investigation on Tendencies in Writings in Architectural Education: EAAE Architectural Education. In: Manuel Couceiro 406 VERA KAPS, EKATERINA NAGIBINA UND JOHAN DE WALSCHE Certain frustration in current models of architectural education has triggered the community of architectural educators to take initiatives and face the challenges for example the International Architectural Education Summit; the founding of an Education Academy under the umbrella of the European Association for Architectural Education (EAAE); some major research, especially by Harriet Harriss in the United Kingdom and Beatriz Colomina in the United States. However, when operating within the bound- ary of formal architectural education, existing frameworks and regulations are often used as an excuse to not change the cur- riculum. 6 This suffocates any possibility for experimental prac- tices to emerge. 7 Although many attempts might be too timid to actually undermine the established model, some initiatives have emerged that are seeking for ways to differentiate themselves from prevailing formal architectural education with regard to con- tent, methods of knowledge creation and transfer, and shifts in organisational structure. These initiatives identify and implement alternative approaches in response to the ever-changing envi- ronments of which they are part. We identify such initiatives as ‘new schools of thought’. Research Interest / Interdependence between environments and an educational model NeST defines such a new school of thought as a set of ideas and opinions on new methods of knowledge creation and on new forms of knowledge transfer, which a group of people dedicated to architectural design and spatial planning share about architec- tural education. Thereby, it is acknowledged that schools are no longer the privileged place for thinking. New sites of knowledge production and reflection have arisen, giving way to new types of schools of thought. Even though there is evidence of their initial da Costa, Filipa Roseta, Joana Pestana Lages, 6 Tatjana Schneider: Shaking up Alberti. In: et al. (eds.): Architectural Research Addressing Joanna Doherty (ed.): New Directions in Archi- Societal Challenges: Proceedings of the EAAE tectural Education. Berlin 2013, pp. 82–85. ARCC 10th International Conference (EAAE ARCC 2016). Leiden 2017, pp. 859–866. 7 Colomina 2016 (note 3). 407 ENVIRONMENTS OF NEW SCHOOLS OF THOUGHT → INHALT emergence in Europe in the 1980s, the concepts that character- ise these new schools of thought have not been fully understood. Besides higher education, NeST has also identified secondary education, research and public mediation as expanded fields of architectural education. 8 In this study, we aim at revealing the mutual interdependence between the educational model of a new school of thought and the environment it operates in, including both the physical envi- ronment (architecture and urban space) and the socio-cultural environment in which the cases operate, as well as the political and economic influences they are exposed to. Research Design The empirical study consists of a multiple-case study that concentrates on the European context. 9 Within this limita- tion, twenty-one initiatives were long-listed based upon three parameters: (1) compliance with the definition of a new school of thought, (2) inception after the European educational reform of the 1980s and (3) prevalence of new approaches for knowledge creation and mediation in and through the field of architecture and spatial planning. Following the analysis of a questionnaire, four initiatives were identified as revelatory cases, each situ- ated in a distinct type of architectural education: higher edu- cation, secondary education, research and public mediation. The research methodology consisted of a preparatory doc- ument analysis followed by an intensive case visit including observations and in-depth interviews according to Emerson, Fretz & Shaw. 10 In order to gain distinct perspectives, we talked not only to the director(s) of the initiative, but also to other actors – more specifically mediators/teachers, and users (children, students, the public). 8 Peter Staub, Vera Kaps, Johan De Walsche: 9 Robert K. Yin: Case Study Research: De- Challenging the Frontiers of Architectural sign and Methods (fifth ed.). Los Angeles 2014. Education: In Search of New Schools of Thought. In: Archithese (2016), vol. 2, pp. 10 Robert M. Emerson, Rachel I. Fretz, Linda 60–71. L. Shaw: Writing Ethnographic Fieldnotes. Chicago 1995. 408 VERA KAPS, EKATERINA NAGIBINA UND JOHAN DE WALSCHE It is not the aim of this study to assess feasibility or effectiveness of the cases – it is too early to do so. In contrast, the analyses of the cases focus on the key concepts of the schools of thought, and how they relate to the environment (physical, socio-cultural, economic and political) and vice versa. The findings of this paper are to be read as a reporting of opportunities and as inspirations for conceiving new models of architectural education, rather than as conclusions. Four Schools of Thought Before elaborating on the interdependence between environment and the educational model, we shortly describe the four cases in order to give the reader a better understanding of the aims, target groups and organisational structures. The art and architecture school bilding in Innsbruck, Austria, was classified as secondary education, yet it also addresses younger children. It is an art space for the exploration of paint- ing, sculpture, architecture and media arts by and for children and adolescents from 4 to 19 years of age. Directed by Monika Abendstein since 2013, bilding combines the former children and youth programmes of the KUNSCHTschule and of aut. architektur und tirol. 11 It is a place with an independent programme that is not embedded in a school curriculum. It focuses on the development of young people through an aesthetic education. Confluence Institute for Innovation and Creative Strategies in Architecture in Lyon, France, is situated in higher education. It is a private school of architecture founded by Odile Decq and Matteo Cainer in 2014. It provides a five-year education, following the European bachelor-master structure plus an advanced mas- ter (as a third cycle). Teaching is structured around five thematic fields: neurosciences, new technologies, social action, visual art 11 To simplify matters, we refer to the makers of a school of thought by the name of the school of thought itself and thus use the third person singular. 409 ENVIRONMENTS OF NEW SCHOOLS OF THOUGHT → INHALT and physics. The themes are approached in a transversal and non-hierarchical manner in order to reinforce the students’ inde- pendent and critical thinking. The InnoChain ETN network is a shared research training envi- ronment for 15 early stage researchers (ESRs), initiated by Mette Ramsgaard-Thomsen and Martin Tamke. It brings six European educational institutions focused on computational design and making together with 14 industry partners, covering fields rang- ing from architecture and engineering to design software devel- opment and fabrication. The network aims at training researchers with a strong industry focus who have the ability to affect current thinking, design, and building the physical environment. Aedes Network Campus Berlin (ANCB) in Germany is situated in the field of public mediation. It is a public urban platform founded by Kristin Feireiss and Hans-Jürgen Commerell in 2009. ANCB uses Berlin as a test site in order to look for ways to confront and learn from urban phenomena. Through a variety of mediation for- mats, the campus initiates exchange among local and international students, policy makers, and experts from industry and design. 12 Findings / Inherent concepts of new schools of thought The analysis of the cases brought about four prominent common characteristics: (1) they embody freedom and independence, which they consciously use to promote autonomy and responsi- bility; (2) they think and act entrepreneurially in order to organise their (educational) projects and creatively use their resources; (3) they use strategic partnerships to teach and communicate in an interdisciplinary and application-oriented way; and (4) they are process-oriented rather than result-oriented, thus promoting cre- ativity and reflectivity. 12 ANCB also operates in the realms of secondary education and, in part, higher education (without awarding degrees or running full-term studios). 410 VERA KAPS, EKATERINA NAGIBINA UND JOHAN DE WALSCHE Embodying freedom and independence Being free implies that one is neither limited nor controlled, but has the possibility to act independently. In architectural edu- cation, limitations can be political regulations, social norms or established structures, as well as financing mechanisms that have not been questioned for a long time. In all four instances, the feeling of liberty is seen as an important impetus for creative activities. Especially in the users’ appropriation of the classroom, a feeling of freedom is crucial for fostering creative processes and legitimising learning processes. As for financial independ- ence, freedom from conforming to allocation models or providing justification to sponsors is seen as indispensable for an unhin- dered (forward) movement of architectural education. Maintaining freedom also implies giving confidence and autonomy as well as sharing responsibility and rights: in decision-making processes, composition of the curriculum, participation in the programme, and the use of physical learning environments. The most striking examples can be found with Confluence and bilding. Confluence puts the burden of its low financial resources in favour of its students’ autonomy. Instead of hiring a workshop manager, the students are responsible for the workshop themselves: they regulate operating times, decide on new equipment purchases and are responsible for the maintenance of their equipment. The students each get a key to the building that enables them to independently determine their working rhythm. This promotes their sense of responsibility for the school’s spaces. Curriculum content and design method are negotiated, making students accountable for their own work and trajectory. For bilding, the promotion of free creative development of young people is inextricably linked with the consciously designed architecture of its new building (conceived in cooperation with architecture students from the University of Innsbruck). In the architecture of the building, both mental and physical barriers are removed. The rooms flow smoothly into one another, with- out doors (figure 1). Children can move freely without having to ask for permission. On the contrary, the spatial design invites 411 ENVIRONMENTS OF NEW SCHOOLS OF THOUGHT → INHALT Fig. 1: The space of bilding is free of physical barriers, photograph, 2016. © Vera Kaps and Ekaterina Nagibina, protected by copyright/urheberrechtlich geschützt Fig. 2: The movements of bilding’s users, diagramme, 2017. © Vera Kaps and Ekaterina Nagibina, protected by copyright/urheberrechtlich geschützt 412 VERA KAPS, EKATERINA NAGIBINA UND JOHAN DE WALSCHE the children to move through the rooms in various ways – ramps invite them to race and tumble, and diagonal walls invite them to draw or lean on the floor, at a table or on a chair; either lying, sit- ting or standing – and thereby also taking different learning posi- tions (figure 2). Additionally, bilding designed a loose workshop programme that is open for change and adaptions according to the kids’ interests. Both spatial and programmatic freedom, as well as the trust shown by the programme leaders, encourages the children to take and implement decisions independently, and to experiment with new approaches. The director explains: “Mein Ziel ist der komplette Freiraum. Die Kinder haben so viel Potenzial! Zu sehen, wie wenig dann schlussendlich übrigbleibt, nachdem die ganze Maschinerie der Erziehung und Ausbildung sich durchgesetzt hat, ist erschreckend. Mein Wunsch ist es einen Ort zu offerieren, in dem Kinder und Jugendliche sein kön- nen, was sie sind. Die Zeit zu geben, um herauszufinden, was einen interessiert, und Wertschätzung zu geben, für was einer kann”. 13 Next to an adherence to the principle of freedom, bilding is an emanation of an extreme belief in children’s capacity for experiential learning - a children-centred approach, whereby the input of the educator is subordinate to learning-by-doing. Thinking entrepreneurially Operating in complex social and economic environments, all of the cases have to think and act strategically in order to organ- ise their projects and keep them running effectively. This calls for either innovatively generating resources (money, space, machines, staff, etc.) or creatively using the resources that they already possess. This strategic behaviour allows us to define 13 “My goal is complete freedom. The children teenagers can be what they are. To give the have so much potential! It is frightening to see time to find out what their interest is, and to give how little is left behind, after all the machinery appreciation for what one can be.” Interview of education and training has come through. Abendstein, 16 October 2016. All translations My desire is to offer a place where children and are by the authors unless stated otherwise. 413 ENVIRONMENTS OF NEW SCHOOLS OF THOUGHT → INHALT the cases as entrepreneurships, as described by Howard H. Stevenson: “a pursuit of opportunity beyond the resources you currently control”. 14 Small administrative and managing bodies characterise all the cases. As Harriet Harriss has pointed out: “40 years ago in the UK — and this is actually similar across the world – 80% of univer- sities’ budgets were spent upon academics themselves – those directly responsible for teaching and research. Now, however, 80% of budgets are spent paying exceptional salaries to man- agement and administration”. 15 For the cases that were studied, the number of employees is limited to the bare necessity: the economic logic of bilding, ANCB and Confluence, is to flexibly attune their programmes with their staffing and vice versa. Being a private school, Confluence is entrepreneurial per se. Financial feasibility is an ever-present challenge, pushing the institute to come up with new ideas for its way of operating. The number of employed staff is related to the amount of paid fees. Thereby Confluence abstains from academic tenure, and mini- mizes permanent employment. It embraces a so-called Open Organisational Model, which is described by Chris Anderson as “the new industrial organizational model […] built around ‘small pieces loosely joined’. Companies are smaller, virtual, and infor- mal. Most participants are not employees. They form and re-form on the fly, driven by ability and need rather than affiliation and obligation.” 16 This kind of open organisation allows both sides to benefit from cooperation. For instance, thanks to the peda- gogic format of intensive workshops lasting one to two weeks, teaching schedules at Confluence can accommodate the invited teaching staff’s other occupations without imposing pressure to change their place of residence due to formal appointment. 14 Howard H. Stevenson: A Perspective on 15 Vera Kaps, Ekaterina Nagibina (eds.): Entrepreneurship. In: Harvard Business School Conversation with Harriet Harriss, Johan De Background Note (1983), 9-384-131. pp. 1-13. Walsche, Peter Staub, Andrea Wiegelmann. URL: https://uni.li/nest (31 August 2017). 16 Chris Anderson: Makers: The New Industri- al Revolution. New York 2013, p. 151. 414 VERA KAPS, EKATERINA NAGIBINA UND JOHAN DE WALSCHE Fig. 3: ANCB’s didactic model, diagramme*, 2017. © Vera Kaps and Ekaterina Nagibina, protected by copyright/urheberrechtlich geschützt. *The diagram represents an exemplary com- bination of projects that does not necessarily correspond to reality But the most important benefit concerns the curriculum. The fluid, ever-changing structure of invited teachers provides a dynamic teaching body, ‘tailored’ each semester for the specific topic. During the workshops, an intensive working atmosphere is created, as well as a strong bond between students and teaching staff, while keeping the relationship on the highest level possi- ble. To which extent this ‘fluid’ approach is restraining the school from developing a proper research base and an own research 415 ENVIRONMENTS OF NEW SCHOOLS OF THOUGHT → INHALT culture, including long-range research initiatives, is not clear yet. Confluence bases their revenue exclusively on student fees, not considering research as a source of financing. In any case, the entrepreneurial organisational model of Confluence coher- ently supports the message of the school: “[…] more than 60% of young people today do not want to work for somebody: they want to establish their own company. […] This means we have to give students proper architectural skills but also the will and the means to do something else”. 17 ANCB chose a different but equally entrepreneurial path in order to find financial support and raise public interest. It structures its projects within an open time frame, which allows everyone involved to react dynamically to external influences. This prag- matic approach gives the organisers freedom and flexibility in the choice and composition of their themes and formats, such as exhibitions, university design studios and public debates as well as collaborative research projects. Instead of ‘deductively’ set- ting up a closed framework for approaching a topic with a fixed crew of people and a set methodology, ANCB defines a variety of topics of interest and approaches these ‘inductively’, directed by the features as they emerge during the process. ANCB includes people who can contribute and designs a variety of formats that potentially tackle more than only one topic, fully allowing for emergence of what will occur. Doing so, ANCB has created a unique didactic model (figure 3) that at the same time becomes its modus operandi. Using strategic partnerships The role of the architect in the design process is shifting, partly because of the increasing number of new stakeholders. The field of architecture, which once belonged solely to the architect, is now shared with other professionals in a multidisciplinary setting. All four cases collaborate outside their own institutions, establish- ing strategic partnerships in order to tackle architecture’s current 17 Interview Decq, 14 December 2016. 416 VERA KAPS, EKATERINA NAGIBINA UND JOHAN DE WALSCHE issues from distinct perspectives. By strategic partnerships, we understand connections that aim at the particular mission of the school of thought, rather than following generic pre-specified learning outcomes. These initiatives cooperate with different pro- fessionals, non-hierarchically, equally depending on one another. InnoChain based its educational model on such a partnership, in which architects at different career stages (namely ESRs, aca- demics and practitioners) and representatives of different indus- trial fields work together on equal terms (figure 4). The very aim of the network is to challenge the way different stakeholders in the design process currently communicate and work together. As one of the founders of InnoChain states: “This is a new form of collaboration in our community – combining speculative [theory] and applied [practice] approaches and we hope that it could be a really interesting platform for forward thinking and new ideas”. 18 Hence InnoChain’s educational model invites partners from both practice and industry to participate in research. By sharing the different partners’ knowledge as well as the struggles that they experience, InnoChain develops research that is highly rele- vant for current and future practices. Although the main focus for InnoChain lies in the field of computation, the model of such cooperation could be used for other multidisciplinary projects, and for institutions whose aim is to bring different disciplines, sectors and stakeholders together. Confluence, for its part, is striving to become an open place for collaboratively developing design strategies for the Lyon region. The school is about to launch a co-working space for different start-ups and individual entrepreneurs, and to open its ‘creative maker space’ as a ‘fab lab’ for public use. At the moment it is dif- ficult to predict how such actions will influence the educational model, but when sharing the very same space, the educational benefit of students’ exposure to the needs and struggles of entre- preneurs and the public is in any case very promising. The intro- duction of ‘others’ into the architectural industry is fundamentally important in order to avoid the self-referential loop of architects 18 Interview Tamke, 7 March 2017. 417 ENVIRONMENTS OF NEW SCHOOLS OF THOUGHT → INHALT Fig. 4: InnoChain’s network of partners, diagramme, 2017. © Vera Kaps and Ekaterina Nagibi- na, protected by copyright/urheberrechtlich geschützt being criticised by architects. 19 There is also a clear intention to collaborate with the public by inviting them to participate in design processes. “For me, it is important that people can understand 19 Sara 2003 (note 3). 418 VERA KAPS, EKATERINA NAGIBINA UND JOHAN DE WALSCHE Fig. 5: Physical and visual connections between spaces at Confluence, diagramme, 2017. © Vera Kaps and Ekaterina Nagibina, protected by copyright/urheberrechtlich geschützt what architecture is, or at least they understand that the school is a creative place. They can make something themselves with us, or we can give them something”, explains the director. 20 The physical space of Confluence itself encourages both planned and spontaneous collaborations to emerge. Different spaces for pub- lic engagement, for the studio, and for co-working are carefully articulated to still have visual and physical connections between themselves, allowing the city, students and professionals to be in constant dialogue (figure 5). Orienting to processes instead of outcomes In all four cases, we observed a strong focus on processes instead of outcomes. The director of bilding writes: “Schulen sind sehr häufig Ergebnis orientiert [sic!], selten Prozess orienti- ert [sic!], was den Umgang mit kreativen Themen und Methoden schwierig gestalten lässt.” 21 Hence, bilding fosters free, crea- tive and reflective development away from the pressures of suc- cess and competition, for instance by not awarding degrees. 20 Interview Decq (note 17). 21 “Schools are often result-oriented, rarely process-oriented, which makes it difficult to deal with creative topics and methods.”; survey 2016. 419 ENVIRONMENTS OF NEW SCHOOLS OF THOUGHT → INHALT Additionally, bilding’s ‘professional creatives’ – as their teach- ers are called – stimulate mutual learning processes by working together with the youth on a project instead of only teaching with words. 22 Furthermore, bilding encourages young people to look at workshops that run in different disciplines simultaneously – thus the children learn how different disciplines approach sub- jects in different ways. One of the two directors of ANCB emphasises that the most inter- esting findings do not arise from finished designs, but from the design process itself. ANCB aims at working interdisciplinarily and at mixing hierarchy levels in order to depart from conven- tional ways of addressing societal problems. An atmosphere is created that is not competitive, and instead allows errors and fail- ure. Failure makes it possible to reflect on one’s work and draw instructive conclusions. This openness encourages architects, urban designers and planners at all career stages to focus on the design process and, furthermore, to understand the built envi- ronment itself as a process instead of a product. For InnoChain, in contrast to prevailing academic research practice, completion of a PhD candidate’s dissertation (as an outcome) is not a goal of its own, but subordinate to a con- cern for teaching process-oriented action. One of the founders of InnoChain explains: “We intend to grow a new generation of researchers who will be able to act across disciplines, and who will connect academia and practice”. 23 InnoChain provides young researchers with an interdisciplinary group of senior researchers and actors from industry and practice. “We like to think of our- selves as a non-hierarchical network of students and partners – researchers at different stages of their career, working together”, he continues. The focus of the work is thus on the finding pro- cess, the experiment, freed from the requirement to produce a presentable result. Because the outcomes are not yet clearly established at the beginning of the research, this approach 22 Deliberately, bilding calls its teachers ‘pro- 23 Interview Tamke (note 18). fessional creatives / Berufskreative’ in order to set the focus on mutual instead of hierarchical learning processes. 420 VERA KAPS, EKATERINA NAGIBINA UND JOHAN DE WALSCHE presupposes a basic trust in one’s own work and the value of the process. It enables spontaneity and is open for unpredictable development, which is the first step to innovation. The changing design project is in itself the unit of investigation: “in InnoChain the understanding of the design process is conceptually trans- formed from something linear into a cyclical process, which repeatedly touches areas of communication, simulation and materialisation”. 24 Correspondingly, the project partners do not publish their results at the end of the research programme, but steadily communicate their process steps online on the ESR’s blogs, social media channels, or the InnoChain website as well as offline through research exhibitions. Conclusion / New schools of thought and their spatial disposition The analyses of the cases uncovered four features of new schools of thought – freedom, entrepreneurial thinking, strategic partnerships, and process orientation – and how they correspond to their inherent concepts and educational models. From the per- spective of architects, we have a particular interest in the relation between the educational model and the physical constellation of these schools. In this concluding section we argue that such relation exists, and that it can be conceptualised in a set of four spatial dispositions: the building, the institute, the campus and the network. A building – Embodying a mindset: Following Josef Albers’ approach “Learning is better than teaching because it is more intensive; the more we teach, the less students can learn” [emphasis in original], bilding engages its students in experi- menting and in learning by doing. 25 The architecture reflects and 24 Ibid. 25 Joseph Albers: Werklicher Formunterricht (Teaching Form through Practice). 1928. URL: http://www.albersfoundation.org/teaching/jo- sef-albers/texts/ (7 August 2017). 421 ENVIRONMENTS OF NEW SCHOOLS OF THOUGHT → INHALT Fig. 6: The studio space at Confluence is designed anew by the students every semester, photograph, 2016. © Vera Kaps and Ekaterina Nagibina, protected by copyright/urheberrechtlich geschützt supports that approach. One of the design students explains that the building itself tells the institution’s intention to the children and young adults: “von der Kraft des Kollektivs, der Lust zum Experiment und Risiko, der Wertschätzung des freien Denkens, der Flexibilität Umwege und Rückschläge zu verdauen, dem Potenzial der Selbstorganisation, dem Erkennen der eigenen Fähigkeiten, dem Vertrauen in eine starke Idee. Dieser Kraftakt vieler hat eine enorme Energie erzeugt, die spürbar durch dieses Gebäude fließt.” 26 The name bilding associates the German con- cept of ‘Bildung’ (edification) with the English term ‘building’, thus connecting the school’s educational thinking with the archi- tectural body of a building. 27 26 “About the power of the collective, the 27 The term ‘Bildung’ is difficult to translate. In desire to experiment and risk, the appreciation studies of educational philosophy one can find of free thinking, the flexibility of detours and the translations ‘edification’, ‘self-formation’ setbacks, the potential of self-organisation, and ‘self-cultivation’. the recognition of one’s own abilities, the confidence in a strong idea. This feat of many has generated a tremendous amount of energy flowing through this building.” 422 VERA KAPS, EKATERINA NAGIBINA UND JOHAN DE WALSCHE An institute – Educating for autonomy: Confluence fosters its students’ autonomy as a primary objective by giving them responsibility for their curriculum and the school’s space. The open studio space invites them to design their working envi- ronment anew each semester, and thus to test and experiment (figure 6). The spatial proximity with start-ups creates an entre- preneurial spirit, which encourages the students to imagine not only school, but also practice alternatives. Their name, Institute for Innovation and Creative Strategies in Architecture, under- lines this entrepreneurial thinking as the core of their educa- tional model: to constantly question society, to strive for visions and the currently impossible, and to think differently. Odile Decq explains: “Confluence is not only the name of the site of the school in Lyon but it is the core concept on which the school’s pedagogy and teaching is founded upon. Architecture must no longer be reduced to a professional or specialized education: it is a discipline that opens to the world, to a way of seeing the world and a capacity to act in the world.” 28 The place of educa- tion therefore is not just a building, but a building with an insti- tutionalised mission: an ‘institute’. A campus – Cultivating public discourse: ANCB engenders free speech and alternative thinking processes that are open for col- laboration and political engagement, evoked by a very public and exposed ambience that simultaneously exudes a non-competi- tive and informal atmosphere. Consequently, it encourages archi- tects, urban designers and planners to become cultural commu- nicators, since architecture “is a discipline that intrinsically has the capability to synthesize the information from multiple fronts”, explains Martha Thorne. 29 She recommends that architecture “should take advantage of this potential to enrich its studies and seek to integrate more layers and complexities in the existing educational structure”. In that sense, ANCB approaches urban 28 Survey 2016. 29 Martha Thorne: Introduction to Panel 2: Interdisciplinary Strategies in Architectural Education. In: Joanna Doherty (ed.): New Directions in Architectural Education. Berlin 2013, pp. 96–99. 423 ENVIRONMENTS OF NEW SCHOOLS OF THOUGHT → INHALT phenomena that can be found at many other places, using Berlin as its test site, and creating an open framework that links interna- tional and interdisciplinary partners through a variety of formats. In keeping with its name – Aedes Network Campus Berlin – the spatial composition of Pfefferberg, home location of ANCB, very much supports the idea of a campus, in its original Latin meaning of a ‘field’ for the community, for cultural and verbal exchange. A network – Interweaving academic and practical research: InnoChain teaches early stage researchers to experiment and communicate beyond the borders of disciplines, countries and cul- tures. Programmatically, it forms a network that interconnects aca- demia and practice with the help of new communication technolo- gies rather than through physical proximity. Even by naming itself a ‘network’, InnoChain underlines that mission. In times of digitalisa- tion, an educational space must no longer be confined to physical walls but may expand into digital space, where a set of rules for the regulation of pedagogical interactions and communications forms an alternative learning environment. As Chris Anderson explains, “we minimize transaction costs with technology, not proximity. A social network is our common roof. Skype is the ‘next cubicle’.” 30 Education has freed itself from physical space, to take place in the interconnected space of the Internet – the network as intangible disposition for gathering and teaching. NeST investigated initiatives, programmes and schools that emerged after the 1980s. It is obvious that it is easier to adapt to a changing environment by creating from scratch, since “you need a system to undermine an existing system.” 31 Hence, future research should investigate how existing systems, namely tradi- tional formal academic institutions, are actually reacting to their changing environments, and to which extent their actual spatial constellation is supportive – or not – for turning today’s chal- lenges into opportunities. 30 Anderson 2016 (note 16), p. 149. 424 CAROLA EBERT CAROLA EBERT Inseln der Selbstreflexion Drei Debatten zur Architekturlehre im 21. Jahrhundert Dieser Beitrag betrachtet aktuelle Debatten zur Architekturlehre. Er analysiert drei unterschiedliche deutschsprachige Veran- staltungen der Jahre 2016/17: ein Symposium im Kontext der hochschulischen Lehre, eine wissenschaftliche Konferenz und eine von einer berufsständischen Organisation veranstaltete Tagung. Anhand dieser Beispiele wird reflektiert, wie verschie- dene Institutionen Debatten zur Architekturlehre im 21.  Jahr- hundert führen. Welche Themen werden in welcher Form und von welchen Akteuren diskutiert? Es zeigt sich, dass solche Debatten oft weitgehend isoliert voneinander in einer relativ homogenen Binnenöffentlichkeit im Modus der innerdisziplinären Selbstreflexion stattfinden. Zwischen März 2016 und April 2017 fanden drei deutschsprachi- ge Veranstaltungen zur Architekturlehre statt – das „Symposium für Architekturpädagogiken“ der Hochschule Luzern, das Forum Architekturwissenschaft „Vom Baumeister zum Master. Formen der Architekturlehre vom 19. bis ins 21.  Jahrhundert“ und der „BDA-Hochschultag der Architektur 2017“. Im Folgenden werden diese drei Veranstaltungen hinsichtlich ihrer Formate, der Inhalte und der beteiligten Akteure analysiert. Ziel ist es, anhand der Gegenüberstellung einer berufsständischen, einer wissenschaft- lichen und einer aus der Lehre heraus konzipierten Veranstaltung zeitgenössische Debatten zur Architekturlehre zu beleuchten. Wie sind die Veranstaltungen konzipiert? Welche Themen werden in welcher Form und von welchen Akteuren diskutiert – wie werden 425 INSELN DER SELBSTREFLEXION → INHALT beispielsweise Veränderungen von Berufsbild, Lehrinhalten und Hochschulpolitik thematisiert? Wie verhalten sich die Diskurse zueinander; wo gibt es Ähnlichkeiten, Überschneidungen oder Anknüpfungspunkte? Dazu wurden die drei Veranstaltungen hinsichtlich ihrer Organisation, der Teilnehmenden und der Inhalte ein- zeln und im Vergleich analysiert. Das „Symposium für Architekturpädagogiken“ ist durch eine umfangreiche Publikation hervorragend dokumentiert. 1 Das Forum Architekturwissenschaft „Vom Baumeister zum Master“ ist Gegenstand des vorliegenden Bandes. Es liegen zusätzlich einige Print- und Webdokumente vor, und darüber hinaus ist die Autorin als Mitveranstalterin mit den Hintergründen vertraut. 2 Für den „BDA-Hochschultag 2017“ konnten verschiedene Online-Ressourcen, von den Veranstaltern zur Verfügung gestellte Informationen sowie die eigene Anschauung ausgewertet werden. 3 Architekturpädagogiken Das „Symposium für Architekturpädagogiken – 5 x 2 Gespräche“ fand am 4. März 2016 an der Hochschule Luzern (HSLU) in der Schweiz statt. Es wurde veranstaltet vom Institut für Architektur der Hochschule Luzern – Technik & Architektur und organi- siert von Heike Biechteler und Johannes Käferstein. Eingeladen 1 Heike Biechteler, Johannes Käferstein, 3 Bund Deutscher Architekten BDA: Pro- Hochschule Luzern (Hg.): Architekturpädagogi- gramm des Hochschultags der Architektur 2017. ken. 5 x 2 Gespräche. Zürich 2017. URL: https://bda-bund.de/hochschultag-2017/ (15. März 2018); Anmeldeliste des BDA-Hoch- 2 Vgl. z. B. Eva Maria Froschauer: Vom schultags; Benedikt Hotze: „Sie sind alle Archi- Baumeister zum Master. Formen der Archi- tekten“: Rückblick auf den BDA-Hochschultag tekturlehre waren Gegenstand des dritten Ar- 2017. Online-Artikel vom 13. März 2017. URL: chitekturforums vom 25. bis 27. November. In: https://bda-bund.de/2017/03/sie-sind-alle-ar- BTU News 48 (2017), S. 27; Netzwerk Architek- chitekten-rueckblick-auf-den-bda-hochschul- turwissenschaft: Programm des dritten Forums tag-2017/ (15. März 2018); Bund Deutscher Ar- Architekturwissenschaft ‚Vom Baumeister zum chitekten BDA: Typus, Topos, Tektonik und ...? Master. Formen der Architekturlehre vom Inhalt und Methodik der Grundlagenlehre. 19. bis ins 21. Jahrhundert‘ 2016. URL: http:// Thesen des 3. BDA-Hochschultages der Archi- www.architekturwissenschaft.net/pdfs/Pro- tektur. URL: https://bda-bund.de/wp-content/ gramm_Forum_Architekturwissenschaft_2016. uploads/2017/11/BDA-Kernthesen_Ausbil- pdf (15. März 2018). dung_2017.pdf (15. März 2018); Olaf Bahner: AW: Details BDA-Hochschultag der Architektur 2017. E-Mail an die Autorin vom 17. Juli 2017. 426 CAROLA EBERT waren „Vertreterinnen und Vertreter aller Hochschulen der Schweiz, ausgewählter Universitäten europäischer Nach- barländer sowie Journalistinnen und Journalisten der schweizerischen Fachpresse und natürlich Studentinnen und Studenten“. 4 Das Symposium befasste sich mit zwei Leit- fragen: Der Vormittag diente, ausgehend von der Frage, was Studierende heute im Architekturstudium lernen, einer „Bestandsaufnahme“ im Vergleich der einzelnen Hochschulen. 5 Am Nachmittag stand die Frage nach den Ausbildungszielen, der „Vision“, im Vordergrund: „Was sollen Studierende nach dem Architekturstudium können?“ 6 Die Vortragenden waren ebenso wie die Moderatorinnen und Moderatoren von der Hochschule direkt ausgewählt und eingeladen worden. Die eintägige Veranstaltung besuchten etwa 150 Personen, je zur Hälfte Lehrende und Studierende. Das Hochschulsymposium setzte sich aus verschiedenen Formaten zusammen, deren verschiedene räumliche Kon- figurationen unterschiedliche Gesprächsarten ermöglichen soll- ten (Abb. 1). Zu Beginn der beiden Themenblöcke ‚Bestands- aufnahme‘ und ‚Vision‘ gab es jeweils drei Impulsreferate – am Vormittag von Christian Zimmermann (Professor für Entwurfs- und Konstruktionsmethodik, HSLU), Marc Angélil (Entwurfsprofessor, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, ETH) und Tony Fretton (emeritierter Professor, Technische Universiteit Delft); am Nachmittag von Harry Gugger (Entwurfsprofessor, École Politéchnique Fédérale de Lausanne, EPFL), Urs Primas (Dozent, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Winterthur) und Jonathan Sergison (Entwurfsprofessor, Università della Svizzera italiana Mendrisio). An die Impulsreferate schlossen sich Tischgespräche an mit je acht bis zehn Teilnehmern und zwei Moderatorinnen, die an fünf verschiedenen, durch die Farben Pink, Orange, Gelb, Grün und Blau gekennzeichneten Tischen stattfanden. 4 Johannes Käferstein: Vorwort. In: Biech- 5 Biechteler, Käferstein, Hochschule Luzern teler, Käferstein, Hochschule Luzern (Anm. 1), (Anm. 1), S. 5. S. 11f., hier S. 11. 6 Ebd., S. 7. 427 INSELN DER SELBSTREFLEXION → INHALT Abb. 1: Diskursformate auf dem „Symposium für Architekturpädagogiken“ der Hochschule Luzern. Heike Biechteler, Johannes Käferstein, Hochschule Luzern (Hg.): Architekturpädagogiken. 5 x 2 Gespräche. Zürich 2017, S. 13f. © Hochschule Luzern – Technik & Architektur, Institut für Architektur und Park Books AG, Zürich Der Blick aus der (Entwurfs-)Lehre auf die Architekturlehre und ein Schwerpunkt auf der Architekturpraxis ließ sich auch an den Akteuren ablesen. Von den 54 Vortragenden waren 48 in der Praxis tätig, dies entspricht 89 Prozent. Die Kurzbiografien nen- nen jeweils die akademische Position und die Bürotätigkeit, was die sehr häufig anzutreffende Verbindung von Architekturlehre und Berufspraxis in der Vita der Teilnehmenden unterstreicht. 7 Die sechs Impulsreferate wurden von einem promovierten und vier nicht promovierten Professoren sowie einem Dozenten gehalten. Unter den insgesamt 54 Vortragenden und Diskutanten befanden sich sechs promovierte und 25 nicht promovierte Professorinnen und Professoren, drei Doktoren und 20 nicht promovierte 7 Ebd., S. 445–451. 428 CAROLA EBERT Dozentinnen und Dozenten. 8 Der Anteil an Promovierten beträgt somit für die Impulsreferate und für alle Vortragenden jeweils 17 Prozent. Inhaltlich präsentierten die Impulsreferate sechs verschiedene Lehrpositionen auf sehr individuelle Art. Christian Zimmermann beschrieb beispielsweise die Position der HSLU als gene- ralistisches Gestalten von Lebensraum für Menschen und Gesellschaft in Zeiten von Architektur als Renditeobjekt, 9 während Marc Angélil die Besonderheit des von ihm konzipierten ersten Studienjahrs an der ETH darlegte. Mit dem Ziel „to foster desire“ kombiniere beispielsweise eine Aufgabenstellung die Vorgabe ‚Raum‘ mit der physischen Erfahrung eines Tangotanzes und der Lektüre von Rowe und Slutzkys architekturtheoretischer Schrift Transparenz. 10 Harry Gugger referierte zum Laboratoire Bâle der EPFL, das sich auf Infrastruktur, Stadt- und Territorialplanung spezialisiert hat. 11 Tony Fretton und Jonathan Sergison wiederum verglichen ihre angelsächsischen Lehr- und Lernerfahrungen mit der Architekturlehre und -praxis in den Niederlanden und der Schweiz. 12 Die ausführlichen Diskussionen an zwei mal fünf Tischen sind in der Publikation hervorragend dokumentiert. Einige Themen werden wiederholt aufgegriffen, beispielsweise Zimmermanns These, Architektur sei so populär wie nie, aber gleichzeitig hät- ten Architekten und Architektinnen so wenig Einfluss auf die gebaute Umwelt wie niemals zuvor – oder sein Credo, Ziel der Architekturlehre an der HSLU sei es nicht, allein für den Markt funktionierende Mitarbeiter ausbilden. 13 Der Wunsch, die Studierenden zu „denkenden Menschen“ und gesellschaftlich wirksamen Akteuren auszubilden, die kein „belangloses Zeug“ 8 Auffällig ist der niedrige Anteil von Dozen- 11 Biechteler, Käferstein, Hochschule Luzern tinnen oder Professorinnen: Die Impulsreferate (Anm. 1), Impulsreferat Vision Harry Gugger, wurden alle von Männern gehalten. Nur 20 S. 205–209. Prozent der Diskutanten waren Frauen. 12 Ebd., Impulsreferat Bestandsaufnahme 9 Ebd., Impulsreferat Bestandsaufnahme Tony Fretton, S. 37–39; ebd., Impulsreferat Christian Zimmermann, S. 25–30. Vision Jonathan Sergison, S. 217–222. 10 Ebd., Impulsreferat Bestandsaufnahme 13 Vgl. ebd., Christian Zimmermann, S. 25; Marc Angélil, S. 31–35, hier S. 32; vgl. Colin ebd., Men Duri Arquint, S. 192; ebd., Marc Rowe, Fred Koetter: Transparenz. Zürich 1968. Loeliger, S. 27. 429 INSELN DER SELBSTREFLEXION → INHALT errichten, sondern deren Projekte „die Welt verbessern“, wird an vielen Stellen überdeutlich. 14 Darüber hinaus wird wiederholt auf die besondere Situation verwiesen, dass die Schweiz mit dem auf alle Leistungsphasen ausgebildeten Generalisten traditionell eine große Nähe zum Bauen und zur Detaillierung aufweist. 15 (Dies gilt vom Leistungsbild her auch für Deutschland, doch die Schweizer Architektur zeichnet eine besonders qualitätsvolle Baupraxis aus. Länder wie Großbritannien oder Spanien haben jedoch ein deutlich anderes Berufsbild, in dem Ausschreibung, Detaillierung und Vergabe nicht zu den Architektenleistungen gehören, – und dadurch auch andere Curricula und Lehransätze.) Einerseits gab es Stimmen, für die das Architekturstudium eine Qualifikation für alle möglichen Betätigungen vom „Koch“ bis zum „Nationalrat“ darstellen kann. 16 Andere sehen „das histo- risch gewachsene Instrumentarium“ und „die politische Devise zur Berufsbefähigung“ im Vordergrund. 17 Dieses Spannungsfeld zwischen Architekturlehre und -praxis bringt ein Wortbeitrag von Francesco Buzzi auf den Punkt: „Das Architekturstudium […] ist das schönste Studium, das es überhaupt gibt. […] Gibt es irgendwo ein breiter gefächertes Studium oder Metier als Architektur? Nein. Die meisten anderen Studien sind sehr viel spezialisierter. […] Darin liegen natürlich auch seine Schwäche und ein mögliches Potenzial für Enttäuschung beim Eintritt in die Arbeitswelt.“ 18 Das sich wandelnde Berufsbild war ein ebenso wichtiges Thema dieser Luzerner Tagung. 19 Es wurde vor dem Hintergrund der aktuell sehr guten Nachfrage nach Absolventen und Architek- tinnen jedoch eher im Spannungsfeld zwischen Markt und Ideal diskutiert. Das grundlegende Paradox der Architekturlehre, die einerseits eine Gegenwelt zur Architekturpraxis sein soll, in der 14 Vgl. ebd., Mathias Heinz, S. 272; ebd., Lan- 17 Ebd., Marc Angélil, S. 367; ebd., Stephan do Rossmaier, S. 302; ebd., Martin Tschanz, Mäder, S. 366. S. 258. 18 Ebd., Francesco Buzzi, S. 170. 15 Vgl. ebd., Simon Hartmann, S. 132; ebd., Urs Primas, S. 293; ebd., Jeannette Kuo, 19 Ebd. S. 397f. S. 296; ebd., Jörg Stollmann, S. 300f. 16 Ebd., Marc Angélil, S. 364; ebd., Oliver Hagen, S. 343; vgl. auch ebd., Marc Angélil, S. 367. 430 CAROLA EBERT experimentiert, geforscht und theoretisiert werden kann, und die gleichzeitig als höchst effiziente Lernumgebung auf diese Praxis vorbereiten will, wurde mehrfach deutlich. Die Doppelperspektive der meisten Diskutanten als Professoren und Büroinhaberinnen wurde in all ihrer Widersprüchlichkeit zwischen den eher auf Entwurf, Freiraum und Experiment abzielenden Lehrinteressen und dem häufigen Wunsch nach gut ausgebildeten, also detail- festen, im Bauen versierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern überdeutlich. 20 Es gab insgesamt nur wenige Aussagen, die sich aus der Perspektive der Studierenden und Absolventinnen auf die Lehre an den beteiligten Hochschulen bezogen. Es blieb unklar, was Studierende oder Absolventinnen der Schweizer Hochschulen an ihrer Ausbildung schätzen oder kritisieren. Eine Diskussion erwähnte jedoch interessante Fakten: Während an der HSLU 90 Prozent der Absolventinnen und Absolventen im klassischen Architekturbüro arbeiten, ergreifen an der ETH Zürich nur 50 Prozent tatsächlich den Architektenberuf – wobei hier nur 40 Prozent das Studium überhaupt abschließen. 21 80 Prozent der Studienanfänger an der ETH werden also nicht direkt in der architektonischen Berufspraxis tätig. Viele Diskussionen kreisten um Themen, die Architekturlehrende im Allgemeinen beschäftigen: Umgang mit dem hochschulpoli- tischen Druck auf Architekturfakultäten, die Profilbildung einzelner Hochschulen, Fragen des Curriculums oder der Abschlussarbei- ten – und insbesondere die Frage nach dem Selbstverständnis der Architektinnen und Architekten in der Baupraxis und der Gesellschaft. Auf historische Beispiele der Architekturlehre oder auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse wurde kaum Bezug genommen. Diskussionen und Vorträge speisten sich aus eigener Erkenntnis. Obwohl die Studierenden im Fokus beider Leitfragen standen, dominierte die Sichtweise der Lehrenden. Abgesehen von einigen wenigen Wortmeldungen von Studierenden wurde deren Perspektive in der Diskussion nicht vertreten. 20 Vgl. ebd., Mathias Heinz, S. 267f; ebd., Urs 21 Ebd., Johannes Käferstein, S. 368; ebd., Primas, S. 293; ebd., Kasia Jackowska, S. 361. Marc Angélil, S. 363. 431 INSELN DER SELBSTREFLEXION → INHALT Zwei im Alltag der Architekturlehre kontroverse Themen wurden jedoch diskutiert: die wünschenswerten kommunikativen Kompetenzen der Studierenden und die häufig nicht weiter re- flektierten und durchaus verbesserungswürdigen didaktischen Fähigkeiten der Lehrenden. Dass Studierende ihre Arbeit gut erklären können und strategisch vermitteln lernen müssten, um als „Moderator[en] kollektiver Prozesse“ im komplexen, inter- disziplinären Berufsfeld tätig zu sein, galt als wichtiges Ziel und wurde zugleich in der Bestandsaufnahme häufig als Manko beschrieben. 22 Die Tatsache, dass Architekten in der Regel „keine professionellen Lehrenden“ 23 sind, wird durch aktuelle hochschul- politische Entwicklungen verändert: An der HSLU ist beispiels- weise eine einjährige hochschuldidaktische Weiterbildung mit zwei Tagen im Monat obligatorisch. Diese „Lehrkonzepte“ re- flektierte Peter Althaus positiv als Gegenpol zum „personenfixi- erte[n] Unterricht“: „Der eine Pol ist meine eigene Erfahrung […] und der andere ist die Didaktik. […] Das war zuerst diametral, also man wehrt sich gegen diese didaktischen Konzepte, weil man an die Intuition glaubt, aber ich muss sagen, diese zwei Pole finde ich nach wie vor sehr produktiv.“ 24 Stefan Kurath wie- derum problematisierte die Weitergabe eigener Rollenbilder in der traditionell personenzentrierten Architekturlehre. Angesichts sich wandelnder Berufsbilder sei es problematisch, dass re- nommierte Architekten und „deren Epigonen ihre Rollenbilder verinnerlicht haben und diese weiter so unterrichten.“ 25 Der Hintergrund der Veranstaltung im Kontext der Lehrpraxis wird besonders sichtbar im steten diskursiven Ringen zwischen den Anforderungen einer berufsorientierten Architektenausbildung und dem experimentellen oder theoretischen Freiraum eines Architekturstudiums. Der besondere Verdienst der Veranstaltung liegt in ihrem speziellen Format, das vielfältige individuelle Positionen zu Idealen der Architekturlehre und Alltagspraxis, tradierten Rollenbildern und neuen didaktischen Ansätzen 22 Ebd., Anna Jessen, S. 98; ebd., Piet Eckert, 24 Ebd., Peter Althaus, S. 147. S. 240. 25 Ebd., Stephan Kurath, S. 171. 23 Ebd., Alexander Lehnerer, S. 118. 432 CAROLA EBERT hervorrief. Als Selbstreflexion von überwiegend praktizierenden Professorinnen und Dozenten bildet das Symposium eine Art ‚Selbstgespräch’ der Architekturlehrenden ab. Vom Baumeister zum Master Die wissenschaftliche Tagung „Vom Baumeister zum Master. Formen der Architekturlehre vom 19. bis ins 21. Jahrhundert“ fand vom 25. bis 27. November 2016 an der Freien Universität Berlin statt (Abb. 2). Als drittes Forum Architekturwissenschaft wurde die Tagung organisiert vom Netzwerk Architekturwissenschaft. Als Arbeitsgruppe Lehre des Netzwerks konzipierten und realisierten Carola Ebert (Professorin, Berlin International University of Applied Sciences 26), Eva Maria Froschauer (Vertretungsprofessorin für Kunstgeschichte, Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg, BTU) und Christiane Salge (Professorin für Architektur- und Kunstgeschichte, Technische Universität Darmstadt) die Veranstaltung. Das Netzwerk Architekturwissenschaft bietet Forschenden ver- schiedener architekturbezogener Disziplinen ein gemeinsames Forum zur „Präsentation, Diskussion und Vermittlung neuer wis- senschaftlicher Ergebnisse“. 27 Die Tagung war Ausgangspunkt der vorliegenden Publikation. 28 Der Veranstaltung ging ein Call for Papers voraus, der in einschlägigen Foren und Newslettern veröffentlicht und an Professorinnen und Professoren der Architekturfakultäten der Universitäten und Hochschulen in Deutschland sowie der Universitäten Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz versandt wurde. Der Call adressierte drei Themenfelder: „Zwischen Kunst und Technik, Wissenschaft und Praxis – Berufsbild und Didaktik eines transdisziplinären Fachs“, „Formen und Formate der Architekturausbildung – vom Meisteratelier zur Werkstatt und zum Lab“ und „Learning 26 Die BAU International Berlin – University of 27 Netzwerk Architekturwissenschaft 2011 Applied Sciences wechselte 2018 ihren Namen (Anm. 2) in Berlin International University of Applied Sciences. In dieser Publikation wird der neue 28 Vgl. hierzu die Einführung zu Beginn dieses Name verwendet. Bandes. 433 INSELN DER SELBSTREFLEXION → INHALT Abb. 2: Plakat und Programmhefte zum 3. Forum Architekturwissenschaft „Vom Baumeister zum Master. Formen der Architekturlehre vom 19. bis ins 21. Jahrhundert“. Netzwerk Architektur- wissenschaft from ... – Ideen und Impulse für die Architekturlehre des 21.  Jahrhunderts“. 29 Aus den eingesendeten Abstracts wurden von den Organisatorinnen 18 Beiträge ausgewählt. Darüber hinaus berichteten zwei Lehrende des neuen Masterstudien- gangs COOP Design Research im Abendvortrag der Konferenz über dieses forschungsorientierte und von mehreren Institu- tionen gemeinsam ausgerichtete Angebot. Die dreitägige Konferenz war in drei Sektionen gegliedert: „Die Hybridität der Architekturlehre: Kunst, Praxis, Theorie, Wissenschaft“, „Zwischen altem und neuem Wissen: System und Paradigmenwechsel in der Architekturlehre“ und „Dispositiv Lehrmittel: Sehen, Zeichnen, Modellieren, Visualisieren“.  30 Die Tagung folgte dem Format einer wissenschaftlichen Konferenz: 29 Carola Ebert, Eva Maria Froschauer, 30 Netzwerk Architekturwissenschaft: Pro- Christiane Salge: Vom Baumeister zum Master. gramm des dritten Forums Architekturwissen- Formen der Architekturlehre vom 19. bis ins schaft ‚Vom Baumeister zum Master. Formen 21. Jahrhundert. Call for Papers vom 19. April der Architekturlehre vom 19. bis ins 21. Jahr- 2016. hundert‘ 2016. URL: http://www.architekturwis- senschaft.net/pdfs/Programm_Forum_Archi- tekturwissenschaft_2016.pdf (15. März 2018). 434 CAROLA EBERT Am Ende jedes Vortrags von ca. 20 Minuten Länge und nach dem einstündigen Abendvortrag folgte jeweils eine moderierte Publikumsdiskussion. An der Veranstaltung nahmen etwa 80 Personen teil, in erster Linie Lehrende mit Forschungshintergrund. Die wissenschaftliche Perspektive auf die Architekturlehre lässt sich auch an den Akteuren ablesen. Unter den 21 Vortragenden waren acht Doktorandinnen und Doktoranden, sechs Doktorinnen und Doktoren, drei nicht promovierte Professoren sowie vier promovierte (Gast-)Professorinnen/Professoren. 85 Prozent der Vortragenden waren somit promoviert oder Promovenden. Inhaltlich diskutierte das Gros der Vorträge die Architekturlehre am historischen Beispiel. 31 Viele Beiträge untersuchten spezifische Momente der Geschichte verschiedener Architekturschulen oder die Genese bestimmter Schulformen. Hierzu zählten beispiels- weise die Vorträge von Simon Paulus (zur Braunschweiger Schule), von Jan Lubitz (zur ersten Stuttgarter Schule und zur Entwicklung der Technischen Hochschulen) oder von Julia Witt zur Architekturlehre an Kunstschulen der Weimarer Republik, aber auch der Vortrag von Vera Kaps zu neuen zeitgenössi- schen Architekturschulkonzepten. 32 Eine zweite, kleinere Gruppe befasste sich mit Inhalten und Formaten der Entwurfslehre. Dies waren Vorträge zu verschiedenen Aspekten des Entwerfens: seiner Entstehung (Eric G. Garberson), seinem Verhältnis zu Baupraxis (Anne Stengel, Ekkehard Drach) und Forschung (Anna Hipp und Bernhard Böhm). 33 Auseinandersetzungen mit Fragen der Didaktik oder des aktuellen Berufsbildes als Referenzebene der Architekturlehre fanden sich in den Vorträgen selten, Projektionen in die Zukunft blieben eher implizit. Regelmäßig wurden jedoch Bezüge zur Gegenwart der Architekturlehre hergestellt. 31 Vgl. die Beiträge im vorliegenden Band. Kategorien: der Vortrag von Christina Clausen zur Visualisierung bei Sir John Soane und der 32 An dieser Stelle werden nur die Vortra- von Dominik Lengyel zur Visualisierungslehre genden genannt. Dies korrespondiert nicht an der BTU Cottbus-Senftenberg – wobei sich immer mit der Autorenschaft der Beiträge im letzterer Beitrag auch der zweiten Gruppe zu- vorliegenden Band. ordnen ließe, da er die Frage nach dem Verhält- nis von Entwurf und Visualisierung impliziert. 33 Zwei Vorträge zur Rolle der Visualisierun- Vgl. die Beiträge von Christina Clausen sowie gen in der historischen bzw. zeitgenössischen von Dominik Lengyel und Catherine Toulouse in Architekturlehre liegen etwas außerhalb dieser diesem Band. 435 INSELN DER SELBSTREFLEXION → INHALT Es war das Ziel der Initiatorinnen, gleichermaßen Wissen- schaftlerinnen und Lehrende anzusprechen und neben inhalt- lichen und historischen auch über aktuelle, didaktische und methodische Fragen der Architekturlehre zu diskutieren. Auffällig ist, dass diese im Call for Papers angelegten Themen kaum Resonanz bei Entwurfslehrenden auslösten. Somit waren Lehrende von den an Architekturfakultäten so zahlreichen Entwurfs-Fachgebieten unter den Einreichungen kaum und unter den Vortragenden nur einmal vertreten. 34 Der wissenschaftliche Charakter der Tagung spiegelte sich in der inhaltlichen Qualität der Vorträge wider, die in der Regel auf einer aktuellen oder bereits abgeschlossenen, originären Forschungsarbeit der Vortragenden beruhten. Das Ziel der Tagung, „Beiträge zur Geschichte der Architekturlehre jeweils mit solchen, die einen Gegenwartszustand analysieren, und jenen, die einen Zukunftsentwurf vorstellten, in Austausch zu bringen“ wurde eher in den teils sehr lebhaften Diskussionen erreicht. 35 Die fundierten Einblicke in spezifische Momente der letzten 200 Jahre machen den Beitrag dieser Veranstaltung zum Diskurs der Architekturlehre aus, beschränken sie jedoch scheinbar auf einen forschungsaffinen Kontext. BDA-Hochschultag 2017 Der BDA-Hochschultag der Architektur 2017 fand am 10. März unter dem Titel „Typus, Topos, Tektonik, …? Inhalt und Methodik der Grundlagenlehre“ im Deutschen Architektur Zentrum in Berlin statt. Er wurde organisiert vom Bund Deutscher Architekten (BDA), einer berufsständischen Organisation von ca. „5.000 frei- schaffende[n] Architekten und Stadtplaner[n], die für Qualität und persönliche Integrität stehen – und dafür in den BDA berufen wurden.“ 36 Der BDA-Hochschultag der Architektur 2017 war nach den Hochschultagen 2014 „Generalist vs. Spezialist. Was 34 Gunnar Tausch (Nürnberg/Berlin) mit einem 36 Bund Deutscher Architekten BDA: „Über Vortrag zur Mathematik des parametrischen uns.“ URL: https://bda-bund.de/aboutpage/ Entwerfens. ueber-den-bda/ (15. März 2018). 35 Froschauer 2017 (Anm. 2), S. 27. 436 CAROLA EBERT Abb. 3: Vorträge und Diskussionen am Y-Table. Bund Deutscher Architekten BDA. Hochschul- tag der Architektur, 10. März 2017, Deutsches Architektur Zentrum Berlin. Foto: Till Budde, 2017, unter: https://www.flickr.com/photos/148627156@N06/sets/72157677932829494/ (15. März 2018) macht den guten Architekten aus?“ und 2015 „Zur Ausbildung der Architekten“ die dritte Veranstaltung in dieser Reihe. 37 Der Hochschultag 2017 widmete sich dem Grundlagen- Unterricht in der Architektur, stellte jedoch auch die Frage nach dem darin enthaltenen Berufsbild. „Was umfasst eine gute Grundlagenlehre? Sollte sie sich auf die wesentlichen Disziplinen konzentrieren, […] also den architektonischen Entwurf, einge- bettet in Kontext und Konstruktion? Oder ist das Studium der Architektur inhaltlich und methodisch zu überdenken, um den Anforderungen der heutigen Generation von Studierenden und gewandelten Berufsbedingungen gerecht zu werden?“ 38 Der Hochschultag wurde organisiert vom BDA-Bundesverband 37 Bund Deutscher Architekten BDA: Genera- der Architekten. Thesen des 1. BDA-Hochschul- list vs. Spezialist. Was macht den guten Archi- tags der Architektur. URL: https://bda-bund. tekten aus? Thesen des 2. BDA-Hochschultags de/wp-content/uploads/2017/03/BDA-Kernthe- der Architektur. URL: https://bda-bund.de/ sen_Ausbildung.pdf (15. März 2018). wp-content/uploads/2017/03/BDA-Kernthesen_ Ausbildung_2015.pdf (15. März 2018); Bund 38 Bund Deutscher Architekten BDA 2017 Deutscher Architekten BDA: Zur Ausbildung (Anm. 3). 437 INSELN DER SELBSTREFLEXION → INHALT unter Federführung von Olaf Bahner in Kooperation mit Stephan Birk (Professor für Entwerfen und Baukonstruktion, Technische Universität Kaiserslautern), Dirk Bayer (Professor für Entwerfen, Technische Universität Kaiserslautern), Heinrich Lessing (Professor für Entwerfen und Baukonstruktion, Frankfurt University of Applied Sciences) und Zvonko Turkali (Professor für Entwerfen und Gebäudelehre, Leibniz Universität Hannover). Die Vortragenden wurden von den Organisatoren aufgrund ihres Lehrverständnisses und der von ihnen vertretenen Lehrinhalte ausgewählt und auf Empfehlung beziehungsweise nach einer Recherche durch die Veranstalter direkt eingeladen. 39 Die Tagung folgte dem Format des architektonischen Werkvortrags. Sechs Professorinnen und Professoren erläuter- ten ihre Architekturlehre, deren Inhalte, Methoden und Vorgehensweisen an beispielhaften Projekten. Am Vormittag sprachen drei Entwurfslehrende unter dem Titel „Was macht die gute Grundlagenlehre aus? Anspruch an Inhalt und Methodik“: Donatella Fioretti, damals Professorin für Entwerfen und Baukonstruktion an der Technischen Universität Berlin, Karl-Heinz Schmitz, Professor für Entwerfen und Gebäudelehre, Bauhaus- Universität Weimar, und Katja Pahl, Professorin für Entwerfen und Darstellung, Hochschule Bremen. Sie diskutierten im Anschluss mit Sabina Priese, Dozentin an der Technischen Hochschule Köln, und Co-Organisator Stephan Birk. Am Nachmittag präsentierten drei weitere Entwurfsprofessoren die Lehrkonzepte an ihren Universitäten als „Curricula und Lehrmethoden für die Grundlagenlehre im Vergleich“: Petra Petersson, Professorin für Grundlagen des Entwerfens, Technische Universität Graz, Alexandra Staub, Professorin an der Pennsylvania State University (Penn State) und Christian Kerez, Entwurfsprofessor an der ETH Zürich. Die anschließende Diskussion am Nachmittag unter dem Titel „Synthese zu Curricula und Lehrmethoden“, geleitet von den Moderatoren Thomas Welter (BDA) und Andreas Denk (Professor für Architekturtheorie, Technische Hochschule Köln), bündelte die Themen der eintägigen Veranstaltung und war geprägt von 39 Bahner 2017 (Anm. 3). 438 CAROLA EBERT eher grundsätzlichen Themen wie der Frage nach dem Berufsbild der Lehrenden und Studierenden. Während der Diskussionen saßen die Vortragenden und ausgewählte Diskussionspartner an einem großen Y-förmigen Tisch in der Mitte des Saales und das Publikum in drei Blöcken um diesen herum (Abb. 3). Für die eintägige Veranstaltung gab es 188 Anmeldungen, es nahmen ca. 140 Personen teil. Die Analyse der Vortragenden und Angemeldeten spiegelt die eher berufsständische Ausrichtung der Tagung und den Schwerpunkt Entwurfslehre wider: Alle sechs Vortragenden haben eine Entwurfsprofessur inne. Promoviert ist eine der Vortragenden, dies entspricht 17 Prozent. 40 Unter den Anmeldungen finden sich – einschließlich der Vortragenden – 18 promovierte und 56 nicht promovierte Professorinnen und Professoren, neun Doktorinnen und Doktoren; 33 Personen hatten sich als Dipl.-Ing. registriert. 41 Der Anteil der Promovierten unter den Angemeldeten beträgt rund 14 Prozent. Nach den vorliegenden Informationen waren über die Hälfte der Angemeldeten eher der Architekturpraxis zuzuordnen; in der Realität dürfte dieser Anteil jedoch deutlich höher liegen. 42 Inhaltlich präsentierten die Vortragenden wesentlich ‚Werk- schauen‘ eigener Lehrveranstaltungen, anhand derer sie das Thema der Veranstaltung individuell reflektierten. Die einzel- nen Vorträge waren durchaus unterschiedlich aufgebaut, ent- sprachen jedoch alle dem Format der ‚Werkschau’. Während Katja Pahl beispielsweise auf eine ortstypische Aufgabenstellung fokussierte, in der die Hochschule Bremen für jedes dritte Semester ein Entwurfsprojekt mit integrierten Aspekten wie Statik, Haustechnik etc. anbietet, ging Alexandra Staub stärker auf den curricularen Aufbau der Lehre an der Penn State ein und unterstrich diesen mit verschiedenen Beispielen. Christian Kerez 40 Dies entspricht ungefähr den Verhältnissen 41 Auswertung der Anmeldeliste des in dem fünfköpfigen Organisationsteam, das BDA-Hochschultags durch die Autorin. sich ebenfalls aus vier Entwurfsprofessoren und einer promovierten Person zusammen- 42 Zahlreiche Anmeldungen sind ohne Anga- setzt. ben zu Titel und Institution/Büro erfolgt. 439 INSELN DER SELBSTREFLEXION → INHALT positionierte hingegen seine Grundlagenlehre als Gegenwelt zur Berufspraxis. 43 Die Grundlehre diene der „Erarbeitung des Raums“, den beruflichen Alltag lerne man nirgends so gut wie im beruflichen Alltag, so sein Fazit. 44 Boten die Vorträge einen guten Ein- und Überblick zur Grundlehre an verschiedenen Hochschulen, so gab es in den Diskussionen weiterführende Debatten, unter anderem zur Frage des zeitgenös- sischen Berufsbildes, auf das sich auch der Programmtext bezog. Die sich wandelnden Berufsbedingungen wurden von zahlreichen Anwesenden in Form von Schilderungen aus der eigenen Praxis be- schrieben und variierten entsprechend sowohl in Abhängigkeit von der Größe der Büros als auch regional und zwischen städtischem und ländlichem Raum. Interessant waren in diesem Zusammen- hang beispielsweise die Bemerkungen von Ludwig Wappner (Professor für Baukonstruktion, Karlsruher Institut für Technologie). Er zeigte sich zutiefst irritiert über das starke Interesse seiner Studierenden an einer Angestelltentätigkeit und die Tatsache, dass das Gros der zukünftigen Architektinnen – im Gegensatz zu ihm und vielen Architekten seiner Generation – im Aufbau eines eigenen Büros offenbar kein erstrebenswertes Ziel sieht. Insgesamt kam die Schlussdiskussion zu dem Ergebnis, die starke Gemeinsamkeit der Vorträge sei – bei allen inhaltlichen und methodischen Unterschieden – die Relevanz des Entwerfens für die Grundlehre. Die Entwurfslehre wird als „das zentrale didaktische Element“ bestätigt, auf Basis einer „breit ange- legte[n] Grundlagenausbildung“. 45 Es blieb jedoch offen, ob dies ein generelles Charakteristikum der Architekturlehre ist oder diese Erkenntnis eher im „Versuchsaufbau“, also der Auswahl von Entwurfslehrenden als Vortragenden, mit angelegt ist. 46 Weiterführende didaktische Erwägungen, historische Perspektiven oder empirische Erkenntnisse jenseits des persönlichen Berufs- 43 Diese Haltung stellt an der ETH seit dem 45 Bund Deutscher Architekten BDA 2017 Antritt von Kerez’ Vorgänger Marc Angélil als (Anm. 3), S. 3. Leiter des ersten Studienjahres ein besonderes Charakteristikum der Grundlehre im ersten Jahr 46 Anmerkung der Autorin im Rahmen der dar. Vgl. Anm. 10. Publikumsdiskussion. 44 Hotze 2017 (Anm. 3). 440 CAROLA EBERT bildes kamen nicht vor. Der wesentliche Beitrag des BDA- Hochschultags 2017 zum aktuellen Architekturlehrediskurs liegt im konkreten und detaillierten Einblick in die unterschiedlichen Curricula, Aufgabenstellungen und Lehrkonzepte, im Austausch innerhalb der Diskussionen und den häufigen Bezügen zwischen Lehre und Berufspraxis der Anwesenden. Vergleichende Betrachtung In der Analyse der drei Veranstaltungen zeigen sich Ähnlichkeiten zwischen der berufsständischen und der Hochschultagung – ins- besondere hinsichtlich der Argumentationsgrundlage, der inhalt- lichen Schwerpunkte und der Zusammensetzung der Akteure. Bei den Veranstaltungen des BDA und der HSLU gab es jeweils einen großen Anteil Entwurfslehrende unter den Vortragenden wie den Teilnehmenden, der Anteil an Promovierten lag jeweils bei etwa 15 Prozent. In den Vorträgen und Diskussionen beider Veranstaltungen argumentierten viele Wortbeiträge aus der eige- nen Anschauung heraus. Trotz dieser Übereinstimmungen ver- liefen die Debatten in relativer Binnenöffentlichkeit. Es gab keine Verweise auf andere oder ähnliche Veranstaltungen. Beide Tagungen betrieben eine Art ‚Werkschau der Lehre‘, zu der ausgewählte Vortragende direkt eingeladen wurden. Die Architekturlehre und ihre Ausbildungsziele wurden häufig im Verhältnis zur Berufspraxis diskutiert. Der „BDA-Hochschultag 2017“ ging als berufsständische Veranstaltung in seiner Betrach- tung der Architekturlehre in bemerkenswerter Weise ins Detail. Die Impulsreferate des „Symposiums für Architekturpädadogiken“ waren eher konzeptioneller angelegt. Der Hochschulcharakter des Luzerner Symposiums zeigte sich darüber hinaus in explizit didaktischen Fragen. Für eine Hochschultagung war die Sicht der Studierenden eher wenig vertreten, ebenso wie das in der Architektur hochkomplexe Thema Forschung. 47 47 Da in der Architektur die Frage der For- ziplinen bewegt, in der Architektur anders dis- schung ein junges, allzeit aktuelles Thema ist, kutiert oder von der Komplexität des Themas das zu verschiedenen, teils gegensätzlichen Forschung vereinnahmt. Vgl. z. B. Anna Flach, Antworten führt, wird die Frage der Verbindung Monika Kurath: Die Architektur als Forschungs- von Forschung und Lehre, die viele andere Dis- disziplin. In: Archithese, H. 2 (2016), S. 72–80. 441 INSELN DER SELBSTREFLEXION → INHALT Die Tagung „Vom Baumeister zum Master. Formen der Architekturlehre vom 19. bis ins 21.  Jahrhundert“ unterschied sich deutlich von den beiden anderen. Statt aus der eige- nen Anschauung wurde hier aufgrund von wissenschaftli- chen Forschungsergebnissen argumentiert. 85 Prozent der Vortragenden waren Promovierte oder Promovenden. Der wis- senschaftliche Charakter der Veranstaltung zeigte sich in den originären Forschungsergebnissen und der forschungsorien- tierten Perspektive. Gleichzeitig scheinen jedoch die Formalien eines Call for Papers und das Format einer wissenschaftlichen Tagung für Entwurfslehrende (und damit für einen großen Teil der an der Architekturlehre beteiligten Personen) eher ungewohnt oder weniger attraktiv zu sein. Die auffälligste Gemeinsamkeit aller drei Veranstaltungen ist die jeweilige Homogenität der Akteure: 85 Prozent sind entweder Entwurfslehrende (HSLU und BDA) oder Forschende (Forum Architekturwissenschaft). Schlussfolgerungen Das Studium der Architektur unterscheidet sich von den meisten universitären Fächern darin, dass es eine berufsständische und auf die Erlangung der Kammerfähigkeit ausgerichtete Ausbildung ist, die „stets im Bezug zur Berufspraxis entwickelt wurde und wird“. 48 Vor diesem Hintergrund überraschen die festgestell- ten Ähnlichkeiten von Hochschultagung und berufsständischer Tagung kaum. Umso auffälliger ist die Isolation, mit der die unter- suchten Tagungen in relativ kurzem Zeitraum drei von einander unabhängige und unverbundene Debatten führten, die thema- tisch und methodisch ganz auf die Binnenöffentlichkeit einer bestimmten Form von Architekturlehrenden ausgerichtet sind. Der zeitgenössische Diskurs zur Geschichte, Gegenwart und vor allem Zukunft der Architekturlehre würde sicher- lich von einem stärkeren Dialog zwischen diesen ‚diskursiven Inseln‘ profitieren. Dies gilt gleichermaßen für eine größere 48 Ebert, Froschauer, Salge 2016 (Anm. 29). 442 CAROLA EBERT Durchmischung der Akteure, mehr inhaltlichen Austausch zwi- schen den Veranstaltungen an sich (oder mit internationalen Organisationen wie der European Association for Architectural Education, EAAE) sowie besonders zwischen den wissen- schaftlich-forschungsorientierten und den stärker entwurfs- und praxisbezogenen Debatten. Darüber hinaus kann das Format der innerdisziplinären Selbstreflexion nur begrenzt Antworten bieten. Komplexe Fragestellungen wie die Anpassung von Curricula an ein sich wandelndes Berufsbild oder der notwen- dige Abgleich mit dem, was Architektinnen für welche Form der Berufspraxis benötigen, lassen sich ebenso wenig aus einer Mischung individueller Erfahrungswerte, Ideale, Traditionen und Anforderungen aus der hochschulpolitischen und berufsstän- dischen Realität wie aus der Historie allein beantworten. Empirische Untersuchungen, Langzeitstudien oder einzelne sozialwissenschaftlich angelegte Umfragen beispielsweise zu Studienerwartungen, Studienerfahrungen und/oder zum weiteren Lebensweg von Absolventinnen und Absolventen 49 würden nicht nur die Perspektive der Lernenden im Diskurs zur Architekturlehre stärker sichtbar machen. Statt programmatisch stets neue Ziele zu diskutieren und zu formulieren, ließen sich so die tatsächlichen Wirkungen der Architekturlehre analysieren und mit den Ausbildungszielen abgleichen. Mehr Kontakt zu Feldern wie der Hochschuldidaktik oder zur bildungswissenschaftlichen Forschung wären der Architekturlehre daher zu wünschen. 49 Eine erste Studie dieser Art ist das Projekt Afterlife der EAAE, geleitet von Harriet Harris (Royal College of Art, London), vgl. URL https:// www.surveymonkey.com/r/XLD58SV?lang=de (15. September 2018). 443 INSELN DER SELBSTREFLEXION → INHALT 444 VOM BAUMEISTER ZUM MASTER Autorinnen und Autoren Bernhard Böhm hat Soziologie und Wissenschafts- und Technikforschung studiert und arbeitet als Doktorand an der ETH Zürich zu Forschungskulturen in der Architektur. Christina Clausen ist Kunsthistorikerin und arbeitet als wissenschaftliche Assistentin an der Universität Hildesheim mit einem Schwerpunkt in Architekturgeschichte. Johan De Walsche ist Architekt und arbeitet als Professor im Bereich Entwurfsforschung an der Universität Antwerpen. Ekkehard Drach ist Architekt und Architekturtheoretiker. Zurzeit arbeitet er als Lektor an der Architekturfakultät der Universität Innsbruck. Carola Ebert ist Architektin und arbeitet als Professorin für Innen-architektur, Theorie und Geschichte von Architektur und Design an der Berlin International University of Applied Sciences. Ole W. Fischer ist Theoretiker, Historiker und Kurator für moderne und zeitgenössische Architektur. Seit 2011 lehrt er an der University of Utah in Salt Lake City, USA. Eva Maria Froschauer ist Architekturhistorikerin und arbeitet als Vertretungsprofessorin für Kunstgeschichte an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus- Senftenberg. Inga Ganzer hat Innenarchitektur studiert und in Kunst- geschichte promoviert. Sie ist Partnerin im Berliner Büro raumdeuter und lehrte an mehreren Hochschulen. 445 AUTORINNEN UND AUTOREN → INHALT Eric Garberson ist Associate Professor für Kunstgeschichte (Schwerpunkt 19. Jahrhundert) an der Virginia Commonwealth University in Richmond, Virginia. Anna Hipp ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet im Bereich Wissenschafts- und Technikforschung an der ETH Zürich und der Universität St. Gallen. Vera Kaps ist Architektin und arbeitet als wissenschaft- liche Mitarbeiterin im Bereich Architekturvermittlung an der Universität Liechtenstein. Frederike Lausch ist Architektin und arbeitet als wissen- schaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Architektur- und Kunstgeschichte der Technischen Universität Darmstadt. Dominik Lengyel ist Architekt und arbeitet als Professor für Darstellungslehre mit dem Schwerpunkt Visualisierung an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Jan Lubitz ist promovierter Architekturhistoriker und arbeitet als Inventarisator am Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege. Ekaterina Nagibina ist Architektin und arbeitet als Projektmitarbeiterin im Bereich Architekturvermittlung an der Universität Liechtenstein. Simon Paulus ist Bau- und Architekturhistoriker und als Dozent unter anderem am Institut für Architekturgeschichte der Universität Stuttgart tätig. 446 VOM BAUMEISTER ZUM MASTER Kerstin Renz ist Architekturhistorikerin und arbeitet als Vertretungsprofessorin für Architekturgeschichte / Geschichte der gebauten Umwelt an der Universität Kassel. Christiane Salge ist Architekturhistorikerin und arbeitet als Professorin für Architektur- und Kunstgeschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Gáspár Salamon ist Kunsthistoriker und Doktorand an der Humboldt-Universität zu Berlin. Peter I. Schneider ist archäologischer Bauforscher und Bauhistoriker. Er lehrt und forscht an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Anne Stengel ist Kunsthistorikerin am Fachgebiet Architekturtheorie und Entwerfen an der Universität Kassel und promoviert über die Laubenganghäuser in Dessau-Törten. Catherine Toulouse ist Architektin und Akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl Architektur und Visualisierung an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus- Senftenberg. Julia Witt, Museologin und Kulturhistorikerin, ist Promotionsstudentin an der Technischen Universität Berlin, Fachgebiet Kunstgeschichte. 447 AUTORINNEN UND AUTOREN → INHALT Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliogra- fische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Universitätsverlag der TU Berlin, 2019 http://verlag.tu-berlin.de Fasanenstr. 88, 10623 Berlin Tel.: +49 (0)30 314 76131 / Fax: -76133 E-Mail: publikationen@ub.tu-berlin.de Alle Teile dieser Veröffentlichung – sofern nicht anders gekenn- zeichnet – sind unter der CC-Lizenz CC BY lizenziert. Lizenzvertrag: Creative Commons Namensnennung 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Lektorat: Martin Pozsgai, Sabine Ammon Gestaltung: Stahl R, www.stahl-r.de Satz: Julia Gill, Stahl R Druck: docupoint GmbH ISBN 978-3-7983-3066-5 (print) ISBN 978-3-7983-3067-2 (online) ISSN 2566-9648 (print) ISSN 2566-9656 (online) Zugleich online veröffentlicht auf dem institutionellen Repositorium der Technischen Universität Berlin: DOI 10.14279/depositonce-7789 http://dx.doi.org/10.14279/depositonce-7789 448 AVORMCH BIATEUKMTEUIRS TIEMR GZEUMBR AMUASCHTER → INHALT ARCHITEKTUR IM GEBRAUCH Der Tagungsband versammelt Beiträge des 3. Forums Architekturwissenschaft zum Thema der historischen und gegenwärtigen Archi- tekturausbildung – vom Baumeister zum Master –, das vom 25. bis 27. November 2016 an der Freien Universität Berlin in Kooperation mit der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg stattfand. Die Aufsätze verhandeln Fallbeispiele der Architekturlehre vom 19. bis ins 21. Jahrhundert entlang von konstant bedenkenswerten Querschnittsfragen wie jenen nach Akteursperspektiven, nach Lehr- formen oder auch Institutionenpolitiken. Dabei werden Geschichte, Gegenwart und Zukunft der besonderen Ausbildungsdisziplin Archi-tektur in einen Austausch gebracht. Es stehen auf diese Weise wissenschaftlich reflektierende Stimmen neben jenen, die aus der Unterrichts- praxis berichten. Die Sortierung innerhalb des Bandes bindet die Texte jeweils mit Hilfe einer überzeitlichen also systematischen Fragestellung aneinander. Universitätsverlag der TU Berlin ISBN 978-3-7983-3066-5 (print) ISBN 978-3-7983-3067-2 (online)